Woche 48 – Höchste Zeit für Streit

Im Anfang war Mathias Horx. Und mit ihm war die Zuversicht, seine Worte waren schön und beruhigend und aufbauend. Corona, so befand der Zukunftsforscher im März schon auf den Herbst vorwärts rückblickend, habe unsere Gesellschaft entschleunigt, emphatischer und solidarischer werden lassen. Behände und optimistisch skizzierte er Möglichkeiten, die die Zumutungen der Selbstisolation vielen erträglicher werden ließen. So war denn auch die Stimmung der ersten Wochen freundlich, einander zugewandt und mit der Hoffnung versehen, dass alles bald wieder sein werde wie zuvor, nur besser, schöner und echter.

© Eli Maurer / unsplash.com

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Nichts da, es hat sich ausgehorxt.

Jetzt regieren Unmut, Überdruss und der zweite Lockdown. Ein dritter dräut am Horizont. Sebastian Kurz nennt das dann „Licht am Ende des Tunnels“.

Eine Coronaerkrankung, das wird immer öfter beschrieben, geht, auch wenn sie überstanden wird, oftmals mit Langzeitfolgen einher. Apathie, Müdigkeit, Kraftlosigkeit plagen die Genesenen, die sich also so gar nicht genesen fühlen, von gesund gar nicht erst zu sprechen.

Über die Tücke dieses Virus ist viel schon gesagt, geschrieben und gesendet worden. Mag sein, dass mit den neuen Impfstoffen die Wellen der Pandemie eingedämmt und gebrochen werden können, so dass wirklich Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist.

Aber das ist nur ein erster Schritt, die Akutbehandlung.

Was bleibt, das sind die Langzeitfolgen. Nicht nur die gesundheitlichen. Die gesellschaftlichen. Der krude Mix aus Verschwörungsmythen, Esoterik und Globulibürgertum, die unerwarteten Allianzen rechts- und linksextremer Gruppierungen mit Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die sich in Angst und Wut vereint wiederfinden. Vor allem in Wut, ungezügelt, ungehemmt.

Das Virus, auch das schon tausendfach festgehalten, wirkt wie ein Brennglas. Es legt schonungslos die Bruchstellen unserer Gesellschaft frei. Den einen ist es ein Turbo der Veränderung, den anderen ein Brandbeschleuniger.

Und Bruchstellen gibt es, zumal in den westlichen Gesellschaften, zuhauf. Was einmal galt, das gilt nicht mehr. Die Sicherheit, in der besten Welt auf diesem Planeten zu leben, ist perdu. Was nach Wiederaufbau und Wirtschaftswunder schlichtweg als gegeben schien, als garantierte Zukunftsperspektive, ist stückchenweise abhandengekommen. Arbeit zu haben, wenn man denn welche hat, bedeutet nicht mehr steigenden Wohlstand. Bildung nicht mehr sozialen Aufstieg. Die Konkurrenz nimmt auf allen Ebenen zu, wird hart und immer härter.

Die Entwicklungen überschlagen sich, heute dominiert die digitale Transformation das Geschehen, morgen die Potenziale der Gentechnologie und die ganz Zeit über Klimawandel, Artensterben und demografischer Wandel.

Die Welt ist, wenigstens aus westlicher Sicht, kein heimeliger Ort mehr. Sie ist es, das ist die Crux, spürbar nicht mehr. Abgehängt zu sein, das ist nicht nur ein Gefühl, für viele, für zu viele ist es schlichtweg Realität.

So weit so bekannt.

Eine schnelle Lösung ist indes keine in Sicht. Stattdessen Flickschusterei hier und da und dort. Damit mag in ruhigeren Tagen ein wenig Zeit gewonnen werden. In einer Krise, angesichts einer weltweiten Pandemie, deren Folgen nicht und nicht abzuschätzen sind, nicht mehr. Dann bricht mit Vehemenz auf, was bislang notdürftig zugedeckt worden ist.

Gut so, es ist hoch an der Zeit zu streiten. Konstruktiv und leidenschaftlich.

Gerade die Pandemie zeigt, was möglich ist. Nie zuvor ist in so kurzer Zeit, so schnell an Therapien und Impfungen geforscht und gearbeitet worden. Erfolgreich, über alle Grenzen hinweg, von kleinen Einheiten und großen Unternehmen. Dass jetzt, nach zehn Monaten, mindestens zwei vielversprechende Vakzine zur Verfügung stehen, dass sie im Lauf der kommenden Monate auf breiter Basis zum Einsatz kommen können, das kann als Anstoß wahrgenommen werden, endlich auch die großen Themen, die so sehr drücken, zu verhandeln. Um zu einem erneuerten, zu einem neuen Konsens und Gesellschaftsvertrag zu finden.

Einfach ist das nicht. Ebenso wenig wie schnell getan. Gesellschaftliche Debatten, so sie ernsthaft und in der Tiefe geführt werden, brauchen Zeit. Sie brauchen Engagement und sie brauchen Orte, an denen sie geführt werden können. Vor allem müssen sie ehrlich geführt werden, ohne Vorbedingung und ohne im Vorhinein schon zu wissen, was letztendlich dabei herauskommen soll und muss.

Darin aber besteht die Möglichkeit, als Gesellschaft wieder gestaltend tätig zu werden, Trends aktiv zu prägen, anstatt von ihnen geprägt zu werden. Um zu einem neuen Selbstverständnis und Konsens zu gelangen. (fksk/27.11.20)

Franziskus von Kerssenbrock

* 1966 Author, Journalist, Communications Expert Have written for various German and Austrian media (as DIE ZEIT, profil, DER STANDARD, HI!TECH, MERIAN, e.a.) Editor-in-chief at UNIVERSUM MAGAZIN Media Relations for Wirtschaftskammer Wien Head of Corporate Communications Oesterreichische Akademie der Wissenschaften Married, one son