Rund vier Monate schon tobt die Schlacht um Bakhmut. Die Söldnertruppe Wagner verkündet, sie hätte die Ortschaft Soledar erobert, die ukrainische Armee widerspricht. Sicher ist nur, dass die Kämpfe unvermindert anhalten und die russische Armee in dieser Region unter gewaltigem Blutzoll langsam voranrückt. Ob es dem Kreml zu langsam geht, ob General Surovikin (aka General Armageddon) zu wenig Erfolge im Sinne von Eroberungen vorzuweisen hat, aus welchen Gründen auch immer, als Befehlshaber der russischen Truppen in der Ukraine ist er abgelöst und durch General Gerassimov, den Chef des russischen Generalstabs, ersetzt worden. Russlandexperte Mangott kommentiert diesen Schritt mit den Worten, es ersetze der unfähige den fähigen General. Auf Rochaden setzt auch das klerikale Regime in Teheran und greift unter seinen Kommandanten der Polizei auf absolute Hardliner zurück und lässt selbst ehemalige Regierungsmitglieder aus dem Lager der „Moderaten“ hinrichten. Ob das die Revolution noch zu bremsen vermag, ist fraglich. Schon ist aus den Reihen des Regimes selbst die Einschätzung zu hören, dass im Lauf der kommenden drei Monate die Revolution siegreich und die Islamische Republik Geschichte sein werde.
Unterdessen wird in Wien das von Grund auf sanierte Parlamentsgebäude wieder bezogen und in Betrieb genommen. Anlass genug für festliche Akte, Führungen durch das Haus, offene Tage und Programmschwerpunkte des ORF. Auf seinem dritten Kanal wird der „Baumeister der Republik“ gedacht, der Herren Leopold Figl und Julius Raab, Bruno Kreisky und Franz Vranitzky sowie der Nationalratspräsidentin Barbara Prammer. Nun mag es durchaus angehen, sich mit der Geschichte der Republik und ihrer Menschen auseinanderzusetzen. Allein, diese Programmierung lässt das Fehlen zukunftszugewandter Diskussionen umso schmerzlicher missen.
Es ist das Parlament im Idealfall jener Ort, an dem die großen und kleinen Themen verhandelt werden, in dem letztlich die Standortbestimmung, die Selbstvergewisserung einer demokratischen Gesellschaft stattfindet. Das Parlament als Institution ist dazu bereit. Das spiegelt sich in seiner Öffnung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, sei es, weil es nun tatsächlich zugänglicher wird, gleichsam eingebunden in das Leben der Stadt, oder sei es, weil es seine Präsenz im Web radikal neu und bedienerfreundlich gestaltet. Es öffnet zudem seine Bibliothek, es ermöglicht den Bürgerinnen und Bürgern der Republik, von ganz oben, mit bestem Blick, den Plenarsitzungen zu folgen. Es verbindet seine Anfänge als europäisches Protoparlament, damals als Reichsrat mit mehr als 500 Abgeordeneten aus allen Kronländern, insgesamt acht Nationen, mit dem neuen Selbstbewusstsein der wiedererstandenen Republik nach 1945 bis heute, da es das Hohe Haus einer durch und durch diversen Gesellschaft ist. Es erzählt Geschichte, ohne museal zu sein. In gewisser Weise handelt es sich bei dem Gebäude um einen der zugänglichsten und gleichzeitig interessantesten Orte Österreichs. Und um einen der wesentlichsten.
Das ließe sich nutzen, Diskussionen und Debatten zu eröffnen und voranzutreiben, die die Zukunft betreffen und die das Selbstbild Österreichs zu fassen suchen. Mit Diskussionen im Parlament, im Fernsehen, im Radio, in den Medien, auf Bühnen und auf Plätzen, ja, auch auf Skipisten und natürlich „im Netz“. Also dort, wo ohnehin geredet, gesprochen, geschimpft, gestritten und polemisiert wird, jeden Tag und ununterbrochen. Zusehends aber ohne miteinander in Kontakt zu treten, als vielmehr nebeneinander den jeweils eigenen Standpunkt nachgerade dogmatisch zu vertreten und beleidigt, empört oder auch wutentbrannt alle anderen Sichtweisen als die eigene von sich zu weisen. Wir leben in einer Zeit, in der auf allen verfügbaren Kanälen so viel an Meinung geäußert wird wie selten zuvor.
Es kehren National- und Bundesrat zu einem Zeitpunkt in das Parlamentsgebäude am Ring zurück, zu dem die Serie der „Baumeister“ (vielleicht mit Ausnahme des Portraits von Barbara Prammer) nicht mehr Land und Leute spiegelt. Es sind im besten Sinne historische Rückblicke, Aufnahmen aus einem anderen Österreich, nach dem sich viel sehnen, als alles einfacher schien, übersichtlicher, nicht so komplex. Es ist wohlfeile Nostalgie.
Die Wirklichkeit sieht anders aus. Krieg in der Ukraine, Klimakrise überall, Migration und Identitätsdebatten. Von den Alltagsproblemen wie Inflation, Perspektivlosigkeit und dem Verlust des Gewohnten gar nicht erst zu reden. Tatsache ist, die österreichische Gesellschaft ist, wie die gesamte westeuropäische, im Kern verunsichert. Still und leise, schleichend ist der Konsens der Nachkriegsgesellschaft abhandengekommen oder wurde schlicht und einfach aufgekündigt. Weswegen es die Debatte, den Diskurs so dringend braucht wie selten zuvor.
Das wäre ein dem Wiederbezug des Parlaments würdiges Rahmenprogramm, Diskussionen, die ihren Teilnehmern vor allem abverlangen, zuzuhören und zu reflektieren. Debatten, die über die Tagespolitik hinausreichen, die von mehr Menschen geführt werden als von den üblichen Verdächtigen. Ein Diskurs, der sich als Zumutung definiert, weil er das Denken anregt, gegen die Dogmen anstürmt, die uns in unserer Gesamtheit als Gesellschaft starr haben werden lassen. Eine Auseinandersetzung, die in die Tiefe geht und bei der jene, die sie moderieren, darauf zu achten haben, dass alle Beteiligten sich an die Regeln der Debatte halten. Dabei kann, dabei soll alles verhandelt werden.
Im besten Fall gelangen Land und Leute, die Republik und ihre Menschen auf diesem Weg zu einem neuen Konsens darüber, was sie an Grundsätzen und Werten miteinander verbindet. Auch wenn sich dieses Ergebnis so schnell nicht einstellen will, kann die Debattenkultur in Österreich dadurch nur gewinnen – was für sich genommen schon ein grandioses Ergebnis wäre. (fksk, 15.01.23)