Ukraine

Woche 03 – Putin macht Schule

Das klingt vertraut: Erewan sei, betonte unlängst Aserbeidschans Präsident Alijew, von alters her und also immer schon aserbeidschanisches Territorium und Siedlungsgebiet. Dass die Stadt, noch dazu als Hauptstadt, armenisch ist, das verdanke sich nur einem dummen Zufall aus den frühen Tagen der Sowjetunion. So klang Alijew bereits 2018. Jetzt hat er es wieder in den Raum gestellt. Diesmal nach militärischen Erfolgen und im Schatten des russischen Kriegs in der Ukraine.

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Putins Beispiel macht Schule.

Als die russische Armee vor bald zwei Jahren alle Grenzen überschritt und nach der Krim und dem Donbass 2014 auf breiter Front in die Ukraine einfiel, setzte Moskau damit ein Exempel. Die internationale Ordnung, nach 1945 geschaffen auf Basis völkerrechtlicher Verträge und Verpflichtungen, ein System, dazu gedacht, Konflikte und Kriege hintanzuhalten, all das gilt nichts mehr. Allenfalls gelten sie als Instrumente des perfiden Westens zur Unterdrückung der Welt. Das ist ein unverhohlenes Signal an autoritäre Machthaber in anderen Weltgegenden, sich zu holen, was ihnen ins Auge sticht.

Die rohstoffreichen Regionen Guyanas etwa, auf die Venezuela Anspruch erhebt, abgesichert durch ein Referendum, in dem dieser Anspruch unter der eigenen Bevölkerung abgefragt wurde. Was die Bevölkerung in Guyana dazu zu sagen hätte, interessiert in Caracas nicht.

In Belgrad spitzt Präsident Vucic seit Monaten schon Sprache und Politik gegenüber dem Kosovo zu. Die serbische Armee wird aufgerüstet, um zu gegebenem Zeitpunkt der Unabhängigkeit der einstigen Provinz ein gewaltsames Ende zu bereiten und wohl auch der Eigenständigkeit Montenegros. Parallel dazu erhöht der Präsident des bosnisch-herzegowinischen Kantons Republika Srpska, Herr Dodik, die regionalen Spannungen und stellt die Vereinigung mit Serbien in den Raum.

Währenddessen nehmen die, von Iran unterstützten, Huthis von Jemen aus den Schiffsverkehr im Roten Meer ins Visier, feuern Raketen auf Frachtschiffe ab oder versuchen sie zu kapern. Im Irak erhöhen mit Iran verbündete Milizen ihre Attacken auf kurdische und US-amerikanische Einrichtungen, während Iran selbst Ziele in Pakistan mit Marschflugkörpern angreift – um Terroristen zu bestrafen, wie Teheran beteuert. Die Atommacht Pakistan antwortet ihrerseits mit Raketenangriffen auf iranische Ziele. Eine beunruhigende Entwicklung, die die Führung der afghanischen Taliban veranlasst, dringlich vor einem Dritten Weltkrieg zu warnen und die internationale Gemeinschaft zu beschwören, alles zu unternehmen, jede weitere Eskalation zu verhindern. Kim Jong-un unterdessen spekuliert so offen wie nie zuvor über einen Krieg gegen Südkorea.

Man kann sagen, die Lage spitzt sich zu.

Sie spitzt sich auch zu, weil der Westen als schwach wahrgenommen wird. Nach zwei Jahren des Kriegs in der Ukraine mehren sich die kriegsmüden Stimmen in Europa und den USA. In Washington blockieren die Republikaner dringend benötigte Gelder für die Ukraine. In der Europäischen Union ist es Ungarn, das blockiert.

Freilich nicht nur Ungarn. Die Union hat hehren Worten und wohltönenden Versprechen keine entsprechenden Taten folgen lassen. Immer noch hinkt die europäische Rüstungs- und Munitionsproduktion den eigenen Vorgaben weit hinterher, noch immer kann Europa aus eigener Kraft die Ukraine nicht unterstützen, noch immer taktieren wesentliche Politiker und zögern essenzielle Waffenlieferungen hinaus, so wie Deutschlands Kanzler Scholz, der die Taurus nicht und nicht freigibt. Die Zeitenwende, die er vor zwei Jahren unter dem Eindruck der russischen Aggression ausrief, materialisiert sich nicht. Nicht in konsequenter Politik. Nicht in robustem Handeln.

Dabei ist es die Ukraine, in der kommende Konflikte, Krisen und Kriege eingehegt werden können. Ist Europa nicht in der Lage, nicht fähig und willens, ein europäisches Land, das sich einem Vernichtungskrieg gegenüber sieht, mit allen Mitteln und mit aller Kraft zu unterstützen, dann ist auch das auch eine Botschaft an die Welt.

Es wäre das Eingeständnis, dass Politik nach Putinart nunmehr das Maß aller Dinge ist; dass Grenzen ebenso wie internationale Vereinbarungen nichts mehr gelten; dass Gewalt Vorrang vor Diplomatie hat; dass Europa sich in die neue Weltordnung nach dem Gusto Moskaus und Pekings fügt. Nicht zu seinem Vorteil. Putin und seine Gefolgsleute geben unumwunden ihre nächsten Ziele preis: das Baltikum, Polen, Finnland. Mindestens.

Dem kann Europa einen Riegel vorschieben. Indem es gezielt seine industriellen Kapazitäten nutzt, die Ukraine mit allen notwendigen Waffensystemen, Nachschub und Material zu versorgen, damit Kiyv an der Front Oberhand gewinnt – und Russland zum Rückzug zwingt. Mehr noch, Europa muss sein Sanktionsregime gegenüber Russland deutlich verschärfen und alle bislang geduldeten Schlupflöcher, über die nach wie vor strategisch wichtige Güter nach Russland gelangen, schließen. Und während Europa die Ukraine voll und ganz unterstützt, muss es seine militärische Abhängigkeit von den USA rasch reduzieren.

Damit ist Kim Jong-un noch nicht in die Schranken gewiesen. Das hält Maduro nicht davon ab, sein Nachbarland Guyana teilen zu wollen. Aber es ist ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass die Union bereit ist, ihre Interessen, ihre Friedens- und Sicherheits-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung auch robust zu verteidigen.

Alles das ist mit Kosten, Mühe und Risiken behaftet. Sie sind indes gering im Vergleich zu jenen Kosten, mit denen Europa und seinen Menschen konfrontiert werden, wenn Putins Politik Schule macht. Man kann sagen, es ist eine Investition in die Zukunft. Sie muss jetzt getätigt werden. (fksk, 21.01.2024)

Woche 46 – Es geht um viel. Es geht um alles

Es geht um die Existenz. Um jene Israels und der Ukraine als demokratische Staaten und Gesellschaften, frei von äußerer Bedrohung. Der 7. Oktober 23 und der 24. Februar 22 markieren zwei Einschnitte, die tiefer und schmerzvoller nicht sein könnten. Zuallererst für Israel und die Ukraine, für die es in letzter Konsequenz um Sein oder Nichtsein geht. Es geht aber auch, und das ist wesentlich, um die Existenz des Westens, insbesondere Europas, als wertebasierter Kultur.

