Alice Schwarzer

Woche 06 – Ein Manifest und Abschiedsgruß

Woche 50 des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Die Wucht der Angriffe auf die ukrainischen Stellungen und Städte nimmt zu. Alles deutet darauf hin, dass die lang erwartete Offensive Russlands begonnen hat. Nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums sind die russischen Verluste mit mehr als 800 Mann pro Tag derzeit so hoch wie nie seit dem Überfall. Wie hoch jene der ukrainischen Seite sind, darüber liegen weder Zahlen noch Schätzungen vor. Söldnerführer Prigoschin betont unterdessen gebetsmühlenartig die Bedeutung der „Menschenmühle Bakhmut“ um die Ukraine „ausbluten“ zu lassen. Russland scheint bereit, dafür jeden Preis auch an eigenen Menschenleben zu zahlen. Unterdessen beginnt in Deutschland die Ausbildung ukrainischer Soldaten am Leoparden, die britische Regierung sichert der Ukraine die Lieferung neuer und reichweitenstärkerer Raketensysteme zu und mittels Videobotschaft rufen Frau Wagenknecht und Frau Schwarzer dazu auf, ihr neues Manifest zu unterzeichnen. Sie befürchten eine Rutschbahn in einen Atomkrieg, fordern Kanzler Scholz auf, den Frieden zu verhandeln und die Panzerlieferungen an die Ukraine zu stoppen.

©Brian Ho/unsplash.com

Es ist nicht das erste Manifest aus deutschen Landen. Und es ist auch nicht das erste, an dem Frau Schwarzer maßgeblich Anteil hat. Es sind diese Manifeste ein recht deutsche Angelegenheit.

In keinem anderen Land wird der Krieg in der Ukraine so intensiv diskutiert wie in Deutschland. Kaum ein Abend, an dem nicht irgendein Sender das Thema behandelt. Kaum ein Tag, an dem keine Kommentare zum Thema erscheinen. Wo immer Kanzler Scholz auftritt, den Schatten des Krieges wird er nicht los, so wenig wie Außenministerin Baerbock oder Verteidigungsminister Pistorius. Auf jeden Schritt, den Deutschland setzt, folgt sogleich die bange Frage, ob die Bundesrepublik damit direkt und unmittelbar Kriegspartei würde.

Alles das ist, aus der deutschen Geschichte heraus, durchaus zu verstehen (dass diese Debatte in Österreich so gar nicht stattfindet ist in gewisser Weise mindestens so irritierend). Es geht im Kern um die Interpretation der Aussage und des Versprechens „Nie wieder!“.

Bedeutet dieser Schluss, dass Deutschland sich niemals wieder in Kriege involvieren soll? Weder mit Soldaten noch mit Waffenlieferungen? Oder ist in dieser Aussage vielmehr die Aufforderung an Deutschland enthalten, alles zu unternehmen, damit es niemals mehr zur Herrschaft des Unrechts kommt? Mit allen Mitteln?

Seit mehr als 30 Jahren begleitet diese Auseinandersetzung die Berliner Republik. 1999 begründete der damalige Außenminister Fischer den umstrittenen Kosovoeinsatz der Bundeswehr eingedenk der Massaker von Srebrenica und Tuzla (1995) in Bosnien mit eben dieser Verpflichtung aus der deutschen Geschichte. Und gerade dieser Einsatz, der völkerrechtlich durch die Vereinten Nationen nicht gedeckt war, hätte wesentlich zur Klärung beitragen können. Dieses Momentum wurde nicht genutzt. Noch zu Zeiten der Regierung Schröder-Fischer wurde das Thema nicht mehr aufgegriffen, so wenig wie in den langen 16 Jahren der Kanzlerinnenschaft Merkels.

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Feburar 2022 aber steht die Frage wieder unübersehbar im Raum und sorgt für Streit nicht nur in deutschen Wohnzimmern und an deutschen Stammtischen. Den Offenen Briefen und Manifesten kommt dabei als Mittel der Kommunkation und Standortvergewisserung eine wichtige, eine zentrale Rolle zu.

