Bakhmut

Woche 07 – Nehammers Flucht aus der Verantwortung

Russlands Krieg geht in seiner 51. Woche mit verstärkten Angriffen auf breiter Front und verlustreichen Kämpfen rund um Vuhledar und Bakhmut, mit erneutem Raketenbeschuss ziviler und kritischer Infrastruktur in der Ukraine einher. Den Vorwurf, 6.000 ukrainische Kinder in Umerziehungslager nach Russland deportiert zu haben, weist die Regierung in Moskau zurück. Im Rahmen eines Putin-Interviews dankt eine Journalistin ihrem Präsidenten für die Möglichkeit, einen 15jährigen aus Mariupol adoptiert haben zu können. In russischen TV-Shows erstrecken sich die Ambitionen mittlerweile weit gen Westen, die DDR solle als eine Art russischen Territoriums wiederhergestellt werden. Unterdessen sind dort im Westen Exponenten von ganz rechts und ganz links unverdrossen von den lauteren Absichten Putins überzeugt und fordern also sofortige Verhandlungen ein.

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Um Versöhnung müht sich auch Österreichs Kanzler Nehammer. Konkret um die Aufarbeitung der Covidjahre. Versöhnen will er, Verletzungen heilen, die Lager wieder zusammenführen. Darin wohl sieht er seine Rolle bis zu den Wahlen im Jahr 2024. Man darf davon ausgehen, dass es ihm damit auch ernst ist.

Weswegen es gilt, dem Kanzler ganz genau zuzuhören, wenn er davon spricht, dass im Zuge dieses Prozesses die Experten sich und ihre Entscheidungen erklären müssten. Wobei Nehammer das nicht im Konjunktiv formuliert, er setzt den Indikativ ein. Er gibt in bemerkenswerter Offenheit die Linie vor, wer seines Erachtens ursächlich an den Verwerfungen in der Gesellschaft Schuld hat und dafür Verantwortung trägt: Es sind die Experten, die Mediziner, Gesundheitsmanager, Komplexitätsforscher, es ist die Wissenschaft.

Die Politik, die Regierung, insbesondere der große Koalitionspartner trägt dafür keine Verantwortung. Folgt man der Aussage des Kanzlers, haben sie nur getreulich getan, was ihnen gesagt, um nicht zu sagen, aufgetragen wurde.

Das ist nichts weniger als die Bankrotterklärung eines Regierungschefs und Politikers.

Politik, die sich als nicht verantwortlich sieht, die davor zurückschreckt, für ihre Handlungen einzustehen, die das noch dazu mit der tiefsitzenden österreichischen Abneigung gegen alles, was aus dem Umkreis der universitären Forschung kommt, garniert, nimmt sich aus dem demokratischen Spiel. Mehr noch, sie diskreditiert nicht nur die Wissenschaft und beschädigt in einem Aufwaschen alle anderen politischen Akteure – sie legt Axt an die tragenden Säulen der Republik.

Nehammer steht damit nicht alleine. Die Flucht aus der Verantwortung ist bei vielen Vertretern der politischen Klasse Österreichs zu beobachten. Sie geben sich als von missgünstigen Umständen getrieben, bevormundet und ihres wichtigsten Daseinsgrundes, den Menschen Freude zu bereiten und sie vor den Fährnissen des Alltags und allen Zumutungen zu bewahren, beraubt. Von Experten oder Brüssel oder was es der extern waltenden Kräfte noch geben mag. Sie geben sich als ohnmächtige Opfer der herrschenden Umstände. Aktiv zu gestalten, kommt ihnen nicht in den Sinn.

Nach Gestaltung aber verlangt die Demokratie. Sie baut auf gesellschaftlicher Teilhabe auf und darauf, dass gewählte Vertreter über einen bestimmten Zeitraum Verantwortung übernehmen. Sie bedarf der Akteure, die sich, ihre Arbeit, ihr Streben, ihre Ziele, ihr Handeln und Tun den Menschen erklären, die dafür einstehen, bereit sind dafür zu streiten und die zu überzeugen suchen, die nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Und – die auch irren können.

Das alles macht die Demokratie bisweilen anstrengend und anspruchsvoll. Das macht sie gleichzeitig lebendig und einzigartig. Sie ist das einzige politische System, das den Irrtum als Faktor beherrschbar macht, da er im Zuge von Wahlen korrigiert werden kann. Sie ist ein lernendes System. Wenn man denn zu lernen bereit ist. Aus Entwicklungen, aus Erfolgen wie aus Fehlern.

Das freilich setzt Verantwortungsbewusstsein voraus. Sowie die Bereitschaft, Verantwortung tatsächlich zu übernehmen.