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Russlands Krieg, der im Februar 22 nach dem Osten der Ukraine und der Krim nun auch Kyiv und das ganze Land zum Ziel hatte, war und ist auch ein Vernichtungsfeldzug gegen die europäische Friedensordnung, die europäische Einigung, das internationale Völkerrecht und gegen die Prinzipien des Universalismus. Der Pogrom der Hamas war und ist auch eine Attacke auf liberale, offene, der Menschenwürde verpflichtete Gesellschaften, wie sie der Westen zu leben anstrebt.

An Angriffen auf westliche Prinzipien, gegen die Idee des Westens hat es im Laufe der Geschichte nicht gefehlt. Trotzdem unterscheidet sich aktuelle Lage grundlegend von allen Herausforderungen seit 1945. Es geht darum, ob die westlichen Gesellschaften in aller Konsequenz bereit sind, für ihre Grundwerte einzustehen, dafür Konflikten nicht aus dem Weg zu gehen und gegenüber autoritären Regimen und totalitären Ideologien klare Grenzen zu benennen. Oder, ob sie versuchen, sich des lieben Friedens und der guten Geschäfte wegen und auch weil man sich gegenüber der Welt schuldig gemacht hat, mit Kompromissen Zeit zu erkaufen. Um letztlich doch klein beizugeben.

Es geht bei dieser notwendigen Standortbestimmung um mehr als um Waffenlieferungen, wohlfeile Solidaritätsadressen und freundliche Worte in Essays, auf Symposien und Demonstrationen. Es geht um des Westens Wesenskern.

Es müssen die Grundlagen wieder definiert werden, die notwendig für den gesellschaftlichen Aufbau und Zusammenhalt sind. Es muss Konsens darüber bestehen, was die westlichen Gesellschaften ausmacht, was sie von anderen, von totalitären, autoritären, faschistischen, kommunistischen Regimen und sogenannten illiberalen Demokratien glasklar unterscheidet.

Dieser Prozess ist schon im Gange. Er hat im Grunde noch vor Russlands grünen Männchen auf der Krim im Jahr 2014 begonnen, wenngleich zaghaft nur und gleichsam subkutan.

Der Februar 22 indes markiert eine tektonische Verschiebung, die nicht mehr ignoriert werden kann. Selbst wenn die Debatte zäh vonstatten geht, wenn sie lahmt und bisweilen lähmt, wenn sie teilweise in eine Generalanklage gegen den Westen mündet, der seine Vorherrschaft mit allen Mitteln zu sichern trachte, worunter der Globale Süden leide (zu dem dann auch China und Russland gezählt werden), diese Debatte ist mitsamt ihren Nebensträngen und regionalen Ausprägungen nicht mehr aus der Welt zu schaffen.

Was lange schwelt wird jetzt akut. Der Oktober 23 markiert eine weitere tektonische Erschütterung, als es nun dringend um die Frage geht, wie die Menschen in einer westlich geprägten, demokratisch verfassten Gesellschaft zusammenleben wollen, was diese Gesellschaften ausmacht – von den Rechten der Frauen bis hin zu jenen ethnischer, religiöser und sexueller Minderheiten. Und wie mit jenen zu verfahren ist, die die Prinzipien der offenen Gesellschaft zugunsten einer anderen, ihrer Ordnung bekämpfen, mit jenen, die ein Kalifat in Deutschland fordern und mit jenen, die sich am Kampf gegen vermeintlich verschworene Eliten und das System berauschen.

Es müssen der Westen und Europa, zu einer klaren, unmissverständlichen Sprache finden. Selbst wenn das bedeutet, dass es schmerzt. Und das wird es.

Denn nun muss benannt werden, was zu lange vage nur und nach Möglichkeit freundlich, keinesfalls verletzend umschrieben wurde. Wer etwa in Europa Asyl sucht oder auch nur eine neue Heimat, die Perspektiven bietet, muss die Prinzipien und die Herausforderungen einer offenen und pluralen Gesellschaft akzeptieren, kann sich und seine Ansichten und Glaubenssachen nicht über das Gesetz stellen. So wenig wie sich jeder andere über die Rechtsordnung stellen kann. Vor dem Gesetz sind alle Bürger gleich. Dieser Grundsatz gilt uneingeschränkt und ausnahmslos.

Lange, viel zu lange war der Westen der Überzeugung, dass sich alle Welt letztlich nach seinem Vorbild formen werde. Dass auf Handel notwendigerweise Wandel folgen werde. Dass Konfrontation durch Kooperation ersetzt und diese bunte, freundliche Weltzivilisation sich einfach ohne weiteres Zutun ergeben werde. Dass es keiner intellektuell anstrengenden Argumentationen mehr bedürfe als vielmehr gelungenem Marketings.

Welch ein Irrtum. Längst schon werden Grundwerte des Westens gegen ihn ins Feld geführt, wird der Universalismus als (post)koloniales Projekt verleumdet, wird eine regelbasierte globale Ordnung als perfides Instrument westlicher Vorherrschaft gebrandmarkt, wird die parlamentarische Demokratie als abgehobenes Elitenprojekt dargestellt. Und alles das wird nicht etwa nur von außen in den Westen hineingetragen, es kommt auch aus seinem Innersten. Von links bis rechts wird die westliche Zivilisation nicht nur radikal in Frage gestellt, sie wird zusehend von einer absurd scheinenden Koalition, die von Corbyn und Melenchon über Orban und Kickl bis hin zu Trump reicht, bis aufs Äußerste bekämpft.

Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine und dem – anhaltenden – Terror der Hamas gegen Israel erfährt diese Entwicklung nun eine Beschleunigung. Innerhalb der westlichen Gesellschaften brechen bislang undenkbare, in ihrer Vehemenz unerwartet heftige Konflikte auf. Einerlei, ob es die Liebe und Treue der extremen Rechten (und vieler Linker) zur Herrschaft Putins oder die Liebe und Treue der extremen Linken (und vieler Rechter) zur islamistischen Hamas ist, beides wendet sich explizit und unumwunden gegen den Westen, gegen Europa.

Dem gilt es sich zu stellen und die Chance mit Lust und Verve und Lebensfreude zu nutzen, Werte, Prinzipien und Ziele der westlichen Zivilisation zu beleben, zu leben, sie wo immer notwendig weiterzuentwickeln und zu stärken und auch damit Israel und der Ukraine tatkräftig zur Seite zu stehen. Konsequent und robust. Es geht um viel. Es geht um alles. (fksk, 19.11.23)

Woche 10 – Europäische Standortbestimmung

Es ist ein Bild, das man nicht so leicht vergisst. Unter all den tausenden Demonstranten, die in Tiflis gegen das „Fremde Agenten“-Gesetz auf die Straße gehen, ist diese eine Frau, die das Sternenbanner der EU schwenkt. Bis der Strahl des Wasserwerfers sie trifft und zurückdrängt. Aber sie bleibt nicht alleine, ein Mann stärkt ihr den Rücken, gemeinsam stemmen sie sich gegen den nächsten Strahl, werden abermals zurückgedrängt, bis immer mehr Menschen sich um die Frau mit dem Sternenbanner scharen und gemeinsam vordrängen.

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Die Regierung in Georgien hat den Gesetzesentwurf, der sich am russischen Vorbild orientierte, zurückgezogen. Das Regime in Moskau klagt, der Westen inszeniere in der Ukraine die nächste Farbenrevolution. Begleitet wird der Vorwurf von der kaum verhohlenen Drohung einer Intervention.

