Debatte

Woche 02 – Geld. Oder gestalten.

Nun also ziehen sie über Deutschlands Straßen und in die Städte, Bauern, die demonstrieren, protestieren und – im Verein mit der in dieser Hinsicht stets verlässlichen Deutschen Bahn – den Verkehr der Republik stilllegen. Darüber mag man sich mokieren, diverse Aussagen und Symbole mag man rundheraus ablehnen, gleichwohl zahlt es sich aus, den frustrierten Landwirten zuzuhören. Denn, so ist zu vernehmen, es ist nicht die gestrichene und nun eilends wieder zugesagte Subvention des Diesels, es ist die Wut über Jahrzehnte agrarpolitischen Stillstands, die sie auf die Straßen treibt.

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Mit der ersten Sichtung von Milchseen und Butterbergen in den späten 70er und frühen 80er Jahren nahm ein Stillstand Form an, der seither mit allen nur erdenklichen Instrumentarien den Überschuss verwaltet. Mit Quotenregelungen, Subventionen, Preisstützungen, steuerlichen Pauschalierungen, günstigen Krediten und Sonderregelungen, die allesamt nur eines zum Ziel haben, den Änderungsdruck abzufedern um nichts grundsätzlich ändern zu müssen.

Ideen, Projekte, konkrete Politik, wie die Landwirtschaft – und mit ihr der ländliche Raum – attraktiv und zukunftsfähig werden können, welche Aufgaben und welchen Stellenwert sie innerhalb der Gesellschaft einnehmen, sucht man indes vergebens. In einer Welt, die sich dramatisch verändert hat (und kaum ein Bereich hat nach 1945 einen radikaleren Wandel durchlaufen als die Landwirtschaft), in einer Welt, die, getrieben durch Globalisierung, Klimawandel und Artensterben, an Veränderungstempo nochmals dramatisch zulegt, herrscht – teuer erkauft – Stillstand.

Damit steht die Landwirtschaft keineswegs alleine. Über Geld und Zuwendungen sucht die Politik allen möglichen Herausforderungen und Problemen beizukommen. Es mangelt im Bildungsbereich? Mehr Geld für die schulische Verwaltung. Es krankt der Gesundheitsbereich? Finanzspritzen sollen es richten. Es weitet sich die Einkommensschere und die Zahl der „Working Poor“ nimmt zu? Mehr Mittel für soziale Ausgleichszahlungen sollen die Unterschiede einebnen. An die Stelle politischer Auseinandersetzung ist die Auseinandersetzung um einen möglichst großen Anteil am Staatshaushalt getreten.

Das geht. Es geht eine Zeit lang, und es geht auch länger, wenn da oder dort nochmals zusätzliche Gelder aufgetan und großflächig verteilt werden. Bis es zur Gewohnheit wird, mit der man dann selbst existenziellen Krisen begegnet.

Die Finanzkrise von 2008 führte zu keiner grundlegenden Reform des Finanz- und Bankenwesens, sie führte aus der durchaus berechtigten Angst vor einer Rezession zu einer Politik des billigen Geldes, die durch die Pandemie der Jahre 2020/21 nochmals intensiviert wurde – allen Warnungen zum Trotz. Nun führt die Politik des billigen Geldes zu Inflation und steigenden Zinsen, denen Österreichs Politik todesmutig mit noch mehr Geld entgegenzuwirken versucht.

Der Griff ins Budget ist ein Armutszeugnis. Er steht für den Unwillen oder, schlimmer noch, für die Unfähigkeit, sich mit Themen eingehend und in der Tiefe zu befassen, auch unerfreuliche Entwicklungen anzugehen und sie solcherart zu gestalten, dass etwas Neues daraus hervorgeht. Der Griff ins Budget offenbart die Selbstaufgabe der Politik – wenn Politik als Gestaltungswille begriffen wird.

An die Stelle der öffentlichen Debatte, die auch schmerzhaft sein mag, die Kraft kostet und bisweilen an die Substanz geht, an die Stelle von Überzeugungskraft und redlicher Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionen, ist die irrige Meinung getreten, alles ließe sich durch immer mehr Geld behandeln. Auch Verwerfungen und Konflikte innerhalb einer Gesellschaft.

Ein Irrglaube.

Demokratie verlangt nach echter Auseinandersetzung. Sie verlangt nach Positionen und Positionierungen, nach Überzeugung und Programmatiken, nach validen Zukunftsentwürfen. Vor allem verlangt sie danach, die Menschen in ihren Lebensumständen ernst zu nehmen. Solcherart, dass sie aktiv an der Gestaltung ihrer Verhältnisse teilhaben, dass sie den Wandel prägen anstatt von ihm geprägt zu werden. Die Politik einer demokratischen Gesellschaft stellt nicht ruhig, sie lädt ein, unmittel- und mittelbar Beiträge zu leisten. Sie sucht nach Lösungen, die weit über eine Budgetperiode hinaus wirksam sind (und nutzt ihre finanziellen Mittel mit Bedacht). Vor allem aber begreift sie die Menschen als aktive Subjekte, als gleichwertiges politisches Gegenüber und Partner im Gestalten. Nicht als passive Objekte finanzieller Zuwendungen.