Suggerieren hingegen Politiker, zumal Regierungspolitiker, sie wären innerhalb eines demokratischen Systems nicht verantwortlich, so entziehen sie ihm sein wesentliches Element der Möglichkeit der Korrektur in Form der Abwahl der Verantwortungsträger. Sie stellen das demokratische System damit in letzter Konsequenz in Frage.

Daraus folgt ein schleichend anschwellender Vertrauensverlust der Wähler. Wo sie sich ihres Rechts, Verantwortung zuzuteilen und damit an der politischen Gestaltung teilzuhaben, beraubt sehen, ziehen sie für sich Schlüsse. Manche, indem sie sich zurückziehen und an den demokratischen Prozessen nicht mehr teilnehmen. Andere, indem sie sich den Rändern des politischen Spektrums zuwenden, jenen, die versprechen, dass mit ihnen alles anders wird, zumal das System. Denn, dieser Umstand ist dokumentiert, auch und gerade in der Demokratie erwarten die Menschen Führungsqualitäten.

Mithin nicht die Klage über die obwaltenden Umstände, nicht das Abschieben von Entscheidungen an andere, nicht das schlichte Verwalten und Organisieren des Staates und der Republik. Die Menschen wollen Antworten, auch solche, denen man nicht zustimmt, über die man diskutieren, streiten kann. Sie erwarten Eindeutigkeit, Klarheit, Kompetenz und – Verantwortungsbewusstsein.

Bezeichnet Nehammer nun sich und seine Regierungskollegen als „hörig“ gegenüber Experten und delegiert die Aufarbeitung an eine Kommission, anstatt das Parlament und die Öffentlichkeit aktiv darin einzubinden, so befeuert er die Entfremdung, der er doch eigentlich entgegentreten will. Dazu braucht es aber auch deutlich mehr als eine Rede über die Zukunft und etwas Marketing. Es braucht konkrete Handlungen und Tun, die Bereitschaft zu reden, zu argumentieren, sich der Kritik zu stellen, es braucht klare Positionen. Und es verlangt nach gelebter Verantwortung.

Die aber flieht der Kanzler. In aller Konsequenz. (fksk, 19.02.23)

Woche 06 – Ein Manifest und Abschiedsgruß

Woche 50 des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Die Wucht der Angriffe auf die ukrainischen Stellungen und Städte nimmt zu. Alles deutet darauf hin, dass die lang erwartete Offensive Russlands begonnen hat. Nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums sind die russischen Verluste mit mehr als 800 Mann pro Tag derzeit so hoch wie nie seit dem Überfall. Wie hoch jene der ukrainischen Seite sind, darüber liegen weder Zahlen noch Schätzungen vor. Söldnerführer Prigoschin betont unterdessen gebetsmühlenartig die Bedeutung der „Menschenmühle Bakhmut“ um die Ukraine „ausbluten“ zu lassen. Russland scheint bereit, dafür jeden Preis auch an eigenen Menschenleben zu zahlen. Unterdessen beginnt in Deutschland die Ausbildung ukrainischer Soldaten am Leoparden, die britische Regierung sichert der Ukraine die Lieferung neuer und reichweitenstärkerer Raketensysteme zu und mittels Videobotschaft rufen Frau Wagenknecht und Frau Schwarzer dazu auf, ihr neues Manifest zu unterzeichnen. Sie befürchten eine Rutschbahn in einen Atomkrieg, fordern Kanzler Scholz auf, den Frieden zu verhandeln und die Panzerlieferungen an die Ukraine zu stoppen.

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Es ist nicht das erste Manifest aus deutschen Landen. Und es ist auch nicht das erste, an dem Frau Schwarzer maßgeblich Anteil hat. Es sind diese Manifeste ein recht deutsche Angelegenheit.

In keinem anderen Land wird der Krieg in der Ukraine so intensiv diskutiert wie in Deutschland. Kaum ein Abend, an dem nicht irgendein Sender das Thema behandelt. Kaum ein Tag, an dem keine Kommentare zum Thema erscheinen. Wo immer Kanzler Scholz auftritt, den Schatten des Krieges wird er nicht los, so wenig wie Außenministerin Baerbock oder Verteidigungsminister Pistorius. Auf jeden Schritt, den Deutschland setzt, folgt sogleich die bange Frage, ob die Bundesrepublik damit direkt und unmittelbar Kriegspartei würde.

Alles das ist, aus der deutschen Geschichte heraus, durchaus zu verstehen (dass diese Debatte in Österreich so gar nicht stattfindet ist in gewisser Weise mindestens so irritierend). Es geht im Kern um die Interpretation der Aussage und des Versprechens „Nie wieder!“.

