Nehammer

Woche 08 – Russlands Krieg, Europas Neubeginn

Woche 52. US-Präsident Biden besucht Kiyv. Putin besucht ein Stadion in Moskau. In Wien beruft Neos zum Jahrestag Russlands Invasion eine Sondersitzung des Nationalrats ein. In Berlin demonstrieren 15.000 mit Wagenknecht und Schwarzer vor dem Brandenburger Tor gegen Waffenlieferungen an die Verteidiger der freien Ukraine. Eine Woche zuvor hat Ungarns Premier Orban in seiner Rede an die Nation Wagenknecht und Schwarzer inhaltlich vorweggenommen.

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Der 24. Februar 2022 bezeichnet ein einschneidendes Datum in der europäischen Geschichte. Das, wovor man die Augen geschlossen hat, wovon man hoffte, es würde einfach nicht eintreten, ist Realität geworden: Krieg mitten in Europa. Krieg zu Wiedererrichtung eines Imperiums. Krieg gegen die internationale Rechtsordnung, gegen die europäische Friedensordnung, gegen das Völkerrecht.

In der Ukraine bedeutet das ganz konkret Vergewaltigungen, Massaker, Folter und Brandschatzung durch russische Soldaten, den organisierten Raub von Kindern, Getreide und Kulturgütern, die Zerstörung aller Hinweise auf ukrainisches Geistesleben. Es ist ein Vernichtungskrieg, der da vor den Augen der Weltöffentlichkeit gegen die Ukraine geführt wird.

Es ist aber auch die Weltöffentlichkeit, die nicht so reagiert, wie die russische Führung rund um Putin das gedacht haben muss. Der Angriff am 24. Februar und der erfolgreiche Widerstand der Ukrainer bedingt ein Umdenken. Von einer Zeitenwende spricht Deutschlands Kanzler Scholz wenige Tage nach Beginn der Invasion. Inzwischen ist Deutschland nach den USA und Großbritannien der drittgrößte Lieferant von Waffen und Waffensystemen an die ukrainische Armee. Wobei fast jeder Lieferung, jeder Festlegung eine schmerzhaft lange Debatte in Deutschland vorausgeht. Die Zeitenwende ist ein langwieriger Prozess, mit einem klaren Ost-West-Gefälle.

Da sind Estland, Lettland und Litauen sowie Polen, die seit Jahr und Tag vor russischen Expansionsgelüsten gewarnt haben – und vom Rest der Europäer im besten Fall als etwas lästig empfunden wurden. Da sind die Länder ganz im Westen wie Frankreich, Spanien und Portugal, denen der Krieg immer noch ferner erscheint als ihren östlichen Nachbarn. Und da sind dann auch noch Länder die Länder in der Mitte, etwa Deutschland, Österreich und Ungarn, die jedes für sich eine spezielle Rolle spielen, die jedes auf seine Art tiefer in diesen Krieg verstrickt sind als gemeinhin sichtbar.

Zum Beispiel Deutschland. Die geopolitische Verflechtung mit Russland reicht weit zurück. Vor genau 101 Jahren führt die Rolle beider Staaten als Außenseiter im europäischen Konzert zum Pakt von Rapallo, der auf wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit hin abzielt. Die junge Sowjetunion wird zum Handelspartner Europas potenziell stärkster Volkswirtschaft. Deutschland wiederum kann im Osten, fernab der Augen Frankreichs und Großbritanniens, seine Truppen ausbilden und mit Waffensystemen vertraut machen, die ihm verboten sind. Nur 17 Jahre später schließen Hitlerdeutschland und Stalinrussland jenen Pakt, der den Zweiten Weltkrieg einläutet, Polen einmal mehr teilt und der Vernichtung durch beide Regime freigibt. Bis Nazideutschland die Sowjetunion überfällt und das heutige Belarus, das Baltikum, die Ukraine sowie die westlichen Regionen Russlands in europäische Killing Fields verwandelt. Wobei die Kumpanei der beiden Regime bis zum Schluss über ihre Gegnerschaft triumphiert. Den Warschauer Aufstand 1944 schlägt die Wehrmacht ungestört von der Roten Armee nieder, die nur kurz vor der polnischen Hauptstadt haltgemacht hat – und darauf wartet, dass die Deutschen ihr Geschäft besorgen, die Vernichtung des polnischen Widerstands. Partner in crime.

Nein, das ist nicht die Basis, auf der das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau heute maßgeblich aufbaut. Aber diese unausgesprochene, subkutane Ebene spielt immer noch in das besondere Verhältnis zwischen Deutschland und Russland hinein und erklärt wenigstens zum Teil das deutsche Streben, die russischen Bedürfnisse und Befindlichkeiten über jene seiner östlichen Nachbarn zu stellen. Ziehen Wagenknecht und Schwarzer mit dem ehemaligen General Vad und dem einstigen Star der deutschen Sozialdemokratie, Lafontaine, vor das Brandenburger Tor, dann manifestiert sich in ihnen dieses Element, das niemals gegen, dafür immer mit Russland arbeiten will. Eine krude Mischung aus rückwärtsgewandtem Romantizismus und Verehrung brutal zur Schau gestellter Macht.