Währenddessen hört der Widerstand gegen das Mullah Regime in Iran nicht und nicht auf. Es gibt Demonstrationen, es gibt tausende Akte des Ungehorsams, es schaffen die Kleriker und ihre Schergen es nicht, das Land in Friedhofsruhe zu stürzen. Und in der Ukraine wird immer noch um Bakhmut gekämpft. Was als Demonstration russischer Macht gedacht war und binnen Tagen hätte erledigt sein sollen, ist dank des ukrainischen Widerstands zu einem Krieg geworden, der sogar das Auseinanderbrechen Russlands in den Bereich des Möglichen rückt.

Das alles sorgt für Nervosität. In Russland wie auch andernorts. Es treffen, auf Initiative Chinas, einander saudi-arabische und iranische Unterhändler, sie reden miteinander, sie entdecken gemeinsame Interessen. Im Angesicht einer möglichen demokratischen Revolution in Iran finden sunnitische und schiitische Hardliner schnell zu einer gemeinsamen Basis. Kein Wunder. China wiederum versichert Russland seiner Solidarität und wirft den USA vor, eine aggressive Politik zu verfolgen.

Es ist bemerkenswert. Vor drei Jahren erst wurden die Stärken der autoritären und diktatorischen Regime im Vergleich zu den demokratischen Gesellschaften hervorgehoben, besprochen, von manchen offensiv bewundert und als Auftakt des unweigerlichen Niedergangs des Westens interpretiert. Und jetzt das. Da nehmen ein Land und seine Menschen einen Krieg auf sich, um ihre mühsam erworbenen demokratischen Errungenschaften gegen einen Aggressor zu verteidigen. Da gehen in Iran Hunderttausende wieder und wieder und wieder auf die Straße, um für Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung und Menschenwürde einzustehen, auch mit ihren Leben und ihrer Gesundheit. Da strömen Tausende in Georgien auf die Plätze und Straßen der Hauptstadt, um einen Angriff auf ihr demokratisches System abzuwehren. Und in Belarus ringen immer noch Menschen allen Verfolgungen und Strafen zum Trotz darum, ein demokratisches Gemeinwesen zu erlangen.

Der Siegeszug des autoritären Staates, er kommt doch nicht so recht in Schwung. Im Gegenteil. Eine freie Ukraine stärkt die Opposition in Belarus und strahlt als Gegenentwurf zum Moskauer Modell bis tief nach Russland. Ein gefestigt demokratisches Georgien macht Russland als Ordnungsmacht im Kaukasus obsolet. Und ein demokratischer Iran stellt die Verhältnisse im Nahen Osten auf den Kopf, als die Religion als Machtfaktor entfiele. Im Grunde also müssten allen voran die europäischen Staaten und die Union alles tun, diese Bewegungen zu unterstützen. Und sei es nur, dass ihnen mehr Öffentlichkeit in Europa und damit in der Welt zuteil wird.

Hier nun hakt es. Europa unterstützt die Ukraine mit Waffensystemen, Munition und Ausbildung, mit humanitärer Hilfe und mit Geld. Vor allem aber steht Europa geeint gegen die russische Aggression. Das darf nicht gering geschätzt werden.

Geht es hingegen um Belarus, um Georgien, um Iran wird Europa leise. Sehr leise und wendet sich anderen Themen zu. Ganz so, als wüsste Europa mit all der Veränderung in seiner unmittelbaren Nachbarschaft nichts anzufangen.

Es braucht keine Intervention der EU, es braucht auch keine gutgemeinten Ratschläge, keine Bevormundung, kein Besserwissen, das von Europa aus an die Menschen in Iran, Georgien, Belarus und der Ukraine gerichtet wird. Aber es braucht die Aufmerksamkeit, die Rezeption dessen, was geschieht. Zu wissen, dass man nicht alleine gegen ein Regime steht, dass vielmehr die Augen der Welt auf eine Bewegung und ihre Menschen gerichtet sind, dass ihr Tun und Handeln ebenso gesehen und registriert werden wie das der Regime, gegen die sie sich wenden, ist essenziell.

Es bedarf dazu einer europäischen Standortbestimmung und klarer, unmissverständlicher Positionen gegenüber autoritären Regimen. Bei aller Diplomatie, bei aller Bereitschaft, strittige Punkte in Gesprächen zu behandeln, ist Eindeutigkeit unverzichtbar. Europa kann und darf seine Grundwerte der Menschenrechte und Menschenwürde nicht länger je nach Opportunität situationselastisch interpretieren. Das höhlt sie aus, entwertet sie und macht sie zur billigen Verhandlungsmasse.

Der Europäischen Union öffnet sich ein Fenster, sich selbst und ihre Beziehungen zu ihren Nachbarn substanziell neu zu definieren. Nach außen, indem die Union und ihre Mitgliedstaaten unmissverständlich für Grundrechte und -werte einstehen. Auch wenn das manchen Geschäftsbeziehungen nicht unbedingt zuträglich ist. Vor allem aber nach innen, indem Demokratie und die Werte der demokratischen Gesellschaften bewusst in aller Konsequenz gelebt werden. Das ist nicht immer einfach. Aber es ist grundnotwendig – auch gegenüber den Menschen in Iran, Georgien, Belarus und der Ukraine, die dafür ihre Leben einsetzen. (fksk, 12.03.23)

Woche 09 – Ein endloser Krieg

Russlands Krieg in der Ukraine geht in sein zweites Jahr. Während alle Welt überlegt und diskutiert, wann, wie und unter welchen Bedingungen ein Ende dieses Kriegs möglich sei, formuliert der russische Soziologe und Philosoph Grigory Yudin in einem Medzua-Interview, dass Putin einen „ewigen“ Krieg kämpft, präziser gesagt, kämpfen lässt: „Dieser Krieg ist jetzt für immer. Er hat keine Ziele, die erreicht werden können und die zu seinem Ende führen. Er dauert an, weil (in Putins Vorstellungswelt) sie die Feinde sind, die uns und die wir töten wollen. Für Putin ist das ein existenzieller Zusammenstoß mit einem Feind, der ihn zerstören will.“

©Anton Maksimov/unsplash.com

Er fährt fort: „Man darf sich keine Illusionen machen: Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg nicht enden. Er wird vielmehr ausgeweitet. Die Masse der russischen Armee wächst, die Wirtschaft wird auf die Rüstungsproduktion ausgerichtet und Bildung wird zu einem Werkzeug der Propaganda und Kriegsvorbereitung. Sie bereiten das Land auf einen langen und schwierigen Krieg vor.“

Yudin belässt es nicht mit dieser einen Feststellung. In dem Gespräch mit Margarita Liutova, geht er tiefer. Es sind nicht nur Putin und sein unmittelbares Umfeld, die Russland in einem dauernden Konflikt mit dem Rest der Welt und hier in erster Linie mit den USA und dem Westen wähnen, es ist tatsächlich ein Gutteil der russischen Bevölkerung, die ebendieses Sentiment teilt.