Bedeutet dieser Schluss, dass Deutschland sich niemals wieder in Kriege involvieren soll? Weder mit Soldaten noch mit Waffenlieferungen? Oder ist in dieser Aussage vielmehr die Aufforderung an Deutschland enthalten, alles zu unternehmen, damit es niemals mehr zur Herrschaft des Unrechts kommt? Mit allen Mitteln?

Seit mehr als 30 Jahren begleitet diese Auseinandersetzung die Berliner Republik. 1999 begründete der damalige Außenminister Fischer den umstrittenen Kosovoeinsatz der Bundeswehr eingedenk der Massaker von Srebrenica und Tuzla (1995) in Bosnien mit eben dieser Verpflichtung aus der deutschen Geschichte. Und gerade dieser Einsatz, der völkerrechtlich durch die Vereinten Nationen nicht gedeckt war, hätte wesentlich zur Klärung beitragen können. Dieses Momentum wurde nicht genutzt. Noch zu Zeiten der Regierung Schröder-Fischer wurde das Thema nicht mehr aufgegriffen, so wenig wie in den langen 16 Jahren der Kanzlerinnenschaft Merkels.

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Feburar 2022 aber steht die Frage wieder unübersehbar im Raum und sorgt für Streit nicht nur in deutschen Wohnzimmern und an deutschen Stammtischen. Den Offenen Briefen und Manifesten kommt dabei als Mittel der Kommunkation und Standortvergewisserung eine wichtige, eine zentrale Rolle zu.

Wenn Schwarzer und Wagenknecht hier nun Verhandlungen und einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine fordern, verweisen sie auf eine drohende Eskalation. Das ist das wiederkehrende Thema in Deutschland. Die Angst, dass Russland darin schon einen kriegerischen Akt sieht, auf den es mit Mitteln des Krieges reagiert. Mit Bomben auf Berlin, so wie sie in russischen TV-Shows immer wieder gefordert werden.

Im Verständnis von Schwarzer und Wagenknecht geht es darum, dem Aggressor keinen Widerstand entgegenzusetzen, oder wenigstens den Widerstand nicht zu unterstützen. Denn, so die beiden Damen, der Aggressor verfolge mit seiner Aggression legitime Ziele. Er stille sein Sicherheitsbedürfnis. Das habe die Ukraine zu akzeptieren und in Form von Territorialverlusten sowie dem Verlust ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit hinzunehmen. Es ist aus ihrer Sicht ein Friede, dessen Last die Ukraine zu tragen habe, besser als ein Andauern des Krieges. Nicht weil daraus ein tragfähiger Frieden entstünde, als einzig und allein des Endes der Kampfhandlungen wegen.

Weil dann der Krieg aus den Wohnzimmern der Deutschen verschwindet. Und mit ihm die tägliche Anklage gegen einen imperialistischen Aggressor namens Russland. Weil damit auch die Frage, wie man es mit dem „Nie wieder“ denn hält, verschwindet.

Es stellt dieser Krieg recht eigentlich die Welt auf den Kopf. Imperialismus, das ist etwas, was – zumal in Deutschland – über Jahrzehnte einzig den USA vorgeworfen wurde. Das Bild der Vereinigten Staaten als perfide Macht, die im Hintergrund die Fäden zieht, die friedliebenden Völker der Welt zu knechten, das sitzt tief in deutschen Landen und Gemütern. Das wurzelt in der NS-Zeit, das wurde in der DDR in Bausch und Bogen übernommen, das wurde in der westdeutschen Friedensbewegung mit Inbrunst vorgetragen.

Und nun ist es Russland, welches das Völkerrecht bricht und missachtet, dessen Soldaten und Söldner raubend, vergewaltigend, mordend und folternd einen Vernichtungskrieg führen und im Auftrag Putins das russische Imperium wiederzuerrichten versuchen. Die Antwort des Westens ist, bei allem Zögern, eindeutig. Es darf dieser Akt der Willkür und Gewalt nicht von Erfolg gekrönt sein.

Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen. Es muss ihn verlieren.

Hier nun kommt die Interpretation Fischers zum „Nie wieder“ zum Tragen. Zusehen und nichts zu tun, ist für Deutschland, ist für den Westen, keine vertretbare Alternative. Dafür stehen in der Bundesrepublik Außenministerin Baerbock, Wirtschaftsminister Habeck, die FDP-Abgeordnete Strack-Zimmermann, Verteidigungsminister Pistorius, der SPD-Abgeordnete Roth und der CDU-Mann Röttgen, um nur einige aus der politischen Klasse zu nennen. Und auch Kanzler Scholz.

