Daniel Kahneman

Das Neue im Alten & das Gesetz der kleinen Zahl

Im Alter ist man ein anderer Mensch als in jungen Jahren. Nicht nur in Hinblick auf die Körperzellen, die im Laufe eines Lebens x-mal auf- und abgebaut werden (selbst Knochenzellen werden im Durchschnitt nach 25 bis 30 Jahren durch neue ersetzt). Nein, nein, nein. In diesem Fall geht es um die Persönlichkeit, die im Alter ganz und gar anders gestrickt ist als in der Jugend. So eine Meldung aus Schottland. Dort haben Wissenschaftler der University of Edinburgh eine 1947 gestartete Studie zu Ende geführt.

Immer noch der Alte?                                       …

Immer noch der Alte?                                                                                             ©Emma Hall/Unsplash

Vor 63 Jahren wurden 1.208 Jugendliche im Alter von 14 Jahren von ihren Lehrern bewertet. Nicht nach ihren schulischen Leistungen, sondern nach ihren Persönlichkeitsmerkmalen Selbstbewusstsein, Beharrlichkeit, Ausgeglichenheit, Gewissenhaftigkeit, Eigenwilligkeit und dem Ziel, Spitzenleistungen zu erbringen.

635 der damals Jugendlichen wurden im Jahr 2012 von den Forschern kontaktiert und gefragt, ob sie an einem weiteren Persönlichkeitstest teilnehmen würden. 174 von ihnen erklärten sich dazu bereit.

Diesmal sollten sie sich selbst bewerten und sich von einem engen Freund oder einem Familienmitglied bewerten lassen.

Das Ergebnis überraschte die Forscher insofern, als die seinerzeit erhobenen Persönlichkeitsstrukturen nichts oder nur wenig mit den aktuellen verband. Die Überraschung rührte daher, als die Forschung bislang davon ausgeht, dass die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen relativ stabil ist. Darauf weisen Untersuchungen hin, die bei Menschen zwischen ihrer Kindheit und dem mittleren Erwachsenenalter, sowie bei Personen zwischen mittlerem Erwachsenenalter und hohem Alter durchgeführt worden waren.

Die Wissenschaftler aus Edinburgh kommen nun zu dem Schluss, dass, wenn das Untersuchungsintervall auf einen Zeitraum von 63 Jahren angehoben wird, zwischen den Persönlichkeitsmerkmalen kaum Verbindung besteht.

Ein neuer Mensch im Alter: Das sorgt für Schlagzeilen.

Und ist doch voreilig.

Zum einen wurden die Jugendlichen einst von ihren Lehrern beschrieben, nicht von sich selbst. Da hakt es schon ein wenig mit der Vergleichbarkeit der Daten.

Zum anderen behandelt die Studie gerade einmal Ergebnisse von 174 Personen. Das ist eine wirklich sehr kleine Zahl an Probanden, von der aus Schlüsse auf die Allgemeinheit gezogen werden.

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Immer noch dieselbe?                                                                                   ©Ismael Nieto/Unsplash

Daniel Kahneman beschäftigt sich in „Schnelles Denken, langsames Denken“ eingehend mit dem „Gesetz der kleinen Zahlen“ und bringt dazu folgendes Beispiel: „,Bei einer telefonischen Befragung von 300 Senioren erklärten 60 Prozent ihre Unterstützung für den Präsidenten‘ Wenn Sie die Botschaft dieses Satzes in genau drei Wörtern zusammenfassen sollten, wie würde diese lauten? Höchstwahrscheinlich würden Sie ,Senioren unterstützen den Präsidenten‘ äußern. Die weggelassenen Einzelheiten der Erhebung – dass sie telefonisch durchgeführt wurde und die Stichprobe 300 Personen umfasste – sind für sich genommen uninteressant; sie liefern Hintergrundinformationen, die wenig Aufmerksamkeit auf sich ziehen [...] Die starke Tendenz, zu glauben, dass kleine Stichproben weitgehend mit der Population übereinstimmen, der sie entnommen wurden, ist ebenfalls Teil einer allgemeineren kognitiven Verzerrung: Wir neigen dazu, die Konsistenz und Kohärenz dessen, was wir sehen, zu überzeichnen.“

Eine Tendenz, die Kahneman auch bei Forschern ausmacht. Merke, auch Wissenschaftler sind nur Menschen.

