Brüssel steht für europäische Bürokratie, Politikelite und mächtigen Wirtschaftslobbyismus, so die landläufige Meinung. „Stimmt so nicht“, sagt Andreas Dür, Professor für Internationale Politik an der Universität Salzburg, „denn der Einfluss der klassischen Lobbyisten, der wirtschaftsnahen Gruppen, ist in Brüssel weit geringer als angenommen.“
Das überrascht, doch Dür erklärt: „Die Daten sind plausibel. Wir haben erstmals in einem internationalen Team systematisch Daten zu 70 Gesetzesvorschläge der Europäischen Kommission sowie zu mehr als 1.000 Interessensgruppen zusammengetragen und untersucht.“ Was es bisher an Arbeiten zu diesem Themenkomplex gab, das waren Fallstudien. Mit dem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt „Der Einfluss von Interessensgruppen in der EU (INTEREURO)“ liegt erstmals eine umfassende Erhebung des emotional besetzen Themas vor, und die Resultate sind eindeutig.
Überschätzter Einfluss
„Wir haben Präferenzen der Interessensgruppen erhoben, also zum Beispiel untersucht, ob eine Gruppe die Einführung einer EU-weiten Verordnung zu Busfahrgastrechten unterstützt, und haben diese mit dem Ergebnis des Gesetzgebungsverfahrens verglichen“, führt Dür aus. Dabei hat das Forscherteam festgestellt, dass die Wirtschaftsgruppen bei ihrem Versuch, die Entscheidungsfindung in der EU zu beeinflussen, weit weniger erfolgreich sind, als erwartet wurde. Sie seien sogar weniger erfolgreich als zivilgesellschaftliche Gruppen, die breite Interessen wie Umwelt- oder Konsumentenschutz verfolgen.
Das hat laut Dür seine Gründe in der gegenwärtigen Phase der europäischen Integration. „Bis in die 90er-Jahre ging es innerhalb der Gemeinschaft vorrangig um die Etablierung des Binnenmarktes. Dieses Ziel hatte absolute Priorität. Jetzt ist es erreicht.“ Womit sich für Institutionen wie die Kommission aber auch das Parlament die Frage stelle, woraus sie weiterhin Autorität beziehen können. Nationale Regierungen können zu diesem Zweck Gelder umverteilen, diese Möglichkeit steht der EU-Kommission und dem Parlament nur sehr eingeschränkt zur Verfügung. Ihr Ansatz ist es daher, auf spürbare Bereiche wie den Umweltschutz oder Verbraucherschutz zu fokussieren.
Regulierungsmöglichkeiten
„Nehmen wir das Beispiel der Abschaffung der Roaming-Gebühren“, so Dür. „Da gab und gibt es massiven Widerstand seitens der Telekommunikationskonzerne. Und auch wenn dieser Widerstand den Prozess gebremst und verzögert hat, er hat ihn im Endeffekt nicht gestoppt.“ Ein geradezu klassisches Beispiel, in dem die EU-Kommission sich auf Seiten der Konsumentinnen und Konsumenten stellte. Das sei kein Einzelfall, betont Dür, ähnlich verhalte es sich mit den Themen Finanzdienstleitungen oder Datenschutz. „Das sind Bereiche, in denen die Institution beweisen kann, dass sie einen Sinn und einen Zweck hat: Sie ist konsumentenfreundlich, umweltfreundlich und weitet gleichzeitig ihre Regulierungsmöglichkeiten aus.“
Lobbying mit Emotion
Ihre gleichsam natürlichen Verbündeten sind dabei nun Verbraucherschutzorganisationen und Umweltschutzorganisationen. Jene Interessensgruppen, die als klassische Gegenspieler der wirtschaftsnahen Lobbys gelten, die dabei doch selbst nichts anderes als Lobbyisten sind.
„Es mobilisieren diese Interessensgruppen auch anders als die wirtschaftsnahen. Sie setzen durchaus auf Emotion, sie treten als Opposition auf, sie lancieren Kampagnen in der Öffentlichkeit, wie im Zusammenhang mit ACTA, TTIP und CETA.“ Ist Brüssel gar ein verkappter Hort der Zivilgesellschaft und der NGOs?
„Ganz und gar nicht“, erläutert Dür. Die Wirtschaftsinteressen seien in Brüssel immer noch sehr viel präsenter als alle anderen. Aber sie seien nicht mehr unbedingt die erfolgreicheren. Sie würden sich vielmehr einer sehr erfolgreichen Konkurrenz gegenüber sehen.
Aus all dem erwächst laut dem Politikwissenschaftler etwas Neues. „Was wir im Ergebnis sehen, ist eine Politisierung der Europäischen Union. Wir erleben den Widerstreit der Interessen deutlicher als zuvor.“ Was es nun noch braucht, das wäre ein verpflichtendes Lobbyingregister wie in den USA. Debattiert wird es, umgesetzt ist es noch nicht. Das wäre auch für die Wirtschaftsgruppen gut, denn sie könnten damit klar darlegen, was sie erreichen – und was nicht. Es wäre ein Schritt zu mehr Transparenz, so die Expertenmeinung. (fvk)
Dieser Artikel ist am 24.04.2017 auf der FWF-Plattform „Scilog“ erschienen.