Die Politik – nicht nur in Österreich und Deutschland, vielmehr in weiten Teilen Europas – hat indes alles unternommen, ihren Menschen nichts aktiv zuzumuten. Stattdessen wurde, was immer als Problem erschien, mit immer größeren Geldscheinen nachgerade zugekleistert.

Nun aber lässt sich nicht alles auf Dauer kaschieren, nimmt vielmehr die Perspektivlosigkeit angesichts dieser Politik der Mutlosigkeit überhand. Bis sie in Wut umschlägt, in offenen Protest. Und partout jenen Krakeelern in die Hände spielt, die mit demokratischen Prozessen und Ordnungen so gar nichts, mit autoritärer Macht dafür umso mehr am Hut haben, und siegestrunken schon auf die kommenden Wahlen spitzen. Um dann einen der Ihren als Volkskanzler zu proklamieren.

Es ist nicht zu spät, gegenzusteuern. Nur verdammt hart. Aber allemal alle Anstrengung wert. (fksk, 14.01.2024)

Woche 07 – Nehammers Flucht aus der Verantwortung

Russlands Krieg geht in seiner 51. Woche mit verstärkten Angriffen auf breiter Front und verlustreichen Kämpfen rund um Vuhledar und Bakhmut, mit erneutem Raketenbeschuss ziviler und kritischer Infrastruktur in der Ukraine einher. Den Vorwurf, 6.000 ukrainische Kinder in Umerziehungslager nach Russland deportiert zu haben, weist die Regierung in Moskau zurück. Im Rahmen eines Putin-Interviews dankt eine Journalistin ihrem Präsidenten für die Möglichkeit, einen 15jährigen aus Mariupol adoptiert haben zu können. In russischen TV-Shows erstrecken sich die Ambitionen mittlerweile weit gen Westen, die DDR solle als eine Art russischen Territoriums wiederhergestellt werden. Unterdessen sind dort im Westen Exponenten von ganz rechts und ganz links unverdrossen von den lauteren Absichten Putins überzeugt und fordern also sofortige Verhandlungen ein.

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Um Versöhnung müht sich auch Österreichs Kanzler Nehammer. Konkret um die Aufarbeitung der Covidjahre. Versöhnen will er, Verletzungen heilen, die Lager wieder zusammenführen. Darin wohl sieht er seine Rolle bis zu den Wahlen im Jahr 2024. Man darf davon ausgehen, dass es ihm damit auch ernst ist.

Weswegen es gilt, dem Kanzler ganz genau zuzuhören, wenn er davon spricht, dass im Zuge dieses Prozesses die Experten sich und ihre Entscheidungen erklären müssten. Wobei Nehammer das nicht im Konjunktiv formuliert, er setzt den Indikativ ein. Er gibt in bemerkenswerter Offenheit die Linie vor, wer seines Erachtens ursächlich an den Verwerfungen in der Gesellschaft Schuld hat und dafür Verantwortung trägt: Es sind die Experten, die Mediziner, Gesundheitsmanager, Komplexitätsforscher, es ist die Wissenschaft.

Die Politik, die Regierung, insbesondere der große Koalitionspartner trägt dafür keine Verantwortung. Folgt man der Aussage des Kanzlers, haben sie nur getreulich getan, was ihnen gesagt, um nicht zu sagen, aufgetragen wurde.

Das ist nichts weniger als die Bankrotterklärung eines Regierungschefs und Politikers.

Politik, die sich als nicht verantwortlich sieht, die davor zurückschreckt, für ihre Handlungen einzustehen, die das noch dazu mit der tiefsitzenden österreichischen Abneigung gegen alles, was aus dem Umkreis der universitären Forschung kommt, garniert, nimmt sich aus dem demokratischen Spiel. Mehr noch, sie diskreditiert nicht nur die Wissenschaft und beschädigt in einem Aufwaschen alle anderen politischen Akteure – sie legt Axt an die tragenden Säulen der Republik.

Nehammer steht damit nicht alleine. Die Flucht aus der Verantwortung ist bei vielen Vertretern der politischen Klasse Österreichs zu beobachten. Sie geben sich als von missgünstigen Umständen getrieben, bevormundet und ihres wichtigsten Daseinsgrundes, den Menschen Freude zu bereiten und sie vor den Fährnissen des Alltags und allen Zumutungen zu bewahren, beraubt. Von Experten oder Brüssel oder was es der extern waltenden Kräfte noch geben mag. Sie geben sich als ohnmächtige Opfer der herrschenden Umstände. Aktiv zu gestalten, kommt ihnen nicht in den Sinn.

Nach Gestaltung aber verlangt die Demokratie. Sie baut auf gesellschaftlicher Teilhabe auf und darauf, dass gewählte Vertreter über einen bestimmten Zeitraum Verantwortung übernehmen. Sie bedarf der Akteure, die sich, ihre Arbeit, ihr Streben, ihre Ziele, ihr Handeln und Tun den Menschen erklären, die dafür einstehen, bereit sind dafür zu streiten und die zu überzeugen suchen, die nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Und – die auch irren können.