Insofern ist die Meldung aus Schottland mit Vorsicht zu genießen. Sie ist keine neue Erkenntnis. Sie ist im besten Fall ein Detailergebnis, welches bei weiteren Studien in Betracht gezogen werden kann und soll.

Dass sich Persönlichkeitsmerkmale ändern, das ist ein Faktum. Dass die Persönlichkeit bei Älteren sich in derselben Geschwindigkeit ändern kann wie bei Jungen, das belegt eine Studie der Freien Universität Berlin aus dem Jahr 2014, die mit immerhin 23.000 Probanden in Deutschland und Australien durchgeführt wurde. Selbst bei über 70jährigen kann sich die Persönlichkeit noch dramatisch wandeln.

Was die Berliner Studie und nun jene aus Edinburgh gemeinsam haben, ist, dass sie darauf hinweisen, dass Individuen sich im Laufe ihres Lebens auch in Hinblick auf ihr Denken, Empfinden und Verhalten stärker verändern können als bisher angenommen. Von einem völlig anderen Menschen zu sprechen, erscheint im besten Fall voreilig. (fvk)

Digitaler Humanismus

Das Internet der Dinge, das ist die Zukunft. So heißt es. Manch einem wird angesichts dieser von einer künstlichen Intelligenz geprägten Zukunft mulmig. Warnende Stimmen von Nick Bostrom bis hin zu Stephen Hawking häufen sich. Peter Reichl setzt dem das „Internet of People“ entgegen. Reichl ist Informatiker und leitet die Forschungsgruppe Cooperative Systems (COSY) an der Fakultät für Informatik der Universität Wien. Er ist sozusagen inmitten des Geschehens.

© Universität Wien

© Universität Wien

„Im Prinzip plädieren wir mit der Idee eines Internet of People für einen grundlegenden Paradigmenwechsel in den Informations- und Kommunikationstechnologien“, sagt Reichl in einem Interview mit uni:view. Die Technologie soll nicht mehr Selbstzweck sein, sondern nur für die Endnutzer da sein, „um sie bei der Erfüllung ihrer wirklichen Bedürfnisse zu unterstützen. Noch plakativer formuliert: Statt weiterhin um Technologie und ihre Versprechen zu kreisen, bis ihm schwindlig wird, kehrt der Mensch zurück ins Zentrum des technologischen Universums“, erklärt er.

Das nennt er dann die „Anti-kopernikanische Wende“.

Ein kühner Begriff. Einer, der wohl bewusst auf Aufmerksamkeit hin angelegt ist. Die kopernikanische Wende, die Erkenntnis, dass die Erde sich nicht im Zentrum des Universums befindet, hat das Ihre zur Renaissance und letztlich zur dieser Monate vielzitierten Aufklärung beigetragen.

Jetzt will ein Informatiker wieder den Menschen in den Mittelpunkt eines Universums stellen. Des digitalen Universums.

„Für uns bedeutet das, dass Technologie nicht entwickelt wird, um Dinge mit Dingen zu verbinden, sondern Menschen mit Menschen“, so wie Reichl das sagt, klingt es nach einer Binsenweisheit. Einfacher und billiger freilich ist es, Industriestandards und Normen zu entwickeln und ihnen folgend zu produzieren. Einfacher und billiger, als individuell auf die Bedürfnisse der einzelnen Nutzer einzugehen. Exakt daran arbeitet die Gruppe um Reichl. Indem sie Endnutzer mit verschiedenen Angeboten unterschiedlicher Qualität konfrontiert. Die Einblicke, die gewonnen werden, „können dann in weiterer Folge beispielsweise bei einem Internet Service Provider genutzt werden, um ein besonders userfreundliches Angebot zu schaffen, das sich von der Konkurrenz abhebt.“

Damit allein ist eine „Anti-kopernikanische Wende“ nicht zu bewerkstelligen. Es soll, es muss nicht nur die Technologie und ihr Einsatz, ihr Angebot überdacht und in Frage gestellt werden, mindestens ebenso dringend müssen sich die Nutzer, muss sich die Gesellschaft intensiv mit den Folgen allgegenwärtiger digitaler Kommunikation und Information auseinandersetzen.

