Denken, nicht nur gedacht

Foto: Universität Wien 

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Mit der „Biopsychologie des Verstandes“ setzte sich das 2. Biologicum Almtal auseinander. Eine Tour de Force durch die Evolution bis hin zum Brain-Computer-Interface. 

Am Anfang ist ein Affe. Sein Körper ist gefesselt. Sein Gehirn über ein Interface mit einer Prothese verbunden. Und dann sind da Bananenstücke. Die will der Affe haben. Und so bewegt er die Prothese zu der Frucht, nimmt sie in die Prothesenhand. Führt sie zum Mund und frisst sie. Reine Willenskraft, die über 32 Zellen eine Prothese steuert.

„Die Sache ist nicht so kompliziert wie wir denken“, kommentiert Neuropsychiater Niels Birbaumer die Videosequenz zu Beginn seines Vortrags. „Die Sache“, das ist das Gehirn. Unser Gehirn. Die Gehirne der Säuger. Also die auch unserer nahen Verwandten. Im Grunde funktionieren sie alle nach demselben Prinzip. Trotzdem ist das Gehirn dann doch wieder ein Rätsel. So wie das Denken, die Logik und die Emotion.

Grünau im Almtal, Anfang Oktober. Das 2. Biologicum findet statt und hat das Denken zum Thema erkoren. Die Biopsychologie des Verstandes.

Diese Ergänzung ist essentiell. Es geht nicht um die Philosophie, nicht um die Geisteswissenschaft, es geht um die Naturwissenschaft. Dass philosophische Fragen dennoch immer wieder auftauchen, das versteht sich von selbst. Dennoch verharren sie im Hintergrund. „Das hier ist das Biologicum, nicht das Philosophicum“, hält Kurt Kotrschal fest.

Als Zoologe hat er gleichsam eine Rechnung offen mit der Philosophie. Genauer gesagt mit René Descartes, dessen Diktum Cogito ergo sum „Denken, Bewusstsein und Geist zu absoluten Maßstäben erhob. In seiner Überschätzung der menschlichen Bewusstseinsfähigkeit machte er sie zum Hauptkriterium der Unterscheidung vom ,Tier‘ und vertiefte so den Graben zwischen ,uns und den anderen‘“, kritisiert Kotrschal in seinem Eröffnungsvortrag.

Hier der Mensch... (Foto: Simon Wijers/Unsplash)

Hier der Mensch... (Foto: Simon Wijers/Unsplash)

Hier der Mensch. Des Denkens fähig. Und damit sich seiner bewusst. Krone der Schöpfung.

Dort das Tier. Reflexgesteuert. Allenfalls dressurfähig. Die Kreatur, die man sich untertan machen kann und darf.

...dort das Tier. (Foto: Josh Felise/Unsplash)

...dort das Tier. (Foto: Josh Felise/Unsplash)

Wobei Michel de Montaigne noch vor Descartes eine Gegenposition formulierte. Indem er „Geist und Denken fest mit den Sinnen und dem Körper verband. Er bereitete damit den Boden für das ,Darwinsche‘ (evolutionäre) Kontinuum zwischen uns und den anderen Tieren, auch was die Denkfähigkeit betrifft“, tritt Kotrschal sogleich zur Ehrenrettung der Philosophie an.

Was freilich bleibt, ist die Wirkmacht von Descartes. Die Kraft seines Bildes vom denkenden und damit seienden menschlichen Wesen als einzigartig.

Dem ist nicht so. Das ist im Grunde eine Kränkung des Menschen. Eine von vielen, die er hinnehmen musste im Laufe der Geschichte. Dank der Wissenschaften.

Eine der ganz großen ist, dass er, der Mensch, sich mit den Affen Vorfahren teilt. Dass er eigentlich nichts anderes ist als eine, nun ja, Primatenart. Dafür wurde Darwin gescholten. Dafür wird er gescholten. Diese Kränkung sitzt tief. Doch nun stellen seine wissenschaftlichen Nachfolger noch mehr fest: Auch andere Tiere (Kotrschal) sind zu höchst staunenswerten kognitiven Leistungen fähig. Sogar zur Empathie.