Das alles macht die Demokratie bisweilen anstrengend und anspruchsvoll. Das macht sie gleichzeitig lebendig und einzigartig. Sie ist das einzige politische System, das den Irrtum als Faktor beherrschbar macht, da er im Zuge von Wahlen korrigiert werden kann. Sie ist ein lernendes System. Wenn man denn zu lernen bereit ist. Aus Entwicklungen, aus Erfolgen wie aus Fehlern.

Das freilich setzt Verantwortungsbewusstsein voraus. Sowie die Bereitschaft, Verantwortung tatsächlich zu übernehmen.

Suggerieren hingegen Politiker, zumal Regierungspolitiker, sie wären innerhalb eines demokratischen Systems nicht verantwortlich, so entziehen sie ihm sein wesentliches Element der Möglichkeit der Korrektur in Form der Abwahl der Verantwortungsträger. Sie stellen das demokratische System damit in letzter Konsequenz in Frage.

Daraus folgt ein schleichend anschwellender Vertrauensverlust der Wähler. Wo sie sich ihres Rechts, Verantwortung zuzuteilen und damit an der politischen Gestaltung teilzuhaben, beraubt sehen, ziehen sie für sich Schlüsse. Manche, indem sie sich zurückziehen und an den demokratischen Prozessen nicht mehr teilnehmen. Andere, indem sie sich den Rändern des politischen Spektrums zuwenden, jenen, die versprechen, dass mit ihnen alles anders wird, zumal das System. Denn, dieser Umstand ist dokumentiert, auch und gerade in der Demokratie erwarten die Menschen Führungsqualitäten.

Mithin nicht die Klage über die obwaltenden Umstände, nicht das Abschieben von Entscheidungen an andere, nicht das schlichte Verwalten und Organisieren des Staates und der Republik. Die Menschen wollen Antworten, auch solche, denen man nicht zustimmt, über die man diskutieren, streiten kann. Sie erwarten Eindeutigkeit, Klarheit, Kompetenz und – Verantwortungsbewusstsein.

Bezeichnet Nehammer nun sich und seine Regierungskollegen als „hörig“ gegenüber Experten und delegiert die Aufarbeitung an eine Kommission, anstatt das Parlament und die Öffentlichkeit aktiv darin einzubinden, so befeuert er die Entfremdung, der er doch eigentlich entgegentreten will. Dazu braucht es aber auch deutlich mehr als eine Rede über die Zukunft und etwas Marketing. Es braucht konkrete Handlungen und Tun, die Bereitschaft zu reden, zu argumentieren, sich der Kritik zu stellen, es braucht klare Positionen. Und es verlangt nach gelebter Verantwortung.

Die aber flieht der Kanzler. In aller Konsequenz. (fksk, 19.02.23)

Woche 02 – Mehr Debatte wagen

Rund vier Monate schon tobt die Schlacht um Bakhmut. Die Söldnertruppe Wagner verkündet, sie hätte die Ortschaft Soledar erobert, die ukrainische Armee widerspricht. Sicher ist nur, dass die Kämpfe unvermindert anhalten und die russische Armee in dieser Region unter gewaltigem Blutzoll langsam voranrückt. Ob es dem Kreml zu langsam geht, ob General Surovikin (aka General Armageddon) zu wenig Erfolge im Sinne von Eroberungen vorzuweisen hat, aus welchen Gründen auch immer, als Befehlshaber der russischen Truppen in der Ukraine ist er abgelöst und durch General Gerassimov, den Chef des russischen Generalstabs, ersetzt worden. Russlandexperte Mangott kommentiert diesen Schritt mit den Worten, es ersetze der unfähige den fähigen General. Auf Rochaden setzt auch das klerikale Regime in Teheran und greift unter seinen Kommandanten der Polizei auf absolute Hardliner zurück und lässt selbst ehemalige Regierungsmitglieder aus dem Lager der „Moderaten“ hinrichten. Ob das die Revolution noch zu bremsen vermag, ist fraglich. Schon ist aus den Reihen des Regimes selbst die Einschätzung zu hören, dass im Lauf der kommenden drei Monate die Revolution siegreich und die Islamische Republik Geschichte sein werde.

© Parlamentsdirektion/Ulrike Wieser

Unterdessen wird in Wien das von Grund auf sanierte Parlamentsgebäude wieder bezogen und in Betrieb genommen. Anlass genug für festliche Akte, Führungen durch das Haus, offene Tage und Programmschwerpunkte des ORF. Auf seinem dritten Kanal wird der „Baumeister der Republik“ gedacht, der Herren Leopold Figl und Julius Raab, Bruno Kreisky und Franz Vranitzky sowie der Nationalratspräsidentin Barbara Prammer. Nun mag es durchaus angehen, sich mit der Geschichte der Republik und ihrer Menschen auseinanderzusetzen. Allein, diese Programmierung lässt das Fehlen zukunftszugewandter Diskussionen umso schmerzlicher missen.