Was sie neben ihrer Haltung ebenfalls auszeichnet, ist der Umstand, dass sie durch die Bank jünger sind als Frau Schwarzer. Sieht man von Frau Wagenknecht ab, so sind die Erstunterzeichner durchwegs ältere Jahrgänge. Jene, die von eben dieser Friedensbewegung geprägt wurden, die im Bonner Hofgarten demonstrierten, die US-Stützpunkte mit Sitzblockaden stillzulegen versuchten, die sich mit aller Kraft und aus tiefster Überzeugung gegen den Nato-Doppelbeschluss stellten (den der sozialdemokratische Kanzler Schmidt ersonnen und auf Schiene gesetzt hatte).

Mit diesem Manifest verteidigen sie einmal noch ihr Lebenswerk, ihre BRD-Welt und ihre Sicherheiten. So kann man ihn denn auch lesen, diesen Aufruf, als den verzweifelten Versuch der Alten sich in einer Welt, die sich neu sortiert, zu behaupten. Mit den Ansichten und den Rezepten von gestern. Es ist dieses Manifest ein Abschiedsgruß der Bonner Republik. Direkt aus dem Herzen der miefig-piefigen westdeutschen Provinz. (fksk, 12.02.23)

Woche 05 – Waldhäuslheimat

Woche 49 des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Während Putin in Wolgo- vulgo Stalingrad die Feier zum Sieg über das Ende der 6. deutschen Armee vor 80 Jahren nutzt, um Deutschland wegen seiner Panzerlieferungen zu drohen, tobt in und um Bakhmut unvermindert eine Schlacht, bei der die russische Seite Soldaten und Söldner Welle auf Welle gegen die ukrainischen Stellungen wirft und dabei horrende eigene Verluste an Menschenleben billigend in Kauf nimmt. Nach vorsichtigen Schätzungen aus den USA und Großbritannien hat die russische Armee mitsamt ihren Söldnertruppen bereits rund 200.000 Mann verloren. Weitere 300.000 Mann stehen in den besetzten Gebieten bereit, eine neue Offensive gegen die Ukraine durchzuführen, um Putins Traum vom wiedergewonnenen Imperium neuen Schwung zu verleihen.

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Währenddessen macht sich in Österreich ein Herr Waldhäusl Luft und erklärt Wiener Schülerinnen mit Migrationshintergrund vor laufenden TV-Kameras, wären sie nicht in Wien, wäre Wien wieder Wien. Herr Waldhäusl ist dank des Proporzes  „Asyllandesrat“ in Niederösterreich, FPÖ-Politiker, macht laut Landeshauptfrau Mikl-Leitner einen „ordentlichen Job“ und stammt aus dem nördlichen Zipfel des Waldviertels, von wo die Menschen abwandern. Nach Wien. Zum Beispiel.

Die Schülerinnen erfahren nun Solidarität von EU- und Verfassungsministerin Edtstadler über den Wiener Bürgermeister Ludwig bis hin zur liberalen Nationalratsabgeordneten Krisper, Nichtregierungsorganisationen und Medien. Es ist einer jener inzwischen rar gewordenen Momente, in denen jenseits der Rechtsaußen agierenden Freiheitlichen parteiübergreifend Konsens herrscht.

Es ist einer jener Momente, die die Republik seit 1986 gefühlt tausendmal er- und durchlebt hat, die einem eigenen Rhythmus und einer eigenen Struktur folgen, die ein Ritual darstellen, letztlich aber nichts ändern. Es sehen sich nur beide Seiten, die Waldhäusels dieses Landes und alle anderen, sich in ihrer Haltung bestätigt.

Dabei ist gerade diese Aussage, wonach Wien nicht mehr Wien sei, ein guter Ansatzpunkt, eine wichtige, eine überfällige Diskussion zu starten. Nicht nur über Wien, sondern über Österreich.

Die Frage ist, was ist Österreich? Jenes des Herrn aus dem nördlichen Niederösterreich? Oder jenes zum Beispiel der Wiener Nationalratsabgeordneten Krisper? Was ist, worin gründet die Identität der Republik und ihrer Menschen, was zeichnet sie aus?

Die gängigen Antworten von der Nation der Skifahrer über die Kulturgroßmacht bis hin zum Brückenbauer zwischen Ost und West beziehen sich auf ein Land und eine Gesellschaft, die beide heute so nicht mehr existieren. Sie waren, mit Einschränkungen, einmal durchaus richtig. In den 60er und 70er Jahren, mithin in einer Zeit, nach deren retrospektiver Übersichtlichkeit sich viele zurücksehnen.

Der Fall des Eisernen Vorhangs und der Beitritt zur Europäischen Union aber zeitigten massive Auswirkungen, als Österreich von einer Randlage, von der Sackgasse wieder in ein lebendiges Zentrum des Kontinents geriet. Mit allen Konsequenzen.

