Woche elf. Die Truppen der Russischen Föderation melden Gebietsgewinne im Osten der Ukraine, gleichzeitig drängen die ukrainischen Verteidiger die Angreifer rund um Charkiv zurück, Russland feuert Raketen auf Odessa, die Ukraine nimmt die von den Russen besetzte Schlangeninsel ins Visier. Der Besucherreigen aus dem Westen in Kiew setzt sich fort, Putin nimmt unterdessen eine Parade ab. Die russischen Verluste steigen. Und Analysten rechnen damit, dass ausgerechnet die bestausgebildeten und ausgerüsteten Truppen der russischen Armee in den ersten Tagen und Wochen des Kriegs die schwersten Verluste hinnehmen mussten. Verluste, die die Fähigkeit der Armee, Initiative unter Beweis zu stellen, deutlich beeinträchtigen.
Es ist, darin herrscht unter Beobachtern weitgehend Einigkeit, ein unzeitgemäßer Krieg, der da in der Ukraine wütet. In vielen Aspekten, und das vor allem in der Ostukraine, scheint es, als hätte sich seit dem Zweiten Weltkrieg nichts oder nur wenig geändert. Artillerieduelle, Raketenbeschuß, ein Ringen um jeden Quadratmeter Boden. Ein dreckiger, ein blutiger Krieg.
Militärs und PR-Strategen haben in den letzten Jahrzehnten viel Augenmerk darauf gelegt, den Krieg gleichsam zu sterilisieren. Die Opferzahlen tunlichst zu reduzieren, Präzisionswaffen einzusetzen, hässliche Bilder zu vermeiden. Das war während des Kriegs zur Befreiung Kuweits erstmals im Sinne des Wortes generalstabssmäßig geplant und ein Höhepunkt gesteuerter Medienberichterstattung, das haben die USA im Irakkrieg anfangs so gehalten, das haben sie in Afghanistan versucht. Die Opferzahlen unter Soldaten sind tatsächlich zurückgegangen. Die großflächigen Zerstörungen sind Ausnahme geworden (sieht man von Bürgerkriegen wie in Syrien und Jemen ab). Der Krieg, so weit er noch von Soldaten ausgefochten wird, soll im 21. Jahrhundert ein „sauberer“ Krieg sein.
Das ist nur ein Aspekt. Er wird zudem zusehends virtuell ausgetragen, als Cyberattacke auf Infrastrukturen, Wissensnetzwerke, auf eine Gesellschaft, die nicht mehr zuordnen kann, was denn Zufall, schlichtes Gebrechen, Verbrechen oder doch staatlicher Angriff ist.
Es wandelt sich der Krieg im 21. Jahrhundert zu einem hybriden Krieg, zu einem Ereignis, welches ausfasert, an Eindeutigkeit verliert und an klaren Fronten. Er droht zu einem undefinierbaren Dauerzustand zu werden, unerklärt und doch im Gange, in Form zahlloser kleiner und großer über das Netz ausgetragener Attacken. Selbst das Geschehen am Schlachtfeld wird den Drohnenpiloten in seiner Anmutung zu einem Videospiel, der Angriff auf ein Elektrizitätswerk dem beauftragten Hacker zu einem reinen Job, dessen Auswirkungen ihn nie erreichen werden, und Piloten sind mittlerweile Teil eines Datennetzwerks, abgehoben und fern der Resultate ihrer Einsätze.
Als Russland 2014 seinen Krieg gegen die Ukraine startet, zieht es alle Register des hybriden Kriegs. Und ist erfolgreich damit. Vollkommen überrascht, sind die ukrainischen Truppen unfähig zur Gegenwehr, so wie das Land ansich in Schreckstarre verfällt und so ungläubig wie ohnmächtig die Vorgänge auf der Krim verfolgt, von denen Moskau stur behauptet, sie entsprängen rein lokaler Initiative. Die Kämpfe im Donbass gestalten sich damals schon anders. Aber der Donbass liegt weit im Osten, sozusagen außerhalb des westlichen Gesichtsfeldes. Auf der Krim hingegen demonstrierte Russland, wie schnell und reibungslos und nachgerade chirurgisch sauber so ein hybrider Krieg vonstatten gehen kann.