In seinen Aussagen trifft sich Yugin mit Timothy Snyder, der in seinem Buch „Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika“ Putin als Vertreter der „Ewigkeitspolitik“ beschreibt. Wobei der Ewigkeitspolitiker „die Nation ins Zentrum des Narrativs eines immer wiederkehrenden Opfers“ rückt. Snyder fährt fort: „Es gibt keine Zeitlinie mehr, die in die Zukunft führt, sondern einen Kreis, der endlos dieselben Bedrohungen der Vergangenheit wiederholt“(1). Am 23. Jänner 2012 publiziert Putin einen Artikel, in dem er, fasst Snyder zusammen, „Russland nicht als Staat, sondern als spirituellen Zustand“ beschreibt. Damit wird Russland gleichsam grenzenlos, womit sich Putin das Recht nimmt, alle Menschen, die „Teil der russischen Zivilisation“ – die Putin definiert – sind, für Russland zu beanspruchen. Zum Beispiel die Ukrainer (2).

Yugin bestätigt Snyder: „Sein [Putins] Weltbild kennt keine Grenzen. Diese Devise ist praktisch zur offiziellen Linie geworden: Russland endet nirgendwo. Das ist die Standarddefinition eines Imperiums, als ein Imperium keine Grenzen anerkennt.“ In aller Konsequenz.

Damit nicht genug. Was immer passiert, zumal an Rückschlägen, fügt sich in dieses Weltbild des ewigen Kampfs. Die Ukraine widersteht und der Westen unterstützt sie? Ein Beleg dafür, dass die Behauptung, die Ukraine sei nichts anderes als ein antirussisches Konstrukt der Nato, stimme. Der Westen verhängt Sanktionen? Ein Beweis dafür, dass Russland wirtschaftlich zerstört werden soll. In der Vollversammlung der Vereinten Nationen stimmen 141 Staaten für den Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine? Das Zeugnis dafür, dass alle Welt sich gegen Russland und seine einzigartige Zivilisation verschworen hat; dafür, dass es sich um einen existenziellen Konflikt handelt.

Einen, der keinen Kompromiss kennt. Nur Sieg oder Niederlage.

Für den Westen bedeutet das, die innere Logik und Rationalität des Putinschen Weltbilds endlich anzuerkennen und sie in das eigene strategische Denken als reale und effektive Größen einfließen zu lassen. Zu lange haben die Hoffnung und der Glaube, Putin werde letztlich so logisch und rational handeln, wie der Westen denkt, dominiert. Teils dominiert die Hoffnung immer noch, wenn die Berücksichtigung russischer Sicherheitsansprüche eingefordert wird, um einer Übereinkunft den Boden zu bereiten. Für das russische Regime in seiner aktuellen Verfasstheit wäre dies nichts weiter als ein Etappensieg, um sofort den nächsten Konflikt vorzubereiten, die nächsten territorialen und imperialen Ansprüche anzumelden und einzufordern. So, wie das spätestens seit dem russischen Angriff auf die territoriale Integrität Georgiens im August 2008 Usus ist. Das meint nun nicht, dass der Westen die Ewigkeitspolitik für sich übernimmt, und schon gar nicht, dass man sich ihrer Logik beugt, wohl aber, dass man sich ihrer Mechanismen und ihrer Auswirkungen bewusst wird; dass man ihrer Realität ins Auge blickt.

Das ist das Fundament, eine stringente Strategie und konsequente Politik zu formulieren, die Russlands „ewigem Krieg“ entgegenwirkt und ihn in aller Konsequenz scheitern lässt. Essentiell ist es dafür, dass allen voran die Europäische Union daran arbeitet, eine robuste europäische Friedensordnung und Sicherheitsstruktur für die Zeit danach zu entwickeln. Darin liegt mittel- und langfristig die Stärke der Union: Indem sie ein Zukunftsbild entwerfen kann, an dem sie arbeitet, das greifbar und in seinen Auswirkungen für die Menschen spürbar wird, verfügt sie über einen realen und erstrebenswerten Vorteil gegenüber dem ununterbrochen wiederkehrenden Opfergang von Putins Krieg.

Der lässt sich nur durch Konsequenz, nicht durch Kompromisse beenden. (fksk, 05.03.23)

 

(1) Snyder: „Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika“, CH Beck, 2018, Seite 16

(2) ebenda Seite 69

Woche 08 – Russlands Krieg, Europas Neubeginn

Woche 52. US-Präsident Biden besucht Kiyv. Putin besucht ein Stadion in Moskau. In Wien beruft Neos zum Jahrestag Russlands Invasion eine Sondersitzung des Nationalrats ein. In Berlin demonstrieren 15.000 mit Wagenknecht und Schwarzer vor dem Brandenburger Tor gegen Waffenlieferungen an die Verteidiger der freien Ukraine. Eine Woche zuvor hat Ungarns Premier Orban in seiner Rede an die Nation Wagenknecht und Schwarzer inhaltlich vorweggenommen.

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Der 24. Februar 2022 bezeichnet ein einschneidendes Datum in der europäischen Geschichte. Das, wovor man die Augen geschlossen hat, wovon man hoffte, es würde einfach nicht eintreten, ist Realität geworden: Krieg mitten in Europa. Krieg zu Wiedererrichtung eines Imperiums. Krieg gegen die internationale Rechtsordnung, gegen die europäische Friedensordnung, gegen das Völkerrecht.

In der Ukraine bedeutet das ganz konkret Vergewaltigungen, Massaker, Folter und Brandschatzung durch russische Soldaten, den organisierten Raub von Kindern, Getreide und Kulturgütern, die Zerstörung aller Hinweise auf ukrainisches Geistesleben. Es ist ein Vernichtungskrieg, der da vor den Augen der Weltöffentlichkeit gegen die Ukraine geführt wird.

Es ist aber auch die Weltöffentlichkeit, die nicht so reagiert, wie die russische Führung rund um Putin das gedacht haben muss. Der Angriff am 24. Februar und der erfolgreiche Widerstand der Ukrainer bedingt ein Umdenken. Von einer Zeitenwende spricht Deutschlands Kanzler Scholz wenige Tage nach Beginn der Invasion. Inzwischen ist Deutschland nach den USA und Großbritannien der drittgrößte Lieferant von Waffen und Waffensystemen an die ukrainische Armee. Wobei fast jeder Lieferung, jeder Festlegung eine schmerzhaft lange Debatte in Deutschland vorausgeht. Die Zeitenwende ist ein langwieriger Prozess, mit einem klaren Ost-West-Gefälle.

Da sind Estland, Lettland und Litauen sowie Polen, die seit Jahr und Tag vor russischen Expansionsgelüsten gewarnt haben – und vom Rest der Europäer im besten Fall als etwas lästig empfunden wurden. Da sind die Länder ganz im Westen wie Frankreich, Spanien und Portugal, denen der Krieg immer noch ferner erscheint als ihren östlichen Nachbarn. Und da sind dann auch noch Länder die Länder in der Mitte, etwa Deutschland, Österreich und Ungarn, die jedes für sich eine spezielle Rolle spielen, die jedes auf seine Art tiefer in diesen Krieg verstrickt sind als gemeinhin sichtbar.