Tiere denken ähnlich wie wir. Sie treffen flexible Entscheidungen, handeln nach Ursache-Wirkungszusammenhängen, stellen sich die Zukunft vor und planen
— Kurt Kotrschal

Elefanten trauern. Wölfe lösen Aufgaben. Raben pflegen Freundschaften. Papageien nutzen Werkzeuge, verstehen Sinn und Einsatzmöglichkeit von Worten und Begriffen. Das Tier mit „Köpfchen“, einst bestauntes Kuriosum auf Jahrmärkten, die Ausnahme, die die Regel bestätigt, ist keine Ausnahme. Tiere, so Kotrschal „können ähnlich wie wir denken. Sie treffen flexible Entscheidungen, handeln nach Ursache-Wirkungszusammenhängen, stellen sich die Zukunft vor und planen“.

Basis all dessen ist das Gehirn. In all seinen Ausformungen und Gestalten.

Vor rund 550 Millionen Jahren beginnt das Gehirn sich zu entwickeln. Erst einfach, als Konzentration der Sinnesorgane schon bei kieferlosen Wirbeltieren. Sozusagen als ein schlichter Sammelpunkt an dem Nervenstränge zusammenlaufen. So wie er immer noch beim Neunauge vorhanden ist. Einfach gestrickt.

Dabei bleibt es nicht. Im Zuge der Evolution entwickelt sich ein immer komplexeres System das zu großen, flexiblen, lern- und denkfähigen Gehirnen führt. Parallel dazu entwickeln sich neuronale, hormonale, emotional-kognitive und Verhaltensausstattungen, die in der Partnerbindung zum Einsatz kommen. „Über den gesamten Wirbeltierstammbaum, vom Fisch bis zum Mensch, teilen wir strukturell und funktionell ein nahezu identisches, ,soziales Netzwerk‘ im Stamm- und Zwischenhirn“, so Kotrschal.

Alle Wirbeltiere teilen ein nahezu identisches soziales Netzwerk in Stamm- und Zwischenhirn. (Foto: Dean Nahum/Unsplash)

Alle Wirbeltiere teilen ein nahezu identisches soziales Netzwerk in Stamm- und Zwischenhirn. (Foto: Dean Nahum/Unsplash)

 

Mit dem Leben in immer komplexeren Öko- und Sozialsystemen werden weitere, ausgefeilte „Schaltzentralen“ entwickelt. Zentren vieler spezieller und allgemeiner Intelligenzleistungen. Wobei es dem Gehirn nicht anzusehen ist, wie leistungsfähig es ist. „Raben haben ein ganz glattes Gehirn, jenes der Säugtiere hingegen faltet sich. Das sagt nichts aus. Ebenso wenig wie die Größe oder das Gewicht. Entscheidend ist die Anzahl und Dichte der Neuronen“ erklärt der Forscher.

Was den Menschen nun ausmacht, das ist seine Sprachfähigkeit. „Nur Menschen sind zur komplexen Symbolsprache fähig“, fährt Kotrschal fort. „Menschwerdung ist im Kern die Evolution des Wortes und das Wort treibt die Evolution des Menschen. Erst das Wort erlaubt es, das individuelle Denken sozial zu vernetzen, mentale Zeitreisen mit anderen zu teilen, Meinungen zu bilden, zu streiten. Es begründet solchermaßen auch das hohe soziale Prestige geistiger Leistungen.“

Im Anfang war das Wort. So gesehen hat die Bibel recht. Und die ist wiederum ein Ausfluss dieser Fähigkeit. Sie ist eine Geschichte, die Menschen miteinander verbindet. Über alle Ethnien, Kontinente und Sprachen hinweg.

Der Mensch ist ein Worttier. Aber nicht nur. Das Wort braucht die Geste. Es braucht den Gesichtsausdruck. Es braucht den Körper.

Montaigne also. Nicht Descartes.

