Prigoschin

Woche 25 – Ein Rubikonmoment

Er ist kein Julius Cäsar, der Herr Prigoschin. Der Feldherr setzte im Jahr 49 v. Chr. alles auf eine Karte, er wusste um die Unumkehrbarkeit seines Handelns, sowie er mit seinen Soldaten den Rubikon in Richtung Rom überschritten hatte. Von da an gab es nur noch Sieg oder Niederlage. Nichts dazwischen. Cäsar triumphierte.

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Prigoschin lässt seinen Trupp – es waren gerade einmal 5.000 seiner Söldner – rund 250 Kilometer vor Moskau umkehren. Er überschreitet die finale Grenze, die, nach der es eben nur noch Sieg oder Niederlage gibt, nicht. Stattdessen begibt er sich ins Exil nach Belarus, lässt seine Männer sowie wohl auch den Krieg gegen die Ukraine fürs Erste hinter sich und lässt die Welt rätseln, was das war an diesem letzten Juniwochenende des Jahres 2023.

Es war wohl eine Ouvertüre, ein Vorspiel, eine Ahnung dessen, was in Russland noch alles möglich ist, wenn der Krieg gegen die Ukraine weiterhin erfolglos bleibt, die Unzufriedenheit wächst und Glücksritter ihre Zeit gekommen sehen.

Von einem Zerfall Russlands ist seit mehr als einem Jahr immer wieder die Rede. Davon, dass, wenn das Zentrum zu schwach wird, einzelne Regionen nach der Selbstständigkeit und Unabhängigkeit streben könnten. Oder dass untereinander verfeindete Fraktionen den Kampf gegeneinander aufnehmen und Russland in einen Bürgerkrieg versinkt (das ist denn hörbar auch Putins Angst).

Diesmal hat das Zentrum der Macht die Oberhand behalten. Wenn es denn, worüber man nur spekulieren kann, Prigoschins Erwartung war, dass sich sich Einheiten der regulären Armee und der Sicherheitskräfte seinem Marsch auf Moskau anschließen würden, dann wurde er bitter enttäuscht. Der Trupp kam beeindruckend schnell voran, um Moskau zu nehmen aber war er zu klein. Genau betrachtet geriet er mit jedem Kilometer, den er in Richtung der Hauptstadt zurücklegte, mehr und mehr zu einem Selbstmordkommando.

An der Konsequenz konnten weder Putin noch Prigoschin irgendwelches Interesse haben. Nicht an einem Gemetzel mitten im heiligen Russland der eine, nicht am Abschlachten der eigenen Männer der andere. Also wählten sie via Lukaschenko einen Ausweg. Fürs erste.

Es ist zu erwarten, dass Putin innerhalb Russlands Armee und Sicherheitskräfte nach Sympathisanten Prigoschins durchkämmen lassen und eine Säuberungswelle initiieren wird. Die Zentralmacht wird danach streben, die Söldnertrupps an die Kandare zu nehmen und totale Kontrolle auszuüben. Das trifft sich mit Putins großer Erzählung, wonach sich Russland in einem ewigen Krieg gegen die Außenwelt befindet. So weit, so erwartbar.

Welche Rolle Prigoschin in Zukunft spielen wird, ob er überhaupt eine spielen wird, bleibt abzuwarten. Fürs erste hat er seine Haut gerettet. Ungeachtet dessen aber bleiben die Ineffizienzen in der russischen Planung und Umsetzung des Kriegs gegen die Ukraine bestehen. Sei es, dass es an Ausbildung mangelt, an Ausrüstung, an Unterstützung oder an guter Behandlung. Im Verein mit ausbleibenden Erfolgen gegen die Ukraine sorgt das auch innerhalb der regulären Armee für ein wachsendes Maß an Unzufriedenheit.

Insofern hat Prigoschin den Rubikon doch auch überschritten, er hat demonstriert, dass es möglich ist, zu rebellieren, den Konflikt mit Putin zu suchen. Und das mit wenigstens teilweise offener Unterstützung der zivilen Bevölkerung in Rostow am Don. Putins Albtraum, Bürgerkrieg und Untergang, ist an diesem Juniwochenende realistischer geworden.