Zum Beispiel Deutschland. Die geopolitische Verflechtung mit Russland reicht weit zurück. Vor genau 101 Jahren führt die Rolle beider Staaten als Außenseiter im europäischen Konzert zum Pakt von Rapallo, der auf wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit hin abzielt. Die junge Sowjetunion wird zum Handelspartner Europas potenziell stärkster Volkswirtschaft. Deutschland wiederum kann im Osten, fernab der Augen Frankreichs und Großbritanniens, seine Truppen ausbilden und mit Waffensystemen vertraut machen, die ihm verboten sind. Nur 17 Jahre später schließen Hitlerdeutschland und Stalinrussland jenen Pakt, der den Zweiten Weltkrieg einläutet, Polen einmal mehr teilt und der Vernichtung durch beide Regime freigibt. Bis Nazideutschland die Sowjetunion überfällt und das heutige Belarus, das Baltikum, die Ukraine sowie die westlichen Regionen Russlands in europäische Killing Fields verwandelt. Wobei die Kumpanei der beiden Regime bis zum Schluss über ihre Gegnerschaft triumphiert. Den Warschauer Aufstand 1944 schlägt die Wehrmacht ungestört von der Roten Armee nieder, die nur kurz vor der polnischen Hauptstadt haltgemacht hat – und darauf wartet, dass die Deutschen ihr Geschäft besorgen, die Vernichtung des polnischen Widerstands. Partner in crime.

Nein, das ist nicht die Basis, auf der das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau heute maßgeblich aufbaut. Aber diese unausgesprochene, subkutane Ebene spielt immer noch in das besondere Verhältnis zwischen Deutschland und Russland hinein und erklärt wenigstens zum Teil das deutsche Streben, die russischen Bedürfnisse und Befindlichkeiten über jene seiner östlichen Nachbarn zu stellen. Ziehen Wagenknecht und Schwarzer mit dem ehemaligen General Vad und dem einstigen Star der deutschen Sozialdemokratie, Lafontaine, vor das Brandenburger Tor, dann manifestiert sich in ihnen dieses Element, das niemals gegen, dafür immer mit Russland arbeiten will. Eine krude Mischung aus rückwärtsgewandtem Romantizismus und Verehrung brutal zur Schau gestellter Macht.

Zum Beispiel Österreich. Bei jenem demaskierenden Auftritt der Herren Fischer und Leitl mit Putin im Festsaal der Wiener Wirtschaftskammer 2014, ist es Leitl der mit Blick auf die Ukraine darauf hinweist, dass 100 Jahre zuvor Lemberg/Lviv als Teil des Kronlandes Galizien eine altösterreichische Metropole war. Putin gluckst und meint, er fürchte sich, vor dem was da nun kommen mag, woraufhin Fischer ihm lachend die Schultern streichelt – unter uns alten Imperien, so kann die Geste gelesen werden, ist ein wenig Spaß erlaubt. Verständnis für imperiale Nostalgie aber ist garantiert.

Denn es verbindet die kleine Republik ein seltsames Verhältnis zur dem einstigen habsburgischen Österreich. Gerne schmückt man sich mit allerlei k.k-Glitter, mit Lipizzanern, Sisi-Kitsch und monarchischem Gepränge. Dem Rest schenkt man weniger Aufmerksamkeit, dem vielsprachigen Reichsrat, der multinationalen Armee, dem Bemühen, das europäische Vielvölkerreich entgegen aller seiner internen Konflikte in das 20. Jahrhundert zu führen (ein Versuch, der damals an Borniertheit und althergebrachten Ehrvorstellungen scheiterte). Nichts schmeichelt der Seele Kleinösterreichs mehr, als wenn man ihr imperiale Größe und Weltgeltung bescheinigt. In der Musik. Im Theater. In Kunst, Kultur und Skifahren. Es kennt die kleine Republik den Phantomschmerz eines verschwundenen Imperiums. Und es war wieder und wieder Putins Russland, das es verstanden hat, diesen speziellen Ton zu treffen, der österreichische Kanzler (als die einzigen EU-Vertreter) zum Wirtschaftsforum in St. Petersburg lockt; der österreichische Außenministerinnen tanzen und knicksen lässt; der das Land einen Hauch einstiger Größe wahrnehmen lässt. Glanz und Gloria in Zuckerguss. Und üppige Geschäfte dazu.

Zum Beispiel Ungarn. Nun wäre Ungarn eigentlich jenes Land, welches historisch am wenigsten mit Russland verbindet, wenigstens nicht im Positiven. Da bittet der junge Kaiser seinen Partner den Zaren vor 175 Jahren um Truppen, die ungarische Revolution niederzuschlagen. Da kommen die russischen Truppen 1956 wieder und schlagen wieder eine Revolution nieder. Bis sie ein junger Mann 1989 in einer aufsehenerregenden Rede auffordert, das Land endlich zu verlassen. Der Abzug der Roten Armee ist auch ein Erfolg des jungen Orban, der damit seine politische Karriere startet. Doch wo die Österreicher mit zuckerglasierter Nostalgie auf die Habsburgermonarchie zurückblicken, fühlt Orban den Schmerz des Verlusts. Der Friedensvertrag von Trianon, 1920 nach den Verträgen von Versailles und St. Germain oktroyiert und nicht verhandelt, reduziert Ungarn auf seinen ethnisch homogenen Kern. Dass in allen seinen Nachbarländern ungarische Minderheiten leben, empfindet ein großer Teil der Ungarn bis heute als ungerecht. Die Karten, auf denen Ungarn in den Grenzen von 1918 dargestellt wird, sind weit verbreitet. Sie sind ein politisches Statement. Es ist der Schmerz um die einstige Dominanz, das Gefühl, vom Westen, von aller Welt betrogen worden zu sein und im Grunde genommen alleine zu stehen. Darin versteht Orban Putin und fühlt sich ihm mehr verbunden als den westlichen Werten, die aus seiner Sicht das wahre Ungarn bedrohen. Eine Partnerschaft in Ablehnung.

Es sind indes immer wieder Schockereignisse, die alte Bindungen und Einstellungen in Frage stellen, in ihrer Wirkmacht abschleifen und langsam verschwinden lassen. Der russische Angriff auf die Ukraine bewirkt genau das. In Deutschland, wo der Russlandromantizismus der Realität nicht mehr standhält und die Politik der letzten 20 Jahre gegenüber Moskau einer kritischen Revision unterzogen wird. Wagenknecht und Schwarzer sind nicht die Mehrheit, selbst wenn sie es zu sein behaupten.

In Österreich wiederum ist die Debatte über das Selbstverständnis der Republik und ihrer Neutralität nicht mehr einzufangen, wenngleich Kanzler Nehammer, artig assistiert von der Sozialdemokratin Rendi-Wagner, das versucht. Es sind die liberalen Neos und, etwas zurückhaltender, die Grünen, die unterstützt und begleitet von Initiativen wie unseresicherheit.org und immer vernehmbareren Stimmen aus der Gesellschaft die Ausrichtung der Republik hinterfragen und diskutieren. Das ist tatsächlich neu und im Grunde überfällig.

Indem Russland mit seiner Invasion die geltende Friedensordnung in Europa zu zerstören sucht, hat es eine Dynamik angestoßen, die seine Instrumentarien der subtilen Macht, den Romantizismus, die Nostalgie nach imperialen Glanz, zusehends stumpf werden lässt. Eine Dynamik, die nicht nur in Deutschland und Österreich (über kurz oder lang auch in Ungarn) zu gravierenden Veränderungen im Selbstbild führen wird, die zudem eine geopolitische Neuausrichtung der gesamten Union zur Folge haben wird.