Es ist das Parlament im Idealfall jener Ort, an dem die großen und kleinen Themen verhandelt werden, in dem letztlich die Standortbestimmung, die Selbstvergewisserung einer demokratischen Gesellschaft stattfindet. Das Parlament als Institution ist dazu bereit. Das spiegelt sich in seiner Öffnung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, sei es, weil es nun tatsächlich zugänglicher wird, gleichsam eingebunden in das Leben der Stadt, oder sei es, weil es seine Präsenz im Web radikal neu und bedienerfreundlich gestaltet. Es öffnet zudem seine Bibliothek, es ermöglicht den Bürgerinnen und Bürgern der Republik, von ganz oben, mit bestem Blick, den Plenarsitzungen zu folgen. Es verbindet seine Anfänge als europäisches Protoparlament, damals als Reichsrat mit mehr als 500 Abgeordeneten aus allen Kronländern, insgesamt acht Nationen, mit dem neuen Selbstbewusstsein der wiedererstandenen Republik nach 1945 bis heute, da es das Hohe Haus einer durch und durch diversen Gesellschaft ist. Es erzählt Geschichte, ohne museal zu sein. In gewisser Weise handelt es sich bei dem Gebäude um einen der zugänglichsten und gleichzeitig interessantesten Orte Österreichs. Und um einen der wesentlichsten.

Das ließe sich nutzen, Diskussionen und Debatten zu eröffnen und voranzutreiben, die die Zukunft betreffen und die das Selbstbild Österreichs zu fassen suchen. Mit Diskussionen im Parlament, im Fernsehen, im Radio, in den Medien, auf Bühnen und auf Plätzen, ja, auch auf Skipisten und natürlich „im Netz“. Also dort, wo ohnehin geredet, gesprochen, geschimpft, gestritten und polemisiert wird, jeden Tag und ununterbrochen. Zusehends aber ohne miteinander in Kontakt zu treten, als vielmehr nebeneinander den jeweils eigenen Standpunkt nachgerade dogmatisch zu vertreten und beleidigt, empört oder auch wutentbrannt alle anderen Sichtweisen als die eigene von sich zu weisen. Wir leben in einer Zeit, in der auf allen verfügbaren Kanälen so viel an Meinung geäußert wird wie selten zuvor.

Es kehren National- und Bundesrat zu einem Zeitpunkt in das Parlamentsgebäude am Ring zurück, zu dem die Serie der „Baumeister“ (vielleicht mit Ausnahme des Portraits von Barbara Prammer) nicht mehr Land und Leute spiegelt. Es sind im besten Sinne historische Rückblicke, Aufnahmen aus einem anderen Österreich, nach dem sich viel sehnen, als alles einfacher schien, übersichtlicher, nicht so komplex. Es ist wohlfeile Nostalgie.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Krieg in der Ukraine, Klimakrise überall, Migration und Identitätsdebatten. Von den Alltagsproblemen wie Inflation, Perspektivlosigkeit und dem Verlust des Gewohnten gar nicht erst zu reden. Tatsache ist, die österreichische Gesellschaft ist, wie die gesamte westeuropäische, im Kern verunsichert. Still und leise, schleichend ist der Konsens der Nachkriegsgesellschaft abhandengekommen oder wurde schlicht und einfach aufgekündigt. Weswegen es die Debatte, den Diskurs so dringend braucht wie selten zuvor.

Das wäre ein dem Wiederbezug des Parlaments würdiges Rahmenprogramm, Diskussionen, die ihren Teilnehmern vor allem abverlangen, zuzuhören und zu reflektieren. Debatten, die über die Tagespolitik hinausreichen, die von mehr Menschen geführt werden als von den üblichen Verdächtigen. Ein Diskurs, der sich als Zumutung definiert, weil er das Denken anregt, gegen die Dogmen anstürmt, die uns in unserer Gesamtheit als Gesellschaft starr haben werden lassen. Eine Auseinandersetzung, die in die Tiefe geht und bei der jene, die sie moderieren, darauf zu achten haben, dass alle Beteiligten sich an die Regeln der Debatte halten. Dabei kann, dabei soll alles verhandelt werden.

Im besten Fall gelangen Land und Leute, die Republik und ihre Menschen auf diesem Weg zu einem neuen Konsens darüber, was sie an Grundsätzen und Werten miteinander verbindet. Auch wenn sich dieses Ergebnis so schnell nicht einstellen will, kann die Debattenkultur in Österreich dadurch nur gewinnen – was für sich genommen schon ein grandioses Ergebnis wäre. (fksk, 15.01.23)

Woche 50 – So lasst uns denn einen Zaun bauen

In der 44. Woche ihres Angriffskrieges überzieht die russische Armee die Ukraine einmal mehr mit einem Hagel aus Raketen, Drohnen und Bomben auf zivile Infrastruktur. Konsequenterweise zeigt sich Moskau von der Möglichkeit, dass die USA die Ukraine mit dem Patriot-System zur Abwehr ausstatten wollen, irritiert. Aus Sicht Moskaus wäre das eine Eskalation. Gleichzeitig überschlagen sich die Spekulationen zu den nächsten Phasen des Krieges: Russland werde aus dem Norden Kyiv angreifen, warnen die einen, während die anderen auf das anscheinend schier unerschöpfliche Arsenal alter sowjetischer Artilleriemuniton verweisen und damit auf wichtige Reserven der russischen Armee. Unterdessen gelangen mehr und mehr Berichte über russische Folterkammern und -praktiken an die Öffentlichkeit und werden doch kaum noch wahrgenommen.