Darauf muss sich auch Europa einstellen. (fksk, 26.06.23)

Woche 06 – Ein Manifest und Abschiedsgruß

Woche 50 des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Die Wucht der Angriffe auf die ukrainischen Stellungen und Städte nimmt zu. Alles deutet darauf hin, dass die lang erwartete Offensive Russlands begonnen hat. Nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums sind die russischen Verluste mit mehr als 800 Mann pro Tag derzeit so hoch wie nie seit dem Überfall. Wie hoch jene der ukrainischen Seite sind, darüber liegen weder Zahlen noch Schätzungen vor. Söldnerführer Prigoschin betont unterdessen gebetsmühlenartig die Bedeutung der „Menschenmühle Bakhmut“ um die Ukraine „ausbluten“ zu lassen. Russland scheint bereit, dafür jeden Preis auch an eigenen Menschenleben zu zahlen. Unterdessen beginnt in Deutschland die Ausbildung ukrainischer Soldaten am Leoparden, die britische Regierung sichert der Ukraine die Lieferung neuer und reichweitenstärkerer Raketensysteme zu und mittels Videobotschaft rufen Frau Wagenknecht und Frau Schwarzer dazu auf, ihr neues Manifest zu unterzeichnen. Sie befürchten eine Rutschbahn in einen Atomkrieg, fordern Kanzler Scholz auf, den Frieden zu verhandeln und die Panzerlieferungen an die Ukraine zu stoppen.

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Es ist nicht das erste Manifest aus deutschen Landen. Und es ist auch nicht das erste, an dem Frau Schwarzer maßgeblich Anteil hat. Es sind diese Manifeste ein recht deutsche Angelegenheit.

In keinem anderen Land wird der Krieg in der Ukraine so intensiv diskutiert wie in Deutschland. Kaum ein Abend, an dem nicht irgendein Sender das Thema behandelt. Kaum ein Tag, an dem keine Kommentare zum Thema erscheinen. Wo immer Kanzler Scholz auftritt, den Schatten des Krieges wird er nicht los, so wenig wie Außenministerin Baerbock oder Verteidigungsminister Pistorius. Auf jeden Schritt, den Deutschland setzt, folgt sogleich die bange Frage, ob die Bundesrepublik damit direkt und unmittelbar Kriegspartei würde.

Alles das ist, aus der deutschen Geschichte heraus, durchaus zu verstehen (dass diese Debatte in Österreich so gar nicht stattfindet ist in gewisser Weise mindestens so irritierend). Es geht im Kern um die Interpretation der Aussage und des Versprechens „Nie wieder!“.

Bedeutet dieser Schluss, dass Deutschland sich niemals wieder in Kriege involvieren soll? Weder mit Soldaten noch mit Waffenlieferungen? Oder ist in dieser Aussage vielmehr die Aufforderung an Deutschland enthalten, alles zu unternehmen, damit es niemals mehr zur Herrschaft des Unrechts kommt? Mit allen Mitteln?

Seit mehr als 30 Jahren begleitet diese Auseinandersetzung die Berliner Republik. 1999 begründete der damalige Außenminister Fischer den umstrittenen Kosovoeinsatz der Bundeswehr eingedenk der Massaker von Srebrenica und Tuzla (1995) in Bosnien mit eben dieser Verpflichtung aus der deutschen Geschichte. Und gerade dieser Einsatz, der völkerrechtlich durch die Vereinten Nationen nicht gedeckt war, hätte wesentlich zur Klärung beitragen können. Dieses Momentum wurde nicht genutzt. Noch zu Zeiten der Regierung Schröder-Fischer wurde das Thema nicht mehr aufgegriffen, so wenig wie in den langen 16 Jahren der Kanzlerinnenschaft Merkels.

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Feburar 2022 aber steht die Frage wieder unübersehbar im Raum und sorgt für Streit nicht nur in deutschen Wohnzimmern und an deutschen Stammtischen. Den Offenen Briefen und Manifesten kommt dabei als Mittel der Kommunkation und Standortvergewisserung eine wichtige, eine zentrale Rolle zu.