Acht Jahre später steckt Russland in der Ukraine in einem Krieg, der nichts mehr mit jenem von 2014 zu tun hat, fest. Der schnelle, präzise Schlag gegen Kiew ist ausgeblieben. Die befürchteten Cyberattacken, auch gegen westliche Ziele, fallen zumindest bis dato nicht auf. Und den Wirtschaftskrieg führt der Westen konsequenter als es Russland tut.
Stattdessen verfestigen sich die Fronten im Donbass und im Süden. Geländegewinnen der einen Seite stehen solche der anderen gegenüber. Bombardements und Artillerieduelle, Raketenangriffe und Drohnenattacken, Feuergefechte, Grabenkrieg und Häuserkampf. Abgesehen von den eingesetzten Waffensystemen zeigt sich der Krieg in der Ukraine also ganz und gar altmodisch. In aller Konsequenz.
Man könnte nun meinen, allein das schon sei eine Niederlage Putins. So schnell indes gibt sich gerade Putin wohl nicht geschlagen. Er, besser gesagt seine Armee, greift mit der „traditionellen“ Kriegsführung auf ein Vorgehen zurück, welches sie bereits in Tschetschenien und in Syrien ausgiebig erprobt haben, sie setzen auf buchstäblich verbrannte Erde.
Es setzt Putin aber wohl auch auf Zeit. Auf die Zeit, die ihm in die Hände spielt.
George W. Bush drängte es nach der – notabene völkerrechtswidrigen – US-Invasion Iraks rasch an Bord des US-Flugzeugträgers „USS Abraham Lincoln“, um von dort aus der Weltöffentlichkeit sein „Mission Accomplished“ entgegenzuschmettern. Tatsächlich war es erst der Beginn einer schier unendlichen Geschichte der Gewalt, des Kriegs und Bürgerkriegs im Irak. Für Bush aber war die Botschaft, dass sein Krieg nach kurzer Zeit und unter minimalen Verlusten vorüber sei, das wichtige. Die USA und der Westen wollen, wenn, dann kurze Kriege.
Gegen kurze Kriege hat Putin sicherlich nichts einzuwenden, gegen lange Kriege aber auch nicht. Im Osten der Ukraine führt Russland, vertreten durch seine Separatisten, seit 2014 einen quälend langen Krieg mit Tausenden Opfern. Der russische Präsident, und mit ihm wohl auch die Armeespitze, ist bereit, sich auf einen weiteren langen Krieg einzulassen. Zum einen werden so schlicht Fakten geschaffen, etwa, weil die angestammte Bevölkerung flieht oder zum Gehen angehalten, gedrängt oder gezwungen wird, und die Frontlinien zu Grenzen eines weitgehend eingefrorenen Konflikts werden. Zum anderen aber kann Putin darauf zählen, dass der westlichen Öffentlichkeit ein langer, quälend langsamer Krieg ein Unding wird. Eine Zumutung, derer man sich entledigen will. Oder aber, dass der Gewöhnungseffekt eintritt, die Aufmerksamkeit, dafür, was sich weit im Osten tut, abnimmt – womit der Aggressor peu á peu freie Hand gewinnt, Tatsachen zu schaffen.
Kurz, Putin weiß um die Befindlichkeiten der westlichen Gesellschaften, er weiß um die wirtschaftlichen Ängste, um die Sorge vor einem um sich greifenden, nicht mehr einzudämmenden Konflikt, er weiß um die prinzipielle Ungeduld im Westen ebenso wie um die offenen und verdeckten Konflikte. Alle diese Disparitäten müssen aus Sicht des Kremls der russischen Sache über kurz oder lang in die Hand spielen. Aus Moskauer Perspektive mag der Westen vieles haben und über noch mehr verfügen, über eines verfügt er nicht: über Geduld.
Je länger demnach der Abnutzungskrieg im Süden und Osten der Ukraine dauert, je mehr Leid in den Alltag sickert, je gewöhnlicher dieser Krieg wird, so wie er nicht mehr von der tiefen Sympathie der ersten Tage und Wochen für die Ukraine verfolgt wird, so lange Kiew nicht belagert wird, je teurer dieser Krieg den Westen zu stehen kommt, desto eher, so lautet wohl das russische Kalkül, wird der Westen der Sache müde und ihrer leid. Und lässt die Ukraine fallen. Weil der Westen nicht mehr in der Lage ist, einen quälend langen Krieg nach den Mustern des 20. Jahrhunderts zu ertragen.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Putins Rechnung nicht aufgeht. (fksk, 13.05.22)