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In Österreich beklagt derweil der Vorsitzende eines regionalen Energieversorgers, es seien die USA, die ein „Zusammenwachsen Europas mit Russland“ verhinderten. Auch eine Perspektive. An solchen ist Österreich reich. Meist reichen sie bis zu einem Zaun.

Wahlweise darf es auch eine Mauer sein.

Beides am besten rund um Europa errichtet. Um die Migration einzuschränken, sie zum Stehen, zum Stillstand zu bekommen. Im Zaunbau will Kanzler Nehammer Bulgarien gerne unterstützen, am Zaunbau soll sich die europäische Einigkeit erweisen. Und das lästige Thema der Migration soll, wenigstens bis zu den Wahlen in Niederösterreich, als gelöst erscheinen, schlicht keines mehr sein, oder wenn, dann ausschließlich als Nachweis der Problemlösungskompetenz der Kanzlerpartei.

Wobei sie sich auf diesem Niveau heftiger Konkurrenz ausgesetzt sieht.

Mindestens gleichwertig agiert die altehrwürdige Sozialdemokratie, die in Person ihrer Vorsitzenden das Schengenveto des Kanzlers für richtig und gut befindet – zu allem anderen ist von ihr nichts zu hören. Von den Freiheitlichen gar nicht erst zu reden. Die feiern, dass ihre Themen, ihre Ideen, ihr Weltbild offiziell Regierungspolitik ist und ihnen, und niemandem sonst, als Erfolg gut geschrieben wird.

Nun steht außer Frage, dass die Migration eine gewaltige Herausforderung ist. Es steht auch außer Frage, dass die bisherigen Instrumentarien und Politiken nichts zur Lösung oder wenigstens zur Abfederung beitragen haben. Im Grunde verhält es sich so, dass das drängende Thema seit Jahren, seit mehr als einem Jahrzehnt auf der Tagesordnung steht, und niemand sich in der Tiefe damit befassen mag. Weil damit alte und liebgewonnene Überzeugungen auf allen Seiten radikal in Frage gestellt werden. Tatsache ist, dass Europa seiner demografischen Entwicklung wegen auf Migration angewiesen ist. Ebenso wie es Tatsache ist, dass Europa sich schlicht nicht abschotten kann.

Faktum ist gleichzeitig, dass Europa bislang kein Instrumentarium geschaffen hat, Migration so zu gestalten, dass die Vorteile für alle Betroffenen überwiegen. So, wie es auch offensichtlich ist, dass es migrantische Millieus gibt, die gar kein Interesse daran haben, sich in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren.

Das weiß man. Man wusste es vor 2015, man weiß es seit 2015, man hat nichts getan. Außer, einander gegenseitig zu blockieren.

Ein Verhaltensmuster, welches auch auf andere wichtige Themen zutrifft, vom Klimawandel bis hin zur Sicherheitspolitik. Es gilt, nicht nur aber auch und gerade in der Republik Österreich: Augen zu. In der Hoffnung, dass, wenn man die Augen wieder öffnet, sich alles irgendwie in Wohlgefallen aufgelöst hat. Das freilich ist nicht der Fall, weswegen auf einfache Lösungen zurückgegriffen wird. Auf einfachste Argumentationen.

Das Versprechen, ein Grenzzaun löse ein Problem, ist schlichtweg intellektuell unredlich. Weder wirkt ein Zaun den Ursachen entgegen, noch beendet er die Migration. Er ist, auch in seiner Variante als Mauer, nichts weniger als der weithin sichtbare Nachweis dafür, dass man sich nicht in der Lage und Position sieht, ein Problem in allen seinen Dimensionen zu begreifen und zu bearbeiten.

Womit man endgültig in der österreichischen Realität angekommen ist. In einem Alltag, der gekennzeichnet und geprägt wird vom eklatanten Unvermögen, sich auch nur annähernd diskursiv mit Themen der Zeit auseinanderzusetzen. Der momentane Aggregatzustand der österreichischen Politik ist die Sprachlosigkeit.

Hierzulande gilt nicht das Gewicht des guten und des besseren Arguments oder die Kraft, die der Entwicklung einer Idee in öffentlicher Auseinandersetzung innewohnt, es gilt das Votum der wöchentlichen Umfrage, nach der sich die einen oder die anderen im Recht sehen, eine Debatte für beendet zu erklären, noch bevor sie auch nur in Ansätzen geführt worden ist. Es wird der demokratische Prozess der öffentlichen Willensbildung als unzumutbare Zumutung empfunden. Als Affront.

Und das nicht erst seit heute. Die Zeiten, in denen ein sozialdemokratischer Bundeskanzler sich von den Argumenten seines christdemokratischen Vizekanzlers überzeugen ließ, und daraufhin seine eigene Partei von Nutz und Frommen eines Beitritts zur Europäischen Union überzeugte, sind lange vorbei. Vorbei auch die Zeiten, als österreichische Regierungsmitglieder bei Premieren etwa im Burgtheater gesehen wurden. Vorbei die Zeiten, in denen die Politik auf Überzeugungskraft setzte und den produktiven Streit nicht scheute. Nicht, dass früher alles besser war, das aber war gegeben.