Das war nicht Putins Intention. (fksk. 26.02.23)

Woche 07 – Nehammers Flucht aus der Verantwortung

Russlands Krieg geht in seiner 51. Woche mit verstärkten Angriffen auf breiter Front und verlustreichen Kämpfen rund um Vuhledar und Bakhmut, mit erneutem Raketenbeschuss ziviler und kritischer Infrastruktur in der Ukraine einher. Den Vorwurf, 6.000 ukrainische Kinder in Umerziehungslager nach Russland deportiert zu haben, weist die Regierung in Moskau zurück. Im Rahmen eines Putin-Interviews dankt eine Journalistin ihrem Präsidenten für die Möglichkeit, einen 15jährigen aus Mariupol adoptiert haben zu können. In russischen TV-Shows erstrecken sich die Ambitionen mittlerweile weit gen Westen, die DDR solle als eine Art russischen Territoriums wiederhergestellt werden. Unterdessen sind dort im Westen Exponenten von ganz rechts und ganz links unverdrossen von den lauteren Absichten Putins überzeugt und fordern also sofortige Verhandlungen ein.

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Um Versöhnung müht sich auch Österreichs Kanzler Nehammer. Konkret um die Aufarbeitung der Covidjahre. Versöhnen will er, Verletzungen heilen, die Lager wieder zusammenführen. Darin wohl sieht er seine Rolle bis zu den Wahlen im Jahr 2024. Man darf davon ausgehen, dass es ihm damit auch ernst ist.

Weswegen es gilt, dem Kanzler ganz genau zuzuhören, wenn er davon spricht, dass im Zuge dieses Prozesses die Experten sich und ihre Entscheidungen erklären müssten. Wobei Nehammer das nicht im Konjunktiv formuliert, er setzt den Indikativ ein. Er gibt in bemerkenswerter Offenheit die Linie vor, wer seines Erachtens ursächlich an den Verwerfungen in der Gesellschaft Schuld hat und dafür Verantwortung trägt: Es sind die Experten, die Mediziner, Gesundheitsmanager, Komplexitätsforscher, es ist die Wissenschaft.

Die Politik, die Regierung, insbesondere der große Koalitionspartner trägt dafür keine Verantwortung. Folgt man der Aussage des Kanzlers, haben sie nur getreulich getan, was ihnen gesagt, um nicht zu sagen, aufgetragen wurde.

Das ist nichts weniger als die Bankrotterklärung eines Regierungschefs und Politikers.

Politik, die sich als nicht verantwortlich sieht, die davor zurückschreckt, für ihre Handlungen einzustehen, die das noch dazu mit der tiefsitzenden österreichischen Abneigung gegen alles, was aus dem Umkreis der universitären Forschung kommt, garniert, nimmt sich aus dem demokratischen Spiel. Mehr noch, sie diskreditiert nicht nur die Wissenschaft und beschädigt in einem Aufwaschen alle anderen politischen Akteure – sie legt Axt an die tragenden Säulen der Republik.

Nehammer steht damit nicht alleine. Die Flucht aus der Verantwortung ist bei vielen Vertretern der politischen Klasse Österreichs zu beobachten. Sie geben sich als von missgünstigen Umständen getrieben, bevormundet und ihres wichtigsten Daseinsgrundes, den Menschen Freude zu bereiten und sie vor den Fährnissen des Alltags und allen Zumutungen zu bewahren, beraubt. Von Experten oder Brüssel oder was es der extern waltenden Kräfte noch geben mag. Sie geben sich als ohnmächtige Opfer der herrschenden Umstände. Aktiv zu gestalten, kommt ihnen nicht in den Sinn.

Nach Gestaltung aber verlangt die Demokratie. Sie baut auf gesellschaftlicher Teilhabe auf und darauf, dass gewählte Vertreter über einen bestimmten Zeitraum Verantwortung übernehmen. Sie bedarf der Akteure, die sich, ihre Arbeit, ihr Streben, ihre Ziele, ihr Handeln und Tun den Menschen erklären, die dafür einstehen, bereit sind dafür zu streiten und die zu überzeugen suchen, die nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Und – die auch irren können.

Das alles macht die Demokratie bisweilen anstrengend und anspruchsvoll. Das macht sie gleichzeitig lebendig und einzigartig. Sie ist das einzige politische System, das den Irrtum als Faktor beherrschbar macht, da er im Zuge von Wahlen korrigiert werden kann. Sie ist ein lernendes System. Wenn man denn zu lernen bereit ist. Aus Entwicklungen, aus Erfolgen wie aus Fehlern.

Das freilich setzt Verantwortungsbewusstsein voraus. Sowie die Bereitschaft, Verantwortung tatsächlich zu übernehmen.

Suggerieren hingegen Politiker, zumal Regierungspolitiker, sie wären innerhalb eines demokratischen Systems nicht verantwortlich, so entziehen sie ihm sein wesentliches Element der Möglichkeit der Korrektur in Form der Abwahl der Verantwortungsträger. Sie stellen das demokratische System damit in letzter Konsequenz in Frage.

Daraus folgt ein schleichend anschwellender Vertrauensverlust der Wähler. Wo sie sich ihres Rechts, Verantwortung zuzuteilen und damit an der politischen Gestaltung teilzuhaben, beraubt sehen, ziehen sie für sich Schlüsse. Manche, indem sie sich zurückziehen und an den demokratischen Prozessen nicht mehr teilnehmen. Andere, indem sie sich den Rändern des politischen Spektrums zuwenden, jenen, die versprechen, dass mit ihnen alles anders wird, zumal das System. Denn, dieser Umstand ist dokumentiert, auch und gerade in der Demokratie erwarten die Menschen Führungsqualitäten.

Mithin nicht die Klage über die obwaltenden Umstände, nicht das Abschieben von Entscheidungen an andere, nicht das schlichte Verwalten und Organisieren des Staates und der Republik. Die Menschen wollen Antworten, auch solche, denen man nicht zustimmt, über die man diskutieren, streiten kann. Sie erwarten Eindeutigkeit, Klarheit, Kompetenz und – Verantwortungsbewusstsein.

Bezeichnet Nehammer nun sich und seine Regierungskollegen als „hörig“ gegenüber Experten und delegiert die Aufarbeitung an eine Kommission, anstatt das Parlament und die Öffentlichkeit aktiv darin einzubinden, so befeuert er die Entfremdung, der er doch eigentlich entgegentreten will. Dazu braucht es aber auch deutlich mehr als eine Rede über die Zukunft und etwas Marketing. Es braucht konkrete Handlungen und Tun, die Bereitschaft zu reden, zu argumentieren, sich der Kritik zu stellen, es braucht klare Positionen. Und es verlangt nach gelebter Verantwortung.

Die aber flieht der Kanzler. In aller Konsequenz. (fksk, 19.02.23)

Woche 06 – Ein Manifest und Abschiedsgruß

Woche 50 des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Die Wucht der Angriffe auf die ukrainischen Stellungen und Städte nimmt zu. Alles deutet darauf hin, dass die lang erwartete Offensive Russlands begonnen hat. Nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums sind die russischen Verluste mit mehr als 800 Mann pro Tag derzeit so hoch wie nie seit dem Überfall. Wie hoch jene der ukrainischen Seite sind, darüber liegen weder Zahlen noch Schätzungen vor. Söldnerführer Prigoschin betont unterdessen gebetsmühlenartig die Bedeutung der „Menschenmühle Bakhmut“ um die Ukraine „ausbluten“ zu lassen. Russland scheint bereit, dafür jeden Preis auch an eigenen Menschenleben zu zahlen. Unterdessen beginnt in Deutschland die Ausbildung ukrainischer Soldaten am Leoparden, die britische Regierung sichert der Ukraine die Lieferung neuer und reichweitenstärkerer Raketensysteme zu und mittels Videobotschaft rufen Frau Wagenknecht und Frau Schwarzer dazu auf, ihr neues Manifest zu unterzeichnen. Sie befürchten eine Rutschbahn in einen Atomkrieg, fordern Kanzler Scholz auf, den Frieden zu verhandeln und die Panzerlieferungen an die Ukraine zu stoppen.