Wenn Schwarzer und Wagenknecht hier nun Verhandlungen und einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine fordern, verweisen sie auf eine drohende Eskalation. Das ist das wiederkehrende Thema in Deutschland. Die Angst, dass Russland darin schon einen kriegerischen Akt sieht, auf den es mit Mitteln des Krieges reagiert. Mit Bomben auf Berlin, so wie sie in russischen TV-Shows immer wieder gefordert werden.

Im Verständnis von Schwarzer und Wagenknecht geht es darum, dem Aggressor keinen Widerstand entgegenzusetzen, oder wenigstens den Widerstand nicht zu unterstützen. Denn, so die beiden Damen, der Aggressor verfolge mit seiner Aggression legitime Ziele. Er stille sein Sicherheitsbedürfnis. Das habe die Ukraine zu akzeptieren und in Form von Territorialverlusten sowie dem Verlust ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit hinzunehmen. Es ist aus ihrer Sicht ein Friede, dessen Last die Ukraine zu tragen habe, besser als ein Andauern des Krieges. Nicht weil daraus ein tragfähiger Frieden entstünde, als einzig und allein des Endes der Kampfhandlungen wegen.

Weil dann der Krieg aus den Wohnzimmern der Deutschen verschwindet. Und mit ihm die tägliche Anklage gegen einen imperialistischen Aggressor namens Russland. Weil damit auch die Frage, wie man es mit dem „Nie wieder“ denn hält, verschwindet.

Es stellt dieser Krieg recht eigentlich die Welt auf den Kopf. Imperialismus, das ist etwas, was – zumal in Deutschland – über Jahrzehnte einzig den USA vorgeworfen wurde. Das Bild der Vereinigten Staaten als perfide Macht, die im Hintergrund die Fäden zieht, die friedliebenden Völker der Welt zu knechten, das sitzt tief in deutschen Landen und Gemütern. Das wurzelt in der NS-Zeit, das wurde in der DDR in Bausch und Bogen übernommen, das wurde in der westdeutschen Friedensbewegung mit Inbrunst vorgetragen.

Und nun ist es Russland, welches das Völkerrecht bricht und missachtet, dessen Soldaten und Söldner raubend, vergewaltigend, mordend und folternd einen Vernichtungskrieg führen und im Auftrag Putins das russische Imperium wiederzuerrichten versuchen. Die Antwort des Westens ist, bei allem Zögern, eindeutig. Es darf dieser Akt der Willkür und Gewalt nicht von Erfolg gekrönt sein.

Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen. Es muss ihn verlieren.

Hier nun kommt die Interpretation Fischers zum „Nie wieder“ zum Tragen. Zusehen und nichts zu tun, ist für Deutschland, ist für den Westen, keine vertretbare Alternative. Dafür stehen in der Bundesrepublik Außenministerin Baerbock, Wirtschaftsminister Habeck, die FDP-Abgeordnete Strack-Zimmermann, Verteidigungsminister Pistorius, der SPD-Abgeordnete Roth und der CDU-Mann Röttgen, um nur einige aus der politischen Klasse zu nennen. Und auch Kanzler Scholz.

Was sie neben ihrer Haltung ebenfalls auszeichnet, ist der Umstand, dass sie durch die Bank jünger sind als Frau Schwarzer. Sieht man von Frau Wagenknecht ab, so sind die Erstunterzeichner durchwegs ältere Jahrgänge. Jene, die von eben dieser Friedensbewegung geprägt wurden, die im Bonner Hofgarten demonstrierten, die US-Stützpunkte mit Sitzblockaden stillzulegen versuchten, die sich mit aller Kraft und aus tiefster Überzeugung gegen den Nato-Doppelbeschluss stellten (den der sozialdemokratische Kanzler Schmidt ersonnen und auf Schiene gesetzt hatte).

