Während seiner späten Jahre bedauerte Erwin Chargaff den wissenschaftlichen Fortschritt. Er bedauerte ihn nicht nur, er wandelte sich zum warnenden Rufer. Die Sequenzierung des menschlichen Genoms war ihm ein Gräuel, er fürchtete ein Herumpfuschen am menschlichen Erbgut, eine Zukunft aus frankensteinschen Monstren.
Dystopische Vorstellungen gehen auch dieser Tage wieder mit dem Gen Editing einher. CRISPR, die Methode, die eine bislang unerreichte Präzision bei genetischen Eingriffen ermöglicht – theoretisch auch die Heilung von Erbkrankheiten – befeuert sie. Nicht nur bei prinzipiellen Gegnern jeglicher genetischer Forschung und Anwendung. Wie der Guardian berichtet, warnte der Genetiker Robin Lovell-Badge in Washington vor verbrecherischen Wissenschaftlern, die außerhalb des Gesetzes agieren. „Die Vorstellung, dass es Kliniken geben könnte, die diese Dinge tun, ist äußerst beunruhigend“, so Lovell-Badge am Rande einer Konferenz der American Association for the Advancement of Science (AAAS).
Lovell-Badge äußerte sich nicht etwa aus heiterem Himmel zu diesem Thema, sondern reagierte auf den Auftritt James Clappers. Der Direktor der US National Intelligence hatte kurz zuvor im Rahmen einer Anhörung im US-Senat vor den potentiell gefährlichen Konsequenzen unkontrollierten Gen Editings gewarnt.
Die US-Geheimdienstler reihen Eingriffe in das Erbgut unter die sechs potentiellen Massenvernichtungswaffen, die die Vereinigten Staaten gefährden können. Sozusagen auf einer Stufen mit Atomwaffen aus Iran, Nordkorea und China. Biowaffen also.
Der Bericht vor dem Senat weist auf den einfachen Zugang zur notwendigen Infrastruktur, die rasante Entwicklung in der Forschung und die im Grunde inexistenten Regulierungen hin. Im Klartext: Wer will, der kann. Im Erbgut herumpfuschen. Es braucht noch gar nicht einmal das menschliche zu sein. Es reicht eine schlichte Änderung der genetischen Codierung der Beulenpest. Und perfekt ist die globale Katastrophe.
Nun gehört es zu den Pflichtübungen aller Geheimen üble Szenarien zu entwerfen und sich über Fragen der Abwehr und der Kontrolle den Kopf zu zerbrechen (und dafür weitreichende Befugnisse einzufordern). Doch mit diesem Bericht zeigen die Nachrichtendienstler nur, dass sie auf der Höhe der Zeit sind.
Es sind die Forscher selbst, die alle denkbaren Szenarien durchdenken und verhandeln. Auch die dystopischen.
Erst letzten Dezember diskutierten, auf Einladung der National Academy of Sciences, der Royal Society und der Chinesischen Akademie der Wissenschaften, in Washington DC Genomexperten aus aller Welt drei Tage lang Möglichkeiten und Grenzen von Eingriffen in das menschliche Erbgut. Gemeinsam verabschiedeten sie ein Statement, in dem sie die klinische Anwendung von Editing-Methoden an der Keimbahn als unverantwortlich bezeichneten, so lange ethische Vorbehalte nicht ausgeräumt sind.
Zwar gingen die Wissenschaftler nicht so weit, nach einem Moratorium zu verlangen oder nach einer gesetzlichen Einschränkung der Forschung, wohl aber forderten und fordern sie regelmäßige Diskussionen der Sicherheitsbedenken und eine breite gesellschaftliche Akzeptanz. Gleichzeitig verpflichteten sie sich zu einer intensiven Grundlagenforschung innerhalb gesetzlicher und ethischer Grenzen.
In der Vorsicht nun treffen sich die Interessen der Forscher durchaus mit jenen der Geheimen – und der Allgemeinheit. Sieht man von der Kernspaltung ab, ist dem Menschen kein mächtigerer Schlüssel je in die Hand gefallen. Einer, welcher das Tor zu einer im Sinne des Wortes wunderbaren Zukunft öffnen kann, welcher aber auch eine Pforte zur Hölle erschließt.
Unausgesprochen fürchten die Genetiker ihren „Manhattan-Project-Moment“. Jenen Augenblick, in dem offenbar wird, welch zerstörerische Kraft ihrer Forschung innewohnt, sie die Folgen aber nicht mehr unter Kontrolle haben. Weil längst andere sich der Technik und ihrer Anwendung bemächtigt haben.
Es ist wohl diese Erfahrung, die die Physiker in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts machten, welche die Genetiker prägt.
So gesehen bauen sie auf der Erfahrung der Physiker auf. Ein wesentlicher Unterschied. Nicht der einzige. Während des Zweiten Weltkriegs arbeiteten die Physiker unter absoluter Geheimhaltung und Abschottung und wähnten sich in einem Wettrennen mit ihren Fachkollegen in Nazi-Deutschland. Heute hingegen diskutieren die großen und maßgeblichen Institutionen über alle nationalstaatlichen Grenzen hinweg Folgen und Auswirkungen neuer Erkenntnisse. Sie suchen durch Kooperation und eine breite fachliche wie gesellschaftliche Debatte gleichsam eine Sicherheitsarchitektur zu errichten, Wegmarkierungen zu definieren. Es ist eine der essentiellsten Auseinandersetzungen unserer Zeit. (fvk)