Der Krieg ist in seiner sechsten Woche, die Zahl der Flüchtlinge hat die Zahl der vier Millionen überschritten, die der Toten kann nicht einmal annähernd geschätzt werden, weswegen momentan der Begriff der „unzähligen Toten“ der zutreffendste ist. In Butscha und Borodjanka werden die Opfer der russischen Soldateska geborgen und gezählt, währenddessen harren in den Ruinen von Mariupol immer noch Tausende Menschen aus und ertragen die Bombardements der russischen Angreifer. Der Rückzug im Norden wird begleitet von Raketenbeschuss und flächendeckendem Artilleriefeuer. Tag für Tag versinkt das Land mehr und mehr in Schutt und Asche.
Die Verbrechen von Butscha und Borodjanka, der Dauerbeschuss von Mariupol und Charkiw – nichts davon kommt unerwartet, nur unerwartet schnell. Tatsächlich folgt der Angriff Russlands auf die Ukraine den inzwischen wohlbekannten Mustern des zweiten Tschetschenienkriegs und des Syrienkriegs auf Seiten des Diktators Assad. Da wie dort hat Putins Armee auf Flächenbombardements gesetzt, um den Widerstand zu brechen. Da wie dort nimmt Putins Generalität billigend hohe Opferzahlen in Kauf. Da wie dort steckt dahinter wohl das Kalkül, die Menschen und damit jede Form von Opposition zu brechen, ein für allemal.
Jetzt auch in Mali, nur der Vollständigkeit wegen. Im März, so berichtet Human Rights Watch, haben russische Söldner gemeinsam mit der malischen Armee im Zuge einer Aktion gegen Dschihadisten in der Stadt Moura binnen fünf Tagen 300 Männer erschossen. Zivilisten, wohlgemerkt. Willkürlich verhaftet, verschleppt und exekutiert. Die Schilderungen von Augenzeugen klingen wie jene aus Butscha. Afrika aber ist fern.
Russland eskaliert. Es eskaliert rasant. In der Art seiner „Kriegsführung“, die gegen alle Regeln der Genfer Konvention zum Schutz der Zivilisten und ziviler Einrichtungen verstößt. In den Drohungen, die gegen die Ukraine und die Menschen der Ukraine ausgestoßen werden, in denen ihnen ihre Vernichtung angekündigt wird. In den unverblümten Lügen zu Mariupol und Cherson, zu Charkiw und Irpin, zu Butscha und Borodjanka.
Es ist, als wolle Russlands Regierung damit nicht nur die Abwendung Russlands vom Westen beschleunigen und zementieren, es scheint auch, als wolle Putins Regierung das eigene Volk, die eigenen Soldaten zu Mittätern machen, mitschuldig an Verbrechen gegen die Menschlichkeit, geächtet in der Welt. Um damit Russlands Menschen noch enger an sich zu binden. Sozusagen auf Gedeih und Verderb.
Gleichzeitig setzt die Führung in Moskau damit den Ton für die kommenden Wochen und Monate. Es mögen die Schauplätze der Kämpfe in der Ukraine sich verändern und sich in den Osten und Süden verlagern, erträglicher wird der Krieg dadurch nicht werden. Im Wissen um das bisherige Vorgehen der russischen Truppen ist – gerade in der Weite des ukrainischen Ostens – mit noch mehr ungebremster Gewalt, mit Terror gegen die Zivilbevölkerung zu rechnen. Es ist nicht auszuschließen, dass das Regime Putin darauf setzt, dass, wenn die unmittelbare Bedrohung Kiews nicht mehr gegeben ist, die mediale Aufmerksamkeit des Westens abnimmt. Getreu dem Motto: Aus den Augen aus dem Sinn. Denn wer, abgesehen von den Beobachtern der OSZE, hatte in den Jahren seit 2014 schon die Lage entlang der Demarkationslinie im Donbass im Blick? Der Westen in seiner Gesamtheit und speziell in Person seiner politischen und publizistischen Vertreter jedenfalls nicht. Ein zweites Mal darf das nicht passieren.
Der Krieg befindet sich bald schon in seiner siebten Woche, er gerinnt langsam zu Alltag. Das ist unvermeidlich. Umso dringlicher ist es, dass Journalisten, Vertreter internationaler Organisationen, Juristen, Ermittler und Mediziner daran arbeiten, jedes einzelne Verbrechen zu dokumentieren. In Butscha und Borodjanka, in Charkiw und Mariupol – und auch in Moura in Mali. (fksk, 06.04.22)