Mit diesem Manifest verteidigen sie einmal noch ihr Lebenswerk, ihre BRD-Welt und ihre Sicherheiten. So kann man ihn denn auch lesen, diesen Aufruf, als den verzweifelten Versuch der Alten sich in einer Welt, die sich neu sortiert, zu behaupten. Mit den Ansichten und den Rezepten von gestern. Es ist dieses Manifest ein Abschiedsgruß der Bonner Republik. Direkt aus dem Herzen der miefig-piefigen westdeutschen Provinz. (fksk, 12.02.23)

Woche 17 – 28 Prominente und die Logik der Eskalation

Woche neun. Aus dem russischen Belgorod werden mysteriöse Explosionen gemeldet, solche ereignen sich auch in der Region Transnistrien, was prompt Sorge auslöst, Moldawien könne in den Krieg hineingezogen werden. Ganz und gar nicht mysteriös ist der Raketenbeschuss Kiews durch Russland während des Besichs von UN-Generalsekretär Guterres. Und schlichtweg unverholen sind die Drohungen, die von Moskau aus in die Welt dringen. Das reicht von wiederholten Wink mit der nuklearen Option bis hin zu wüsten Beschimpfungen Kasachstans, das sich als doch nicht so treuer Vasall erweist.

© Chandler Cruttenden / unsplash.com

Man kann sagen, die Nervosität steigt auf allen Seiten. Die Ausweitung der Kampfzone, die bislang vermieden werden konnte, erscheint in dieser Woche ein Stück weit denkbarer als zuvor.

Also schreiben 28 prominente deutsche Persönlichkeiten ihrem Kanzler einen offenen Brief. Darin warnen sie vor der Möglichkeit eines Dritten Weltkriegs. Wohl benennen sie den Aggressor und das Opfer, sorgen sich indes, dass das Engagement des Westens Putin das Motiv liefert, im ganz großen Rahmen loszuschlagen.

Um das zu vermeiden, um Putin keinen Vorwand zu liefern, ersuchen Alice Schwarzer, Alexander Kluge, Reinhard Mey, Reinhard Merkel, Edgar Selge und Juli Zeh – um nur einige der Erstunterzeichner zu nennen –, ersuchen sie ihren Kanzler, der Ukraine keine schweren Waffen zu liefern. Sie bitten ihn dringend und dringlich zu seiner abwartenden, zurückhaltenden Position zurückzukehren und die Zeitenwende, die er im Bundestag beschworen hat, nicht zu weit zu treiben. Und, sie ersuchen ihn, „alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beiden Seiten akzeptieren können“.

Damit allein belassen sie es nicht. Sie wenden sich auch dem Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung zu und formulieren: „Dazu steht selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor in einem unerträglichen Missverhältnis“. Somit steht ein wiederholt gebrauchtes Argument im Raum, demzufolge der Kampf der Ukraine gegen Russland unverhältnismäßig sei und Frieden um beinahe jeden Preis die bessere Option.

Alice Schwarzer, Juli Zeh und Alexander Kluge sind sicherlich keine naiven „Putinversteher“, ihr Schreiben an Scholz ist von großer Sorge getragen. Um den Weltfrieden, um jedes einzelne Leben, welches in diesem Krieg ausgelöscht wird. Diese Sorge ist unter allen Umständen gerechtfertigt.

Aber.

Aber was ist der richtige Weg, mit einem Diktator umzugehen? Die Argumentation der 28 läuft letztlich auf eine Kapitulation der Ukraine hinaus, als Preis einem möglichen nuklearen Krieg zu entgehen. Mit der Draufgabe, dass der Westen dieses Ergebnis zähneknirschend akzeptiert. Womit Putins Rechnung aufgegangen wäre, wonach die westliche Staatengemeinschaft bereit ist, der Gewalt zu weichen. Und wonach die Drohung mit der nuklearen Option ausreicht, Ziele zu erreichen, die zuvor unerreichbar erschienen.