Dann kam der „nationale Schulterschluss“ gegen Sanktionen, dann kam die Liebe in die Kraft der Umfragen, dann kam die demonstrative Unlust, in Interviews Rede und Antwort zu stehen, dann der „gesunde Hausverstand“ als Maß aller Dinge.

Das gab und gibt es auch andernorts. Frau Merkel stilisierte die „schwäbische Hausfrau“ zum Maß aller Haushaltspolitik und ließ Griechenland in finanziellen Nöten angesichts einer Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen schnöde – und folgenreich – im Stich. Vom Brexit und seinen Folgen bis hin zu Frau Truss gar nicht erst zu reden. Aber: Da wie dort, in Deutschland wie in Großbritannien, wird auch noch noch und immer noch und immer wieder in der Sache diskutiert und gestritten. Bisweilen lustvoll auch auf sprachlich und intellektuell hohem Niveau.

In Österreich gilt das als elitär. Als abgehoben. Um nicht zu sagen, als unösterreichisch. Es habe, so wird erzählt, Wiens Langzeitbürgermeister Häupl seine Intellektualität erfolgreich stets hinter einer Art von polterndem Fiakerschmäh versteckt – der Volkstümlichkeit und seiner Wählbarkeit wegen. Das nennt man dann das Volk für dumm verkaufen und der Demokratie einen Bärendienst zu erweisen.

Nur, den anstehenden Herausforderungen und akuten Krisen kommt man auf diese Art und Weise nicht bei. Ein Zaun löst keine Probleme, er begrenzt allenfalls das Denken. (fksk, 18.12.2022)

Woche 07 – Freedom Day

„Freedom Day“, etwas Einfacheres, Plakativeres und Maulfauleres fällt der Politik und den ihr verbundenen Blättern nicht ein, geht es um den Zeitpunkt, zu dem die Masken fallen und mit ihnen alle Beschränkungen der letzten zwei Jahre. Weil es so schön ist, weil Großbritannien bereits seinen Freedom Day gefeiert hat (letztes Jahr schon), weil andere Länder ihn gleichfalls planen und herbeisehnen.

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Freiheit! Tag der Freiheit. Und alles ist wieder gut.

Ist es nicht. Natürlich nicht. Nicht nach zwei Jahren, die die Gesellschaft im Wortsinne in ihrem Innersten verwundet haben. Vielmehr könnte man sagen, dass nach diesen zwei Jahren nichts mehr ist, wie es war. Wenngleich auch diese Aussage schal schmeckt und abgestanden, so oft wurde sie bereits getätigt.

Also, „Freedom Day“. Warum auch nicht? Klingt doch gut. Und lässt die Gesellschaft, Impfbefürworter wie -gegner einmal auf- und durchatmen. Man geht gemeinsam auf ein Bier oder ein Glas Wein, lässt alle Differenzen beiseite, vergisst auch, was in der Zwischenzeit noch so alles ans Tageslicht gekommen ist, freut sich des Lebens und dankt der Politik und ihren Repräsentanten, dass sie der Allgemeinheit diesen wunderbaren Tag gönnen.

Insofern ist die Verwendung dieses Begriffes, „Freedom Day“, geradezu verräterisch. Sie offenbart dem p.t. Publikum, was die verantwortlichen Politiker und -innen sich wünschen: Dass alles wieder gut ist. Vergeben, vergessen, verziehen.

Was ihnen verziehen, oder wenigstens nachgesehen, werden kann, ist, dass sie vor zwei Jahren mit einer Situation konfrontiert waren, wie sie sie noch nie erlebt hatten. Was das Lavieren, die Unsicherheit, den Alarmismus, die Übertreibungen und Zuspitzungen der ersten Zeit erklärt. Da wie dort. Und manch einer, der heute lauthals nach der Freiheit verlangt und die Gesellschaft wie auch die Republik schon in den Fängen einer finsteren Diktatur wähnt, manch einer dieser hatte zu Beginn noch viel härtere Maßnahmen eingefordert.

Sei´s drum. Es ändern sich die Umstände, mit ihnen ändern sich Zugänge und Sichtweisen. Daran wäre denn auch nichts auszusetzen. Wäre, hätten sich die Zugänge denn wirklich geändert. Exakt daran freilich kommen begründete Zweifel auf, lässt man die Performance der Regierung hierzulande, wie auch jene anderer Regierungen anderer Länder Revue passieren. Was im Großen und Ganzen geboten wurde, war ein Lavieren, ein Hoffen und Versprechen, es stünde der Durchbruch im Kampf gegen die Pandemie unmittelbar bevor und wenn nicht morgen, dann übermorgen...

Hier kommt nun die Sprache ins Spiel. Die Sprache, die – und jetzt geht es tatsächlich um die österreichische Regierung –, gegenüber dem Souverän, dem Volk, gepflogen wird.

In zwei Jahren hat es die Bundesregierung mitsamt ihrer drei Kanzler und zwei Gesundheitsminister nie geschafft, mit den Menschen in einen Dialog einzutreten. Vielmehr wurde verkündet, kundgetan, versprochen und gefordert, was jeweils politisch opportun erschien und erscheint, nicht unbedingt was gesundheits-, wirtschafts-, sozial- oder gesellschaftspolitisch vonnöten gewesen wäre. Anstatt zu diskutieren und durch die Debatte die Basis eines gemeinsamen Verständnisses aufzubauen, auf der wiederum Maßnahmen aufsetzen können, die von dem Gros der Bevölkerung mitgetragen werden, haben sich die maßgeblichen Politiker im Marketing versucht. Weil es einfacher ist. Weil man sich die Auseinandersetzung erspart, die intellektuelle Redlichkeit und Kapazitäten voraussetzt. Und weil es gefällige, eingängige Schlagzeilen im Boulevard produziert.