©Brian Ho/unsplash.com

Es ist nicht das erste Manifest aus deutschen Landen. Und es ist auch nicht das erste, an dem Frau Schwarzer maßgeblich Anteil hat. Es sind diese Manifeste ein recht deutsche Angelegenheit.

In keinem anderen Land wird der Krieg in der Ukraine so intensiv diskutiert wie in Deutschland. Kaum ein Abend, an dem nicht irgendein Sender das Thema behandelt. Kaum ein Tag, an dem keine Kommentare zum Thema erscheinen. Wo immer Kanzler Scholz auftritt, den Schatten des Krieges wird er nicht los, so wenig wie Außenministerin Baerbock oder Verteidigungsminister Pistorius. Auf jeden Schritt, den Deutschland setzt, folgt sogleich die bange Frage, ob die Bundesrepublik damit direkt und unmittelbar Kriegspartei würde.

Alles das ist, aus der deutschen Geschichte heraus, durchaus zu verstehen (dass diese Debatte in Österreich so gar nicht stattfindet ist in gewisser Weise mindestens so irritierend). Es geht im Kern um die Interpretation der Aussage und des Versprechens „Nie wieder!“.

Bedeutet dieser Schluss, dass Deutschland sich niemals wieder in Kriege involvieren soll? Weder mit Soldaten noch mit Waffenlieferungen? Oder ist in dieser Aussage vielmehr die Aufforderung an Deutschland enthalten, alles zu unternehmen, damit es niemals mehr zur Herrschaft des Unrechts kommt? Mit allen Mitteln?

Seit mehr als 30 Jahren begleitet diese Auseinandersetzung die Berliner Republik. 1999 begründete der damalige Außenminister Fischer den umstrittenen Kosovoeinsatz der Bundeswehr eingedenk der Massaker von Srebrenica und Tuzla (1995) in Bosnien mit eben dieser Verpflichtung aus der deutschen Geschichte. Und gerade dieser Einsatz, der völkerrechtlich durch die Vereinten Nationen nicht gedeckt war, hätte wesentlich zur Klärung beitragen können. Dieses Momentum wurde nicht genutzt. Noch zu Zeiten der Regierung Schröder-Fischer wurde das Thema nicht mehr aufgegriffen, so wenig wie in den langen 16 Jahren der Kanzlerinnenschaft Merkels.

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Feburar 2022 aber steht die Frage wieder unübersehbar im Raum und sorgt für Streit nicht nur in deutschen Wohnzimmern und an deutschen Stammtischen. Den Offenen Briefen und Manifesten kommt dabei als Mittel der Kommunkation und Standortvergewisserung eine wichtige, eine zentrale Rolle zu.

Wenn Schwarzer und Wagenknecht hier nun Verhandlungen und einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine fordern, verweisen sie auf eine drohende Eskalation. Das ist das wiederkehrende Thema in Deutschland. Die Angst, dass Russland darin schon einen kriegerischen Akt sieht, auf den es mit Mitteln des Krieges reagiert. Mit Bomben auf Berlin, so wie sie in russischen TV-Shows immer wieder gefordert werden.

Im Verständnis von Schwarzer und Wagenknecht geht es darum, dem Aggressor keinen Widerstand entgegenzusetzen, oder wenigstens den Widerstand nicht zu unterstützen. Denn, so die beiden Damen, der Aggressor verfolge mit seiner Aggression legitime Ziele. Er stille sein Sicherheitsbedürfnis. Das habe die Ukraine zu akzeptieren und in Form von Territorialverlusten sowie dem Verlust ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit hinzunehmen. Es ist aus ihrer Sicht ein Friede, dessen Last die Ukraine zu tragen habe, besser als ein Andauern des Krieges. Nicht weil daraus ein tragfähiger Frieden entstünde, als einzig und allein des Endes der Kampfhandlungen wegen.

Weil dann der Krieg aus den Wohnzimmern der Deutschen verschwindet. Und mit ihm die tägliche Anklage gegen einen imperialistischen Aggressor namens Russland. Weil damit auch die Frage, wie man es mit dem „Nie wieder“ denn hält, verschwindet.

Es stellt dieser Krieg recht eigentlich die Welt auf den Kopf. Imperialismus, das ist etwas, was – zumal in Deutschland – über Jahrzehnte einzig den USA vorgeworfen wurde. Das Bild der Vereinigten Staaten als perfide Macht, die im Hintergrund die Fäden zieht, die friedliebenden Völker der Welt zu knechten, das sitzt tief in deutschen Landen und Gemütern. Das wurzelt in der NS-Zeit, das wurde in der DDR in Bausch und Bogen übernommen, das wurde in der westdeutschen Friedensbewegung mit Inbrunst vorgetragen.

Und nun ist es Russland, welches das Völkerrecht bricht und missachtet, dessen Soldaten und Söldner raubend, vergewaltigend, mordend und folternd einen Vernichtungskrieg führen und im Auftrag Putins das russische Imperium wiederzuerrichten versuchen. Die Antwort des Westens ist, bei allem Zögern, eindeutig. Es darf dieser Akt der Willkür und Gewalt nicht von Erfolg gekrönt sein.

Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen. Es muss ihn verlieren.

Hier nun kommt die Interpretation Fischers zum „Nie wieder“ zum Tragen. Zusehen und nichts zu tun, ist für Deutschland, ist für den Westen, keine vertretbare Alternative. Dafür stehen in der Bundesrepublik Außenministerin Baerbock, Wirtschaftsminister Habeck, die FDP-Abgeordnete Strack-Zimmermann, Verteidigungsminister Pistorius, der SPD-Abgeordnete Roth und der CDU-Mann Röttgen, um nur einige aus der politischen Klasse zu nennen. Und auch Kanzler Scholz.

Was sie neben ihrer Haltung ebenfalls auszeichnet, ist der Umstand, dass sie durch die Bank jünger sind als Frau Schwarzer. Sieht man von Frau Wagenknecht ab, so sind die Erstunterzeichner durchwegs ältere Jahrgänge. Jene, die von eben dieser Friedensbewegung geprägt wurden, die im Bonner Hofgarten demonstrierten, die US-Stützpunkte mit Sitzblockaden stillzulegen versuchten, die sich mit aller Kraft und aus tiefster Überzeugung gegen den Nato-Doppelbeschluss stellten (den der sozialdemokratische Kanzler Schmidt ersonnen und auf Schiene gesetzt hatte).