Dessen stolzer Satz aber sitzt tief im Denken. Auch im jenen der Wissenschaften. „Nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Psychologie und der Linguistik“, moniert die Neurowissenschaftlerin Manuela Macedonia. „In der traditionellen Sprachwissenschaft wird nach wie vor behauptet, dass Sprache ein Phänomen des Geistes sei, das aus abstrakten Elementen wie Wörtern und Grammatikregeln besteht.“

Wörter sind in ausgedehnten Netzwerken eingebunden. Sie schließen jegliche körperliche Erfahrung ein, die der Mensch zum Wort in seinem gesamten Leben gesammelt hat
— Manuela Macedonia

Sie legt Widerspruch ein. Vehement. Mit starken Argumenten, empirisch gesichert und belegt. Versteht sich. Das hier ist das Biologicum.

„In Kernspintomografen ,sieht‘ man, dass zum Beispiel Wörter nicht nur in kanonischen Spracharealen, sondern in ausgedehnten Netzwerken eingebunden sind. Solche Netzwerke schließen jegliche körperliche Erfahrung ein, die der Mensch zum Wort in seinem gesamten Leben gesammelt hat“, führt Macedonia aus. Unser Gehirn, ein Erinnerungsnetzwerk.

Die Linzer Forscherin arbeitet beim Erwerb einer Fremdsprache mit unterstützenden Gesten. Gesten bauen eine „motorische Spur“ in das Wortgedächtnis ein. Neue Begriffe werden so besser, weil mehrfach abgesichert, gespeichert.

Gesten bauen eine motorische Spur in das Wortgedächtnis ein. (Foto: Luisa Dusche/Unsplash)

Gesten bauen eine motorische Spur in das Wortgedächtnis ein. (Foto: Luisa Dusche/Unsplash)

„Um sprachliche Vorkenntnisse auszuschließen, die eine Studie beeinflussen können, habe ich fiktive Vokabeln entwickelt. Bei meiner Untersuchung 2003 durften die Testpersonen die Kunstwörter mit oder ohne Gesten lernen“, beschreibt sie ihre Arbeit. Ergebnis: Die Geste bringt es.

„Wie sich zeigte, erinnerten sie sich anschließend auch dann an die neu geschaffenen Wörter besser, wenn sie sie mit Körperbewegungen unterstützten. Besonders interessant war die Langzeitwirkung der Gesten: Nach 14 Monaten konnten die Probanden immer noch etwa zehn Prozent der Wörter wiedergeben. Bei per Bild und Text gelernten Vokabeln lag die Quote nach dieser Zeit nur bei gut einem Prozent“, berichtet sie.

Allerdings verlangt das Gehirn nach sinnvollen Gesten. Nicht nach irgendwelchen Bewegungen. „Je besser die Geste den Wortinhalt abbildet, desto wirkungsvoller ist sie“, so Macedonia.

Durch die Geste wird der Begriff mehrfach konnotiert und abgelegt. Es wird sozusagen ein Assoziationsnetzwerk aufgebaut, das bei Bedarf anspringt und abrufbar ist. Denn unser Denken erfolgt über weite Strecken automatisiert.

Daniel Kahneman beschreibt diese Vorgänge höchst exakt und spannend in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“. Das schnelle Denken sind Entscheidungen die auf Erfahrung, auf Mustern beruhen. Vieltausendfach gespeichert, in Sekundenbruchteilen abrufbar. Die Intuition, effizient und sparsam im Energieverbrauch.

Die Sache ist nicht so kompliziert, wie wir denken
— Niels Birbaumer

Das ist ein wesentlicher Punkt. Unser Gehirn braucht Energie. Rund 25 Prozent der gesamten Körperenergie gehen in unseren Kopf. Zur Informationsverarbeitung. Als Computer wird unser Gehirn bezeichnet, mit einer Festplatte verglichen. Das greift zu kurz. Sicher ist, jedes Gehirn ist einzigartig. Einzigartig in seiner ganz speziellen Art und Weise der Assoziationen. Einzigartig in seiner Vernetzung. Es ist mehr als nur eine auf Algorhitmen aufgebaute Software. Es ist eigentlich ohne den Körper, der es umgibt, der ihm ununterbrochen seine Sinneswahrnehmungen übermittelt, nicht vorstellbar.