Allein, schon zur Volksabstimmung über den Beitritt zur EU wurde dem Wahlvolk ein ums andere Mal versichert, dass sich eigentlich und im Grunde gar nichts ändern würde. Das Schnitzel bliebe das Schnitzel, der Erdäpfelsalat Erdäpfelsalat und die Marmelade Marmelade. Oder so ähnlich. Schmecks.

Österreich hat sich in den letzten 30 Jahren grundlegend verändert. Die Republik von heute gleicht in vielen, zumal in wesentlichen Aspekten nicht mehr jener von damals. Wien ist zu einer wachsenden europäischen Metropole geworden, Oberösterreich zu einem Standort zukunftsorientierter Industrien, selbst das Agrarland Niederösterreich definiert sich heute mehr über Industrie und Gewerbe, über Forschung und Entwicklung denn über die Hektarerträge an Getreide. Österreich ist ein Einwanderungsland geworden. Allein in Wien werden mehr als 100 Sprachen als Muttersprachen gesprochen. In kaum einen anderen Land der Union leben mehr Menschen mit anderer Staatsangehörigkeit. Selbst wenn es immer wieder Probleme mit, vor allem jungen männlichen, Zuwanderern gibt, gelingt die Integration so schlecht nicht. Es gibt, grosso modo, keine No-go-Areas, keine Zustände wie in den Banlieues von Paris, keine Viertel, in die Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte sich nicht mehr trauen, wie es aus Berlin berichtet wird. Das ist eine Leistung der alteingesessenen Bevölkerung ebenso wie der hinzugekommenen. Eigentlich eine Erfolgsgeschichte.

Alles das ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was sich in knapp 30 Jahren verändert hat. Es hat sich viel verändert.

Sprechen Österreicher von und über Österreich, dann haben sie tendenziell immer das Land von vor mehr als 30 Jahren vor Augen.

Nicht nur weil die Waldhäusls sich nach einer Vergangenheit sehnen, die es selbst damals so nicht gegeben hat, sondern weil auch die Vertreter der anderen wesentlichen politischen Bewegungen lieber mit althergebrachten Versatzstücken liebäugeln, als den Änderungen und den damit verbundenen Konsequenzen ins Auge zu blicken.

Das aber ist hoch an der Zeit, es ist überfällig, längst überfällig. Denn der Wandel, die Veränderungen, sie sind manifest. Sie sind nicht zu übersehen und sie sind schon gar nicht rückgängig zu machen. Sie wirken sich auf alle, ausnahmslos alle Bereiche und Belange der Republik und ihrer Menschen aus. Diese Änderungen beim Namen zu nennen, etwa Österreich endlich als das anzuerkennen, was es ist, ein Einwanderungsland und damit eine Einwanderungsgesellschaft, fällt indes vielen Menschen, zumal Politikern, schwer. So wie auch Österreich als gestaltenden Teil, als initiatives Subjekt der Europäischen Union zu begreifen oder seine aktive Teilnahme einer europäischen und globalen Sicherheitsarchitektur (was Österreich allein schon durch seine Bundesheerkontingente vor allem in Bosnien-Herzegowina und in Kosovo unter Beweis stellt) unter Hinweis auf die trügerische Sicherheit der Neutralität nicht einmal diskutieren zu wollen.

Für all dieses beharrliche Negieren, zur Seite schauen, nicht einmal ignorieren, daran trägt nicht Waldhäusls Partei alleine Schuld, daran haben samt und sonders alle politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Kräfte Teil. Aus Bequemlichkeit.

Nur, bequem wird es nicht mehr. Die Debatte über die facettenreiche Identität Österreichs und was sie bedeutet, ist überfällig. Dann und erst dann wird es möglich, das Ritual zu durchbrechen. (fksk, 05.02.23)

Woche 01 – Was wir nicht sehen

Bereits über zehneinhalb Monate und unvermindert geht der Krieg in der Ukraine, seit Wochen und ohne Unterlass tobt die Schlacht um Bakhmut. Der ukrainische Geheimdienst will erfahren haben, dass Russland im Frühjahr zusätzlich 500.000 Mann mobilisieren wird. Noch mehr Menschen, die gegen die ukrainischen Linien und in den Tod geschickt werden. Auf Menschenmaterial kann die Ukraine nicht zurückgreifen, sie wird, nach langem Drängen, nun von den USA, Frankreich und Deutschland endlich mit leichten Panzern unterstützt. Um den russischen Nachschub an Drohnen zu erschweren, verhängen die Vereinigten Staaten zudem zusätzliche Sanktionen gegen Iran. Dort macht sich das Regime daran, mehr und mehr Todesurteile gegen Oppositionelle zu vollstrecken. Die Revolution hält an.