Der Kreml hat es wieder und wieder betont, gesagt, geschrieben, gesendet und der Welt ins Gesicht gesagt, dass Russland von Lissabon bis Wladiwostok die dominierende, die Hegemonialmacht sein will. Das kann und darf nicht weiter ausgeblendet werden. Es geht dem russischen Regime nicht nur um die Wiederherstellung von Russlands Glanz und Gloria, es geht um die Unterwerfung des verweichlichten, liberalen, dekadenten Westens.

Auftritt Tigran Keossajan, in Russland gilt er als Humorist. Verheiratet ist er mit der Direktorin des Senders RT, Margarita Simonjan, beide sind Teil des Establishments in Moskau, dem Kreml und seinem Hausherren auf das Engste verbunden. Keossajan, so berichtet die FAZ, hat nun zum verbalen Rundumschlag gegen Kasachstan ausgeholt.

Man erinnert sich, erst im Jänner stellten russische Truppen Ruhe und Ordnung im Nachbarstaat wieder her. Was aber tut das zentralasiatische Land? Es ergreift nach dem 24. Februar nicht Russlands Partei, es sucht vielmehr Distanz zu wahren, kündigt sogar an, Moskau bei der Umgehung von Sanktionen nicht zu helfen. Keossajan hat sich dieser Haltung angenommen, er spricht die Kasachen direkt an: „Es herrscht Krieg. Der Krieg zweier enormer, großer Ideen, zweier großer Länder. Und das zweite ist nicht die Ukraine, sondern Amerika und die Nato. Alle übrigen, besonders die Bruderländer, müssen sich für eine Seite entscheiden. Und wir müssen aufmerksam schauen, wer mit uns ist und wer nicht.“

Das ist die Perspektive Moskaus, dargebracht von einem Humoristen aus dem Zentrum der Macht.

Die 28 machen sich zu Recht Sorgen.

Olaf Scholz mag für sein zurückhaltendes Auftreten gute Gründe haben. In der Tat ist alle Politik rund um den Krieg in der Ukraine ein Drahtseilakt ohne Netz. Was sich aus den neun Wochen indes als erste Zwischenerkenntnis gewinnen lässt, ist der Umstand, dass es der unbedingte Widerstandswille der Ukraine und eine daraufhin weitgehend konsistente westliche Reaktion auf die russische Aggression sind, die Putin Grenzen aufzeigen und setzen. Die Lieferung schwerer Waffen trägt das ihre dazu bei, dass diese Limits nicht aufgeweicht werden. Das ist die Sprache, die Putin versteht. Der Westen muss lernen, sie ihrer zu bedienen – ohne gleich ihrer Logik ganz und gar anheim zu fallen.

Hierin liegt der Wert des Briefs der 28. Man mag ihrer Argumentation nicht folgen wollen, man mag sie schlichtweg für falsch und in ihren Folgen für katastrophal halten, aber sie zu hören und ihnen zuzuhören, das beschreibt exakt die Stärke des Westens, die ihn auszeichnet, die das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zu Putins Russland ist. Es ist die Vielstimmigkeit, die Fähigkeit und Bereitschaft zur Debatte, das grundlegende Recht auf eine eigene Meinung – auch wenn sie im Gegensatz zur Mehrheitsmeinung steht.

Insofern läuft der Vorwurf an die 28, sie besorgten das Geschäft Putins, ins Leere. Das Gegenteil ist wahr. Sie nötigen Politik und Gesellschaft einmal mehr, jede Handlung zu begründen, jeden Schritt zu überlegen, sich der Verantwortung zu stellen und sich der Konsequenzen bewusst zu sein. Sie verhindern, dass Putins Logik der Eskalation im Westen Fuß fasst und damit nach seinen Regeln gespielt und gehandelt wird. Dafür gilt den 28 Anerkennung. Auch wenn sie in ihrer Argumentation irren. (fksk, 30.04.22)