Mit diesem Manifest verteidigen sie einmal noch ihr Lebenswerk, ihre BRD-Welt und ihre Sicherheiten. So kann man ihn denn auch lesen, diesen Aufruf, als den verzweifelten Versuch der Alten sich in einer Welt, die sich neu sortiert, zu behaupten. Mit den Ansichten und den Rezepten von gestern. Es ist dieses Manifest ein Abschiedsgruß der Bonner Republik. Direkt aus dem Herzen der miefig-piefigen westdeutschen Provinz. (fksk, 12.02.23)

Woche 05 – Waldhäuslheimat

Woche 49 des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Während Putin in Wolgo- vulgo Stalingrad die Feier zum Sieg über das Ende der 6. deutschen Armee vor 80 Jahren nutzt, um Deutschland wegen seiner Panzerlieferungen zu drohen, tobt in und um Bakhmut unvermindert eine Schlacht, bei der die russische Seite Soldaten und Söldner Welle auf Welle gegen die ukrainischen Stellungen wirft und dabei horrende eigene Verluste an Menschenleben billigend in Kauf nimmt. Nach vorsichtigen Schätzungen aus den USA und Großbritannien hat die russische Armee mitsamt ihren Söldnertruppen bereits rund 200.000 Mann verloren. Weitere 300.000 Mann stehen in den besetzten Gebieten bereit, eine neue Offensive gegen die Ukraine durchzuführen, um Putins Traum vom wiedergewonnenen Imperium neuen Schwung zu verleihen.

© Geran de Klerk/unsplash.com

Währenddessen macht sich in Österreich ein Herr Waldhäusl Luft und erklärt Wiener Schülerinnen mit Migrationshintergrund vor laufenden TV-Kameras, wären sie nicht in Wien, wäre Wien wieder Wien. Herr Waldhäusl ist dank des Proporzes  „Asyllandesrat“ in Niederösterreich, FPÖ-Politiker, macht laut Landeshauptfrau Mikl-Leitner einen „ordentlichen Job“ und stammt aus dem nördlichen Zipfel des Waldviertels, von wo die Menschen abwandern. Nach Wien. Zum Beispiel.

Die Schülerinnen erfahren nun Solidarität von EU- und Verfassungsministerin Edtstadler über den Wiener Bürgermeister Ludwig bis hin zur liberalen Nationalratsabgeordneten Krisper, Nichtregierungsorganisationen und Medien. Es ist einer jener inzwischen rar gewordenen Momente, in denen jenseits der Rechtsaußen agierenden Freiheitlichen parteiübergreifend Konsens herrscht.

Es ist einer jener Momente, die die Republik seit 1986 gefühlt tausendmal er- und durchlebt hat, die einem eigenen Rhythmus und einer eigenen Struktur folgen, die ein Ritual darstellen, letztlich aber nichts ändern. Es sehen sich nur beide Seiten, die Waldhäusels dieses Landes und alle anderen, sich in ihrer Haltung bestätigt.

Dabei ist gerade diese Aussage, wonach Wien nicht mehr Wien sei, ein guter Ansatzpunkt, eine wichtige, eine überfällige Diskussion zu starten. Nicht nur über Wien, sondern über Österreich.

Die Frage ist, was ist Österreich? Jenes des Herrn aus dem nördlichen Niederösterreich? Oder jenes zum Beispiel der Wiener Nationalratsabgeordneten Krisper? Was ist, worin gründet die Identität der Republik und ihrer Menschen, was zeichnet sie aus?

Die gängigen Antworten von der Nation der Skifahrer über die Kulturgroßmacht bis hin zum Brückenbauer zwischen Ost und West beziehen sich auf ein Land und eine Gesellschaft, die beide heute so nicht mehr existieren. Sie waren, mit Einschränkungen, einmal durchaus richtig. In den 60er und 70er Jahren, mithin in einer Zeit, nach deren retrospektiver Übersichtlichkeit sich viele zurücksehnen.

Der Fall des Eisernen Vorhangs und der Beitritt zur Europäischen Union aber zeitigten massive Auswirkungen, als Österreich von einer Randlage, von der Sackgasse wieder in ein lebendiges Zentrum des Kontinents geriet. Mit allen Konsequenzen.

Allein, schon zur Volksabstimmung über den Beitritt zur EU wurde dem Wahlvolk ein ums andere Mal versichert, dass sich eigentlich und im Grunde gar nichts ändern würde. Das Schnitzel bliebe das Schnitzel, der Erdäpfelsalat Erdäpfelsalat und die Marmelade Marmelade. Oder so ähnlich. Schmecks.

Österreich hat sich in den letzten 30 Jahren grundlegend verändert. Die Republik von heute gleicht in vielen, zumal in wesentlichen Aspekten nicht mehr jener von damals. Wien ist zu einer wachsenden europäischen Metropole geworden, Oberösterreich zu einem Standort zukunftsorientierter Industrien, selbst das Agrarland Niederösterreich definiert sich heute mehr über Industrie und Gewerbe, über Forschung und Entwicklung denn über die Hektarerträge an Getreide. Österreich ist ein Einwanderungsland geworden. Allein in Wien werden mehr als 100 Sprachen als Muttersprachen gesprochen. In kaum einen anderen Land der Union leben mehr Menschen mit anderer Staatsangehörigkeit. Selbst wenn es immer wieder Probleme mit, vor allem jungen männlichen, Zuwanderern gibt, gelingt die Integration so schlecht nicht. Es gibt, grosso modo, keine No-go-Areas, keine Zustände wie in den Banlieues von Paris, keine Viertel, in die Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte sich nicht mehr trauen, wie es aus Berlin berichtet wird. Das ist eine Leistung der alteingesessenen Bevölkerung ebenso wie der hinzugekommenen. Eigentlich eine Erfolgsgeschichte.

Alles das ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was sich in knapp 30 Jahren verändert hat. Es hat sich viel verändert.

Sprechen Österreicher von und über Österreich, dann haben sie tendenziell immer das Land von vor mehr als 30 Jahren vor Augen.

Nicht nur weil die Waldhäusls sich nach einer Vergangenheit sehnen, die es selbst damals so nicht gegeben hat, sondern weil auch die Vertreter der anderen wesentlichen politischen Bewegungen lieber mit althergebrachten Versatzstücken liebäugeln, als den Änderungen und den damit verbundenen Konsequenzen ins Auge zu blicken.

Das aber ist hoch an der Zeit, es ist überfällig, längst überfällig. Denn der Wandel, die Veränderungen, sie sind manifest. Sie sind nicht zu übersehen und sie sind schon gar nicht rückgängig zu machen. Sie wirken sich auf alle, ausnahmslos alle Bereiche und Belange der Republik und ihrer Menschen aus. Diese Änderungen beim Namen zu nennen, etwa Österreich endlich als das anzuerkennen, was es ist, ein Einwanderungsland und damit eine Einwanderungsgesellschaft, fällt indes vielen Menschen, zumal Politikern, schwer. So wie auch Österreich als gestaltenden Teil, als initiatives Subjekt der Europäischen Union zu begreifen oder seine aktive Teilnahme einer europäischen und globalen Sicherheitsarchitektur (was Österreich allein schon durch seine Bundesheerkontingente vor allem in Bosnien-Herzegowina und in Kosovo unter Beweis stellt) unter Hinweis auf die trügerische Sicherheit der Neutralität nicht einmal diskutieren zu wollen.

Für all dieses beharrliche Negieren, zur Seite schauen, nicht einmal ignorieren, daran trägt nicht Waldhäusls Partei alleine Schuld, daran haben samt und sonders alle politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Kräfte Teil. Aus Bequemlichkeit.

Nur, bequem wird es nicht mehr. Die Debatte über die facettenreiche Identität Österreichs und was sie bedeutet, ist überfällig. Dann und erst dann wird es möglich, das Ritual zu durchbrechen. (fksk, 05.02.23)