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In Wien, genauer von Wien aus, informiert Shoura Hashemi die deutschsprachige Twitterwelt seit Beginn der Proteste und Demonstrationen in Iran über die Lage im Land. Sie nennt die Namen der Opfer, sie nennt die Namen der Täter, sie erklärt Zusammenhänge, sie erklärt, wo man wie helfen und unterstützen kann, sie sorgt gemeinsam mit anderen – etwa den Journalistinnen Gilda Sahebi, Natalie Amiri und Düzen Tekkal – dafür, dass die iranische Revolution vom Krieg in der Ukraine nicht gänzlich verdrängt wird. Oder von europäischer Realpolitik, die immer noch auf ein neues oder wiederbelebtes Atomabkommen mit dem Regime in Teheran hofft, die also immer noch zögert und zaudert in ihrer Haltung gegenüber der Herrschaft der Mullahs. Während manche Stimmen hinter den ungebrochenen Protesten wiederum nur US-amerikanisches Ränkespiel wähnen und um Verständnis und Wertschätzung für die Kultur der iranischen Ayatollahs werben.

Woher, so fragte Shoura Hashemi vor kurzem in einem Tweet, woher rühren die laufenden Fehleinschätzungen, das Nichtwissen in Sachen Iran? Wie kann es sein, dass in Funk, Fernsehen und Print immer noch regimenahe Proponenten als Experten zu ihrer Einschätzung der Lage gefragt werden? Warum nur weiß man in Europa so gar nichts über die Islamische Republik, über die Verhältnisse, ihre Verfasstheit? Es mangelt, meint Hashemi, am prinzipiellen Verständnis des Landes, es mangelt an Sprachkenntnissen, es mangelt an Informationsquellen, die nicht vom Regime aufgebaut und etabliert wurden.

Es mangelt an all dem, es mangelt auch und vor allem an versierten Auslandskorrespondenten.

Die mediale Berichterstattung über die Revolution in Iran steht exemplarisch für den Blick Europas auf die Welt, der ein höchst eingetrübter, zusehends oberflächlicher Blick wird, geworden ist; sie steht exemplarisch für die tiefe Krise, in der sich die Medienlandschaft nicht nur Europas gegenwärtig befindet. Ausgerechnet in einer Zeit, in der dank der Digitalisierung und der immer engeren Verflechtung der Welt prinzipiell mehr Wissen denn je zur Verfügung steht, sehen sich Zeitungen und Magazine ebenso wie Radio- und Fernsehstationen einem Kampf um ihre Relevanz gegenüber.

Um die Verhältnisse und das Geschehen in anderen Ländern zu erklären, dazu braucht es Korrespondenten vor Ort. Menschen, die über Jahre in einer Region leben, die Geschichte, Verhältnisse, Bündnisse, Proponenten und Kultur und Alltagsleben kennen. Und die auf dieser Basis in der Lage sind, ihrem Publikum fundiert das Geschehen in eben dieser Region zu erklären. Korrespondenten wie Karim El-Gawhary, der von Kairo aus für Die Presse ebenso wie für den ORF, die taz oder die Hannoversche Allgemeine Zeitung arbeitet. Eine Seltenheit, mittlerweile.

Allein, Verlage und Medienhäuser verfolgen seit Jahren einen Sparkurs. Redaktionen werden tendenziell kleiner, immer mehr Aufgaben werden auf immer weniger Redakteure verteilt, immer mehr Aufgaben werden an (günstigere) Freie ausgelagert, produziert wird, was man sich leisten kann. Die intensive Auslandsberichterstattung zählt nicht dazu. Allenfalls greift man anlassbezogen auf rasch eingeflogene Sonderkorrespondenten zurück. Seit Jahren geht die Zahl der fest angestellten Korrespondenten zurück. Und seit Jahren geht die Zahl der Korrespondenten in den Städten und Regionen abseits der großen Themen zurück. New York, Washington, London, Moskau und Bejing werden nach wie vor besetzt. Kampala, Lagos, Bogota und La Paz werden im besten Fall von irgendwo her mitbetreut. Im Jänner 2022 präsentierte die deutsche Otto Brenner Stiftung dazu ein Arbeitspapier von Marc Engelhardt mit dem Titel „Das Verblassen der Welt“. Darin legt der freiberufliche Korrespondent und Mitglied des Netzwerks „weltreporter“ anhand der Beispiele Afghanistan, Syrien, Mali und der Wahl von Donald Trump dar, wie eingeengt unsere Wahrnehmung inzwischen ist. Und welche Missverständnisse, welche fatalen Fehlkalkulationen daraus erwachsen.