Wenn Schwarzer und Wagenknecht hier nun Verhandlungen und einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine fordern, verweisen sie auf eine drohende Eskalation. Das ist das wiederkehrende Thema in Deutschland. Die Angst, dass Russland darin schon einen kriegerischen Akt sieht, auf den es mit Mitteln des Krieges reagiert. Mit Bomben auf Berlin, so wie sie in russischen TV-Shows immer wieder gefordert werden.

Im Verständnis von Schwarzer und Wagenknecht geht es darum, dem Aggressor keinen Widerstand entgegenzusetzen, oder wenigstens den Widerstand nicht zu unterstützen. Denn, so die beiden Damen, der Aggressor verfolge mit seiner Aggression legitime Ziele. Er stille sein Sicherheitsbedürfnis. Das habe die Ukraine zu akzeptieren und in Form von Territorialverlusten sowie dem Verlust ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit hinzunehmen. Es ist aus ihrer Sicht ein Friede, dessen Last die Ukraine zu tragen habe, besser als ein Andauern des Krieges. Nicht weil daraus ein tragfähiger Frieden entstünde, als einzig und allein des Endes der Kampfhandlungen wegen.

Weil dann der Krieg aus den Wohnzimmern der Deutschen verschwindet. Und mit ihm die tägliche Anklage gegen einen imperialistischen Aggressor namens Russland. Weil damit auch die Frage, wie man es mit dem „Nie wieder“ denn hält, verschwindet.

Es stellt dieser Krieg recht eigentlich die Welt auf den Kopf. Imperialismus, das ist etwas, was – zumal in Deutschland – über Jahrzehnte einzig den USA vorgeworfen wurde. Das Bild der Vereinigten Staaten als perfide Macht, die im Hintergrund die Fäden zieht, die friedliebenden Völker der Welt zu knechten, das sitzt tief in deutschen Landen und Gemütern. Das wurzelt in der NS-Zeit, das wurde in der DDR in Bausch und Bogen übernommen, das wurde in der westdeutschen Friedensbewegung mit Inbrunst vorgetragen.

Und nun ist es Russland, welches das Völkerrecht bricht und missachtet, dessen Soldaten und Söldner raubend, vergewaltigend, mordend und folternd einen Vernichtungskrieg führen und im Auftrag Putins das russische Imperium wiederzuerrichten versuchen. Die Antwort des Westens ist, bei allem Zögern, eindeutig. Es darf dieser Akt der Willkür und Gewalt nicht von Erfolg gekrönt sein.

Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen. Es muss ihn verlieren.

Hier nun kommt die Interpretation Fischers zum „Nie wieder“ zum Tragen. Zusehen und nichts zu tun, ist für Deutschland, ist für den Westen, keine vertretbare Alternative. Dafür stehen in der Bundesrepublik Außenministerin Baerbock, Wirtschaftsminister Habeck, die FDP-Abgeordnete Strack-Zimmermann, Verteidigungsminister Pistorius, der SPD-Abgeordnete Roth und der CDU-Mann Röttgen, um nur einige aus der politischen Klasse zu nennen. Und auch Kanzler Scholz.

Was sie neben ihrer Haltung ebenfalls auszeichnet, ist der Umstand, dass sie durch die Bank jünger sind als Frau Schwarzer. Sieht man von Frau Wagenknecht ab, so sind die Erstunterzeichner durchwegs ältere Jahrgänge. Jene, die von eben dieser Friedensbewegung geprägt wurden, die im Bonner Hofgarten demonstrierten, die US-Stützpunkte mit Sitzblockaden stillzulegen versuchten, die sich mit aller Kraft und aus tiefster Überzeugung gegen den Nato-Doppelbeschluss stellten (den der sozialdemokratische Kanzler Schmidt ersonnen und auf Schiene gesetzt hatte).

Mit diesem Manifest verteidigen sie einmal noch ihr Lebenswerk, ihre BRD-Welt und ihre Sicherheiten. So kann man ihn denn auch lesen, diesen Aufruf, als den verzweifelten Versuch der Alten sich in einer Welt, die sich neu sortiert, zu behaupten. Mit den Ansichten und den Rezepten von gestern. Es ist dieses Manifest ein Abschiedsgruß der Bonner Republik. Direkt aus dem Herzen der miefig-piefigen westdeutschen Provinz. (fksk, 12.02.23)