Zugegeben, das ist an und für sich nichts Neues. Die Unlust an der Diskussion, die Verarmung der Sprache im öffentlichen Diskurs hat sich lange schon etabliert. Sie ist keineswegs das herausragende und erstmals auftretende Merkmal dieser Regierung oder dieser Generation an Politikern. Es ist letztlich auch müßig, nach dem Zeitpunkt zu suchen, zu dem diese Entwicklung einsetzt. Diskussions- und debattenfreudig hat sich die österreichische Politik ohnedies noch nie gezeigt. Dass Diskussion aber durch den Austausch von Marketingworthülsen, twitterfähigen Kurzaussagen, durch den Rückzug auf Schlagworte und die permanente Produktion aufwändiger Nebelwände zur Ablenkung von essentiellen Themen fast zur Gänze ersetzt worden ist, hat gerade in den letzten zwanzig Jahren nochmals an Gewicht gewonnen.

Das gilt für die Gesellschaft wie für die Politik. Es ist der öffentliche Diskurs zu einem Gegenüberstellen von Dogmen verkommen. Argumente und Sichtweisen, die der eigenen nicht entsprechen, die sie, schlimmer noch, in Frage stellen, werden als grobe Beleidigung erfahren und rundheraus abgelehnt. Die Bereitschaft, sich mit dem Anderen auseinanderzusetzen, ist auf allen Seiten zurückgegangen. Hüben wie drüben, rechts wie links, oben wie unten.

Tatsächlich ist diese Republik – und dieser Befund gilt gleichermaßen für weite Teile der europäischen Öffentlichkeit – in einen Zustand der fortgeschrittenen Denkfaulheit abgerutscht, der beängstigende Ausmaße angenommen hat.

Wo es zu anstrengend ist, sich mit intellektuellen Zumutungen auseinanderzusetzen, dort greift man flugs zu gefälligen Worten und Begriffen, die allen Kanten ihre Schärfe nehmen, die sie ablutschen, geschmeidig und lieblich machen. Da wird aus einer Krise unversehens die Herausforderung, oder besser noch, die Chance, die es zu nutzen gilt. Es wird die Krise, es werden ihre Auswirkungen damit auch gleich gar nicht mehr zur Kenntnis genommen. Man will ja positiv gestimmt sein und der Zukunft zugewandt. Dann und wann, wenn die Situation danach verlangt, dann darf es auch einmal martialisch klingen, wenn die Politik vor die Medienöffentlichkeit tritt und verkündet, sie werden tun „whatever it takes“, um ein Ziel zu erreichen. Da klingt Tatkraft durch, ohne je spezifiziert werden zu müssen.

Der Austausch im Gespräch, in der Rede, in der Diskussion erfolgt nicht mit der Absicht, mehr zu erfahren, Perspektiven zu öffnen, den Horizont zu erweitern, das eigene Wissen auf den Prüfstand zu stellen und auch die eigene Argumentation, alles das erfolgt vielmehr unter dem Aspekt des unbedingten Rechthabens. Weil es so ist. Und basta.

Manchmal vielleicht auch aus einer Unsicherheit heraus, wenn die deutsche Langzeitkanzlerin bestimmte Politiken als „alternativlos“ darstellte, wohl um schmerzhafte Diskussionen gerade innerhalb ihrer eigenen Partei zu vermeiden – womit sie prompt zur Ausformung einer neuen, radikalen Partei beitrug, die die Alternative im Namen trägt.

Das aber ist die Crux mit der Sprachlosigkeit in der Demokratie. Wer die Auseinandersetzung meidet oder verweigert, trägt dazu bei, dass mehr und mehr Menschen sich ausgeschlossen, ungehört und missachtet fühlen. Menschen, die ihre Sprachlosigkeit dann in Wut umwandeln. Was einer Debatte erst recht nicht zuträglich ist.

Kündigt die Regierung nun einen „Freedom Day“ an, dann will sie einen Schlussstrich ziehen. Unter zwei Jahre weitgehenden Missmanagements einer Gesundheitskrise. Unter all den aufgestauten Ärger, unter die Wut, die sich ungehemmt Bahn bricht. Sie will den notwendigen Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen. Diese längst überfälligen Debatten sieht sie nicht vor. Nicht mit der Gesellschaft, nicht mit den Medien und auch nicht mit dem Parlament. Sie verweigert sich der Aussprache und glaubt, mit Marketingsprech davon- und durchzukommen. Ja eh, und Afrika ist ein Land. (fksk, 20.02.2022)

Woche 48 – Höchste Zeit für Streit

Im Anfang war Mathias Horx. Und mit ihm war die Zuversicht, seine Worte waren schön und beruhigend und aufbauend. Corona, so befand der Zukunftsforscher im März schon auf den Herbst vorwärts rückblickend, habe unsere Gesellschaft entschleunigt, emphatischer und solidarischer werden lassen. Behände und optimistisch skizzierte er Möglichkeiten, die die Zumutungen der Selbstisolation vielen erträglicher werden ließen. So war denn auch die Stimmung der ersten Wochen freundlich, einander zugewandt und mit der Hoffnung versehen, dass alles bald wieder sein werde wie zuvor, nur besser, schöner und echter.

