Woche 47 – Oh,oh, die Leitkultur

Sie haben es wieder getan. In München warf dieser Tage die CSU den Begriff der Leitkultur in die aktuelle bundesrepublikanische Auseinandersetzung um Migration, Integration und Antisemitismus. Es scheint, als wäre es gestern erst gewesen und ist doch schon 15 Jahre her, dass sich um eben diesen Begriff heftige Debatten entzündet hatten. Hohn, Spott und Faschismusverdacht inklusive.

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Wobei, so falsch ist die Idee einer Leitkultur nicht.

Was eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält, das ist ihre Geschichte. Womit nicht allein ihre Historie gemeint ist, als vielmehr auch ihr Narrativ. Also, auf welchen Erzählungen, welchem gemeinschaftlichen Erleben, auf welcher über die Jahrzehnte, Jahrhunderte gemeinsam geteilten Wahrnehmungen und auf welcher Übereinkunft sie beruht.

Zum Beispiel Österreich, dessen maria-theresianisch-josephinisch aufgeklärter Beamtenstaat, der, vor rund 250 Jahren etabliert, bis heute existiert und sich im Denken, Fühlen, im alltäglichen Leben der Menschen dieses Landes nachdrücklich manifestiert. Die penible Verwaltung allen Seins, die mit einem bisweilen barock verspieltem Element absurden Unernstes einhergeht, ist unbedingt eine prägende Konstante, deren Wirkung bis tief in die Alltagskultur der Gegenwart reicht.

Oder die Kultur an und für sich.

Schon zu Zeiten der Ersten Republik wurden die einstige Hof- und nunmehrige Staatsoper mitsamt ihrem Orchester, aus dem sich die Wiener Philharmoniker rekrutieren, als identitätsstiftendes Element erkannt und identitätspolitisch eingesetzt. Gleichsam als Präludium zur Strategie, unmittelbar nach Kriegsende 1945 Österreichs beschwingt barocke Kultur in Gegensatz zum stur-starren preußischen Militarismus zu setzen und damit vor allem in den USA Sympathien zu gewinnen. Erfolgreich übrigens.

So erfolgreich, dass Burg und Oper im österreichischen Alltag Positionen einnehmen, von denen Kulturinstitutionen anderer Länder nur träumen können. Im Zuge eines Gesprächs erinnerte sich einmal Gert Voss, wie aufregend es für die Bochumer Schauspieler rund um Claus Peymann gewesen war, 1986 in ein Land zu kommen, das nicht nur einen eigenen Kulturminister hatte, sondern in dem die Entwicklungen am, im und rund um das Burgtheater als schlagzeilenwürdig erachtet und auch von Menschen, die weder Burg noch Oper je besuchten, kommentiert wurden. Die Frage, wer den Jedermann und wer die Buhlschaft in Salzburg spielt, ist hierzulande nach wie vor ebenso gewichtig wie die Frage, wer die Fußballnationalmannschaft trainiert.

Deren Sieg im argentinischen Cordoba anno 78 ist im österreichischen Bewusstsein wiederum so prominent abgespeichert, dass selbst jüngere Erfolge gegen den Erzrivalen aus Deutschland davon überlagert werden. Und das „I wer narrisch“ des Edi Finger hat sich im akustischen Gedächtnis der Österreicher so sehr festgesetzt wie John F. Kennedys „Isch bin ain Bärliner“ in jenem Deutschlands.

Und doch sind das alles nur Komponenten und Momentaufnahmen eines großen Ganzen, einer mächtigen Tiefenströmung, die sich unablässig weiterentwickelt, hier etwas aufnimmt, inkorporiert, dort etwas dem Vergessen anheim fallen lässt, die dann und wann an der Oberfläche etwas glitzern, flirren und sich kräuseln lässt, die Strudel der Moden eben. Wesentlich ist, dass grundlegende Parameter über lange Zeit ihre Gültigkeit behalten, dass sie zur Ausgestaltung einer gemeinsamen Identität beitragen. Leitkultur verbindet.

Das ist ihr Wesen.

Sie ermöglicht das Lesen einer Gesellschaft und ihrer vielen verschiedenen Codes, mithin das Verstehen und damit wiederum aktive Teilhabe. Sie ist in Textur und Tonalität etwa der Sprache wahrnehmbar, sie ist im Umgang unter- und miteinander ebenso sichtbar wie sie in Gefühlswallungen und Verhaltensweisen manifest ist. Sie äußert sich auch darin, wie mit öffentlichem Raum, mit Landschaft, Natur, Stadt und Architektur verfahren wird. In ihr drücken sich Selbstbewusstsein, Eigenwahrnehmung und Standpunkte aus.

Sie bietet, dank ihrer Breite und Tiefe, Orientierung.

Das ist der Punkt.

Daran fehlt es zurzeit.

Was macht die Identität Europas aus? Was jene Österreichs? Darüber besteht aktuell kaum noch Konsens. Das mag mit dazu beitragen, dass die Gesellschaft als in sich gespalten wahrgenommen wird, dass Emotionen überborden und politisch extreme Ränder – die Orientierung versprechen – an Zulauf gewinnen und daraus postwendend den Anspruch erheben, die einzig wahre Identität des Landes zu repräsentieren.

Also spricht alles dafür, dass die Mitte der Gesellschaft die Diskussion nicht länger meidet, sondern sie aus sich heraus mit aller Kraft reklamiert und vorantreibt, keine Scheu zeigt, Tabus anzusprechen, Prinzipien abzuklopfen und zu formulieren, Limitationen zu benennen, kulturelle Entwicklungs- ebenso wie Bruchlinien zu beschreiben, um im Zuge all dieser Auseinandersetzung eine gemeinsame, verbindende Basis zu formulieren und – den radikalen Krakeelern an den Rändern nachhaltig Boden zu entziehen. Mehr noch aber, um allen anderen Orientierung zu bieten, das Lesen und Verstehen der Gesellschaft zu ermöglichen. Genauso wie die Teilhabe, die Leitkultur immer wieder zu debattieren und an ihrer Fortschreibung mitzuwirken. (fksk, 26.11.23)

Franziskus von Kerssenbrock

* 1966 Author, Journalist, Communications Expert Have written for various German and Austrian media (as DIE ZEIT, profil, DER STANDARD, HI!TECH, MERIAN, e.a.) Editor-in-chief at UNIVERSUM MAGAZIN Media Relations for Wirtschaftskammer Wien Head of Corporate Communications Oesterreichische Akademie der Wissenschaften Married, one son