Das iranische Regime wurde und wird nach wie vor als potenzieller Partner betrachtet. Als ein Regime, in dem einander moderate Reformer und Konservative gegenüberstehen und um Einfluss ringen. Das klingt, in europäischen Ohren und aus der Distanz, hinnehmbar, nicht weiter schlimm. Das klingt umso weniger schlimm, als es in Iran an versierten Korrespondenten fehlt, die – geschützt und gestützt durch den Einfluss ihrer Auftraggeber – recherchieren und berichten können. Also assoziiert man mit den Wahlen zum Parlament der Islamischen Republik einen irgendwie latent demokratischen Vorgang. Dass dabei nur vom Wächterrat ausgewählte Kandidaten antreten dürfen, wird als lokale, kulturelle, religiös motivierte Eigenart hingenommen, tolerierbar, da es doch die Reformer gibt, die dem Westen ihr freundliches Gesicht zeigen.

Das geht, weil man nicht weiß, was hinter dem freundlichen Gesicht passiert. Weil man vielleicht auch gar nicht wissen will, was sich hinter dem freundlichen Gesicht verbirgt. Weil man es, mangels Korrespondenten, auch gar nicht wissen kann. Und wer nichts weiß, muss alles glauben.

Das ist bisweilen höchst bequem.

Auf lange Sicht ist es fatal und fast ausnahmslos mit einem bösen Erwachen – „Wer hätte das gedacht!“ – verbunden.

Marc Engelhardt stellt in seinem Arbeitspapier nicht die eine, große Lösung vor, die unseren Blick rasch und vor allem fundiert wieder weitet. Er stellt aber einige Überlegungen an, wie mithilfe von Netzwerken, einem Bewusstsein für die Bedeutung der Auslandsberichterstattung, ihrer gezielten Förderung und dem unbedingten Einstehen der europäischen Regierungen für Pressefreiheit der Horizont wieder erweitert werden kann. Damit wäre zudem eine Basis geschaffen, der Krise der traditionellen Medien entgegenzuwirken.

Einstweilen sorgen Shoura Hashemi, Gilda Sahebi, Natalie Amiri und Düzen Tekkal täglich dafür, unseren Blick zu schärfen. (fksk, 08.01.23)

Woche 48 – Pariser Sicherheitsgarantien

Neun Monate Krieg in der Ukraine. Am östlichen Ufer des Dnipro sollen russische Verbände teilweise ihre Stellungen räumen, es soll an einem Ort sogar schon die ukrainische Flagge gehisst worden sein. Genaues weiß man nicht. Vor Bakhmut gehen die schweren Gefechte weiter, die Verluste auf beiden Seiten steigen, die Stadt ist ein Trümmerfeld. Mal heißt es, die ukrainischen Verteidiger seien im Vorteil, dann wieder werden russische Geländegewinne vermeldet. Minimale nur, teuer erkauft. Präsident Macron besucht Präsident Biden, beide meinen, man könne mit Russland verhandeln, wenn...

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...Russland sich aus allen ukrainischen Gebieten zurückziehe und die Integrität des Landes anerkenne, so Biden,...

...und dann ließe sich auch über die Sicherheitsbedürfnisse Russlands reden, meint Macron...

... währenddessen Deutschlands Kanzler Scholz wieder einmal mit Putin telefoniert und erfährt, dass der Krieg, dass das alles längst schon vorüber wäre, unterstützte der Westen nicht die Ukraine. Offenbar liest Russlands Präsident die Aussagen mancher deutscher Intellektueller, Publizisten und Ex-Generäle sehr genau. Denn, so weiß man in diesen Kreisen, längst herrschte wieder Ruhe in Europa, würden die Ukrainer nicht mit Waffen und Systemen und Informationen unterstützt und versorgt. Womit sie ohne jeden Zweifel recht haben. Es herrschte dann Friedhofsruhe in der Ukraine. Im Sinne des Wortes.

Die interessanteste Aussage aber ist jene Macrons, der anbietet, über die Sicherheitsbedürfnisse Russlands verhandeln zu wollen und Russland dabei auch Garantien in Aussicht stellt, Moskaus Ansprüche mithin als gerechtfertigt einstuft. Was angesichts des Umstands, dass es Russland war und ist, welches die Sicherheitsinteressen eines souveränen Staates missachtet, einigermaßen kreativ klingt. Es klingt, verstärkt durch das Telefonat zwischen Berlin und Moskau, einmal mehr nach dem alten Lied, wonach Deutschland und Frankreich nur allzu bereit wären, dem eigenen Wohlergehen ein Stück Ukraine zu opfern. Es ist das alte Lied, wonach Westeuropa feige ist und träge, Osteuropa hingegen voll des Elans, Freiheit und Demokratie zu verteidigen (was angesichts mancher Regierungen im EU-Osten nun auch wieder kreativ klingt). Russland indes tönt zurück, man könne gerne über alles verhandeln, so Kiyv den Verlust aller von Russland eingeforderten Territorien akzeptiere, die Waffen niederlege und weder der EU noch der Nato beitrete.