© Eli Maurer / unsplash.com

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Nichts da, es hat sich ausgehorxt.

Jetzt regieren Unmut, Überdruss und der zweite Lockdown. Ein dritter dräut am Horizont. Sebastian Kurz nennt das dann „Licht am Ende des Tunnels“.

Eine Coronaerkrankung, das wird immer öfter beschrieben, geht, auch wenn sie überstanden wird, oftmals mit Langzeitfolgen einher. Apathie, Müdigkeit, Kraftlosigkeit plagen die Genesenen, die sich also so gar nicht genesen fühlen, von gesund gar nicht erst zu sprechen.

Über die Tücke dieses Virus ist viel schon gesagt, geschrieben und gesendet worden. Mag sein, dass mit den neuen Impfstoffen die Wellen der Pandemie eingedämmt und gebrochen werden können, so dass wirklich Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist.

Aber das ist nur ein erster Schritt, die Akutbehandlung.

Was bleibt, das sind die Langzeitfolgen. Nicht nur die gesundheitlichen. Die gesellschaftlichen. Der krude Mix aus Verschwörungsmythen, Esoterik und Globulibürgertum, die unerwarteten Allianzen rechts- und linksextremer Gruppierungen mit Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die sich in Angst und Wut vereint wiederfinden. Vor allem in Wut, ungezügelt, ungehemmt.

Das Virus, auch das schon tausendfach festgehalten, wirkt wie ein Brennglas. Es legt schonungslos die Bruchstellen unserer Gesellschaft frei. Den einen ist es ein Turbo der Veränderung, den anderen ein Brandbeschleuniger.

Und Bruchstellen gibt es, zumal in den westlichen Gesellschaften, zuhauf. Was einmal galt, das gilt nicht mehr. Die Sicherheit, in der besten Welt auf diesem Planeten zu leben, ist perdu. Was nach Wiederaufbau und Wirtschaftswunder schlichtweg als gegeben schien, als garantierte Zukunftsperspektive, ist stückchenweise abhandengekommen. Arbeit zu haben, wenn man denn welche hat, bedeutet nicht mehr steigenden Wohlstand. Bildung nicht mehr sozialen Aufstieg. Die Konkurrenz nimmt auf allen Ebenen zu, wird hart und immer härter.

Die Entwicklungen überschlagen sich, heute dominiert die digitale Transformation das Geschehen, morgen die Potenziale der Gentechnologie und die ganz Zeit über Klimawandel, Artensterben und demografischer Wandel.

Die Welt ist, wenigstens aus westlicher Sicht, kein heimeliger Ort mehr. Sie ist es, das ist die Crux, spürbar nicht mehr. Abgehängt zu sein, das ist nicht nur ein Gefühl, für viele, für zu viele ist es schlichtweg Realität.

So weit so bekannt.

Eine schnelle Lösung ist indes keine in Sicht. Stattdessen Flickschusterei hier und da und dort. Damit mag in ruhigeren Tagen ein wenig Zeit gewonnen werden. In einer Krise, angesichts einer weltweiten Pandemie, deren Folgen nicht und nicht abzuschätzen sind, nicht mehr. Dann bricht mit Vehemenz auf, was bislang notdürftig zugedeckt worden ist.

Gut so, es ist hoch an der Zeit zu streiten. Konstruktiv und leidenschaftlich.

Gerade die Pandemie zeigt, was möglich ist. Nie zuvor ist in so kurzer Zeit, so schnell an Therapien und Impfungen geforscht und gearbeitet worden. Erfolgreich, über alle Grenzen hinweg, von kleinen Einheiten und großen Unternehmen. Dass jetzt, nach zehn Monaten, mindestens zwei vielversprechende Vakzine zur Verfügung stehen, dass sie im Lauf der kommenden Monate auf breiter Basis zum Einsatz kommen können, das kann als Anstoß wahrgenommen werden, endlich auch die großen Themen, die so sehr drücken, zu verhandeln. Um zu einem erneuerten, zu einem neuen Konsens und Gesellschaftsvertrag zu finden.

Einfach ist das nicht. Ebenso wenig wie schnell getan. Gesellschaftliche Debatten, so sie ernsthaft und in der Tiefe geführt werden, brauchen Zeit. Sie brauchen Engagement und sie brauchen Orte, an denen sie geführt werden können. Vor allem müssen sie ehrlich geführt werden, ohne Vorbedingung und ohne im Vorhinein schon zu wissen, was letztendlich dabei herauskommen soll und muss.

Darin aber besteht die Möglichkeit, als Gesellschaft wieder gestaltend tätig zu werden, Trends aktiv zu prägen, anstatt von ihnen geprägt zu werden. Um zu einem neuen Selbstverständnis und Konsens zu gelangen. (fksk/27.11.20)