Peter Reichl (Screenshot)

Peter Reichl (Screenshot)

Bequem ist sie ja durchaus. So bequem, dass man verleitet sein könnte, das Denken an die „Maschine“ abzutreten. Da sie schneller denkt, schneller Lösungsvorschläge bei der Hand hat. Weil man ihr eine Intelligenz zuschreibt, die höher zu sein scheint als die menschliche. Schneller ist sie auf jeden Fall. Andere Qualitäten menschlichen Denkens fehlen der auf Algorithmen aufgebauten Intelligenz.

Daniel Kahneman schreibt in diesem Zusammenhang vom „schnellen“ und vom „langsamen“ Denken unseres Gehirns. Das schnelle, welches wir im Alltag, für alltägliche Verrichtungen, für die Routine einsetzen. Aufbauend auf Erfahrung und Mustern, von daher auch sehr sparsam in Sachen Energieverbrauch.

Das langsame Denken hingegen ist jenes, mit welchem wir Aufgaben lösen. Mathematische Probleme bearbeiten, es ist jene Art des Denkens, die uns unversehens zu neuen Erkenntnissen verhilft, auch dazu jenseits gewohnter Bahnen zu denken. Sein Nachteil ist, es ist eine höchst energieaufwendige Arbeit. Eine, die unser Gehirn tunlichst zu vermeiden sucht.

Das mag ein Grund dafür sein, dass unsere Spezies es sich wieder und wieder bequem macht – und andere für sich denken lässt. Einerlei ob Religionen, Ideologen oder auch eine Künstliche Intelligenz. Schneller als uns lieb ist, befinden wir uns dann in der „selbst verschuldeten Unmündigkeit“, die Immanuel Kant 1784 in der „Berlinischen Monatsschrift“ behandelte. Es lohnt, an dieser Stelle den Königsberger Philosophen ein wenig ausführlicher zu Wort kommen zu lassen: „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist die Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt und so weiter, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.“

Es braucht also eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, Angeboten und Aufgaben der Digitalisierung. Eine Herkulesaufgabe sei es, meint Reichl. Es brauche „vor allem auch eine grundlegende Diskussion darüber, wie diese neue informationsgetriebene Umwelt mit der menschlichen Lebenswelt zusammenhängt“.

Eine Debatte, die, so der Wissenschaftler, gerade von der Wissenschaft vorangetrieben werden müsse. „Die Wissenschaft muss zuallererst einmal ehrlich zu sich selbst sein und versuchen, in einer ruhigen Minute einen Schritt zurück zu treten, um die gesellschaftlichen Auswirkungen ihres Tuns – und Lassens – kritisch zu hinterfragen.

Gerade die Informatik muss sich als Fach viel stärker in die Pflicht nehmen und reflektieren, was man da eigentlich zu und was das bedeutet. Ihr geht es heute genauso wie der Physik mit der Atombombe oder der Biologie mit dem ersten Klonschaf: Im Zuge des digitalen Wandel sind wir momentan dabei, eine entscheidende Grenze zu überschreiten.“

Trotzalledem, verloren ist nichts. Reichl sieht die Chancen auf eine Zukunft, geprägt von einem „digitalen Humanismus“, intakt. (fvk)

 

 

Das zitierte Interview mit Peter Reichl erschien im Rahmen der Uni-Wien „Semesterfrage 2016/17: Wie leben wir in der digitalen Zukunft?“. Jedes Semester behandeln Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Uni eine Frage, ein Thema, welches die Gesellschaft betrifft. Im Sommersemester lautet die Frage „Wie verändert Migration Europa?“.