Auftritt Birbaumer, führend in der Forschung und Arbeit mit der Neuroprothetik. Oder, einfacher gesagt, mit Brain-Computer-Interfaces. Mittels Gedanken Prothesen zu steuern, das ist längst keine Zukunftsmusik mehr. Es ist machbar. Und es wird bald schon Alltag sein. Birbaumer aber geht einen Schritt weiter. „Wir koppeln Leben an Kommunikationsfähigkeit“, sagt er. Zustimmung ist ihm gewiss. Dann seine Frage: „Was ist mit Lähmung? Endet dann das Leben?“ Seine Antwort ist eindeutig: Nein.

Das Auge als Mittel digitaler Kommunikation. (Foto: Sean Brown/Unsplash)

Das Auge als Mittel digitaler Kommunikation. (Foto: Sean Brown/Unsplash)

Dass Gelähmte mittels ihrer Augenbewegungen schreiben, sich also mitteilen und damit kommunizieren können, Birbaumer demonstriert es. Auch hier noch im Bereich des allgemein Bekannten. „Aber was ist mit den völlig Eingeschlossenen?“, bohrt Birbaumer weiter. Was ist mit ALS-Patienten, die nicht mehr kommunizieren können, auch nicht mit Hilfe ihrer Augenbewegungen? Verloren? Unerreichbar? Ein Fall für die Patientenverfügung?

Auf die reagiert Birbaumer allergisch: „Die zerreiße ich sofort. Und ich werden Ihnen auch gleich erklären warum“. Zuvor noch zum Neurofeedback. „Wir können bei vollkommen Eingeschlossenen die Hirnströme auswerten. Denn das Gehör, das funktioniert,  wir können ihnen also Fragen stellen. Ganz einfache klare Ja-Nein-Fragen und messen gleichzeitig die Hirnaktivität.“ Das können Aussagen sein wie „Ich koche meinen Kaffee mit Socken“ oder „Ich koche meinen Kaffee mit Zucker“. Bei den „Socken“ gibt es im Hirn einen negativen Ausschlag. „Weil verstanden wird, dass es ein semantischer Fehler war“, erklärt Birbaumer. „So kann man feststellen, ob das Gehirn des Patienten noch semantisch und syntaktisch versteht, was da abläuft. Und ich kann daraus schließen, dass das Gehirn in der Lage ist, komplizierte Informationen zu erfassen.“ Es öffnet sich ein Fenster zu den Eingeschlossenen. Erkennbar und deutbar anhand der Hirnaktivitäten.

Birbaumer und seine Kollegen nutzen diese Fenster auch um die Zufriedenheit künstlich am Leben erhaltener vollständig Gelähmter zu erfragen. „Die sind, wenn sie sich erst einmal an ihren Zustand gewöhnt haben, genauso zufrieden wie ein gesunder Durchschnittsmensch, die wollen gar nicht sterben. Ihre einzige Sorge ist vielmehr, dass die künstliche Beatmung ausfällt.“ Daher rührt Birbaumers Aversion gegen Patientenverfügungen. „Da wird aus Angst ein unwiderruflicher Schritt festgeschrieben, weil man sich nicht vorstellen kann, dass auch dieses Leben gut sein kann“, so Birbaumer.

Für Debatten ist also gesorgt. Je besser Neurologen und Kognitionsforscher das Gehirn verstehen, desto mehr Fragen werden sich auftun. Fragen, die unser Selbstverständnis betreffen. Dann wird es wieder philosophisch. Auch am Biologicum. (fvk)

Franziskus von Kerssenbrock

* 1966 Author, Journalist, Communications Expert Have written for various German and Austrian media (as DIE ZEIT, profil, DER STANDARD, HI!TECH, MERIAN, e.a.) Editor-in-chief at UNIVERSUM MAGAZIN Media Relations for Wirtschaftskammer Wien Head of Corporate Communications Oesterreichische Akademie der Wissenschaften Married, one son