Womit klar ist, dass dieser Krieg auf dem Schlachtfeld entschieden werden wird, da es nichts gibt, worüber man verhandeln könnte. So einfach ist das.

Was bleibt, ist die Frage, was die Töne aus Paris zu bedeuten haben. Denn dass Macron annimmt, die Ukraine wäre nach ihren beeindruckenden militärischen Erfolgen bereit, Abstriche in ihrem Sicherheitsbedürfnis zu machen, ist unrealistisch. Es passt auch nicht zu den verstärkten Anstrengungen Frankreichs, die Ukraine endlich mit Waffensystemen zu unterstützen. Es passt schon gar nicht zu den freundlichen, gar vertrauten Tönen, die letzthin zwischen Kiyv und Paris zu hören waren. Frankreich ist, wie Deutschland, wie die gesamte EU, in diesem Krieg Partei auf Seiten der Ukraine.

Es ließe sich die Sicherheitsgarantie, die Macron in den Raum gestellt hat, auch anders verstehen. Als Garantie dafür, dass Putin und Russland nach einem verlorenen Krieg nicht in Frage gestellt werden; dass der Westen definitiv kein Interesse daran hat, Russland zerfallen zu sehen; dass der Westen vielmehr ein vitales Interesse daran hat, dass Russland in sicheren und garantierten Grenzen existiert.

Was im ersten Moment undenkbar klingt, ist so unwahrscheinlich nicht. Ein verlorener Krieg, kollabierende russische Sicherheitsstrukturen, eine zusammenbrechende Wirtschaft, Diadochenkämpfe um die Nachfolge Putins und jede Menge alter Rechnungen im Inneren wie auch mit Nachbarstaaten – nichts ist undenkbar. Vielmehr muss man mit allem rechnen.

Nun gibt es Stimmen, die meinen, davon dürfe man sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Gerade diese Sorge würde vom Kreml gezielt gestreut, dabei sei das Beste, was Russland passieren könne, dass dieses alte Imperium endlich zerfalle, ein für allemal und also Platz mache für Neues.

Dieses Neue käme aber verbunden mit einer unerfreulichen Frage, die bereits nach dem Zerfall der Sowjetunion für Unruhe gesorgt hat, der Frage, wer denn über das russische Atomwaffenarsenal – dem größten der Welt –, das Sagen habe. Wer garantiert nach einem Zerfall Russlands, dass die Nachfolgestaaten so verantwortungsbewusst wie seinerzeit die Ukraine handeln und ihre Atomsprengköpfe und -kapazitäten internationaler Kontrolle übergeben? Wer kann sicher gehen, dass unter den Nachfolgestaaten nicht ein zweites Nordkorea entsteht, mit wilden, nuklearen Phantasien und – Möglichkeiten?

Kann man es sich noch vorstellen, dass das Atomwaffenarsenal etwa Pakistans bei einer Machtübernahme durch Taliban von US-Amerikanern gesichert und (wohl mit dem Einverständnis etwa Chinas und Indiens) außer Landes gebracht würde, so ist eine derartige Operation in einem Russland im Chaos nur schwer vorstellbar.

Russland ist, das zeigt dieser Krieg, den es in die Ukraine getragen hat und dort mit aller Gewalt austrägt, ein Koloss auf tönernen Füßen. Seine Armee war bereits im Februar/März schon nicht in der Lage, Kiyv zu erobern. Heute, nach neun Monaten Krieg ist diese Armee in einem noch viel schlechteren Zustand. Heute erscheint die Implosion Russlands eine reale Möglichkeit zu sein.

Vielleicht ist Macrons Angebot der Sicherheitsgarantien also ganz anders zu verstehen, nämlich als das Angebot, dass dieser Moment der Schwäche vom Westen nicht gegen Russland genutzt wird; dass Putin und seine Kamarilla nicht in Frage gestellt werden; dass der Westen keinen Regime-Change in Moskau anstrebt; dass Putin die Möglichkeit hat, den Krieg gegen die Ukraine verloren zu geben ohne Russland zu verlieren.

Es ist vielleicht der letzte Exit, der sich der russischen Regierung bietet. (fksk, 04.12.22)