Zum Beispiel Österreich. Bei jenem demaskierenden Auftritt der Herren Fischer und Leitl mit Putin im Festsaal der Wiener Wirtschaftskammer 2014, ist es Leitl der mit Blick auf die Ukraine darauf hinweist, dass 100 Jahre zuvor Lemberg/Lviv als Teil des Kronlandes Galizien eine altösterreichische Metropole war. Putin gluckst und meint, er fürchte sich, vor dem was da nun kommen mag, woraufhin Fischer ihm lachend die Schultern streichelt – unter uns alten Imperien, so kann die Geste gelesen werden, ist ein wenig Spaß erlaubt. Verständnis für imperiale Nostalgie aber ist garantiert.

Denn es verbindet die kleine Republik ein seltsames Verhältnis zur dem einstigen habsburgischen Österreich. Gerne schmückt man sich mit allerlei k.k-Glitter, mit Lipizzanern, Sisi-Kitsch und monarchischem Gepränge. Dem Rest schenkt man weniger Aufmerksamkeit, dem vielsprachigen Reichsrat, der multinationalen Armee, dem Bemühen, das europäische Vielvölkerreich entgegen aller seiner internen Konflikte in das 20. Jahrhundert zu führen (ein Versuch, der damals an Borniertheit und althergebrachten Ehrvorstellungen scheiterte). Nichts schmeichelt der Seele Kleinösterreichs mehr, als wenn man ihr imperiale Größe und Weltgeltung bescheinigt. In der Musik. Im Theater. In Kunst, Kultur und Skifahren. Es kennt die kleine Republik den Phantomschmerz eines verschwundenen Imperiums. Und es war wieder und wieder Putins Russland, das es verstanden hat, diesen speziellen Ton zu treffen, der österreichische Kanzler (als die einzigen EU-Vertreter) zum Wirtschaftsforum in St. Petersburg lockt; der österreichische Außenministerinnen tanzen und knicksen lässt; der das Land einen Hauch einstiger Größe wahrnehmen lässt. Glanz und Gloria in Zuckerguss. Und üppige Geschäfte dazu.

Zum Beispiel Ungarn. Nun wäre Ungarn eigentlich jenes Land, welches historisch am wenigsten mit Russland verbindet, wenigstens nicht im Positiven. Da bittet der junge Kaiser seinen Partner den Zaren vor 175 Jahren um Truppen, die ungarische Revolution niederzuschlagen. Da kommen die russischen Truppen 1956 wieder und schlagen wieder eine Revolution nieder. Bis sie ein junger Mann 1989 in einer aufsehenerregenden Rede auffordert, das Land endlich zu verlassen. Der Abzug der Roten Armee ist auch ein Erfolg des jungen Orban, der damit seine politische Karriere startet. Doch wo die Österreicher mit zuckerglasierter Nostalgie auf die Habsburgermonarchie zurückblicken, fühlt Orban den Schmerz des Verlusts. Der Friedensvertrag von Trianon, 1920 nach den Verträgen von Versailles und St. Germain oktroyiert und nicht verhandelt, reduziert Ungarn auf seinen ethnisch homogenen Kern. Dass in allen seinen Nachbarländern ungarische Minderheiten leben, empfindet ein großer Teil der Ungarn bis heute als ungerecht. Die Karten, auf denen Ungarn in den Grenzen von 1918 dargestellt wird, sind weit verbreitet. Sie sind ein politisches Statement. Es ist der Schmerz um die einstige Dominanz, das Gefühl, vom Westen, von aller Welt betrogen worden zu sein und im Grunde genommen alleine zu stehen. Darin versteht Orban Putin und fühlt sich ihm mehr verbunden als den westlichen Werten, die aus seiner Sicht das wahre Ungarn bedrohen. Eine Partnerschaft in Ablehnung.

Es sind indes immer wieder Schockereignisse, die alte Bindungen und Einstellungen in Frage stellen, in ihrer Wirkmacht abschleifen und langsam verschwinden lassen. Der russische Angriff auf die Ukraine bewirkt genau das. In Deutschland, wo der Russlandromantizismus der Realität nicht mehr standhält und die Politik der letzten 20 Jahre gegenüber Moskau einer kritischen Revision unterzogen wird. Wagenknecht und Schwarzer sind nicht die Mehrheit, selbst wenn sie es zu sein behaupten.

In Österreich wiederum ist die Debatte über das Selbstverständnis der Republik und ihrer Neutralität nicht mehr einzufangen, wenngleich Kanzler Nehammer, artig assistiert von der Sozialdemokratin Rendi-Wagner, das versucht. Es sind die liberalen Neos und, etwas zurückhaltender, die Grünen, die unterstützt und begleitet von Initiativen wie unseresicherheit.org und immer vernehmbareren Stimmen aus der Gesellschaft die Ausrichtung der Republik hinterfragen und diskutieren. Das ist tatsächlich neu und im Grunde überfällig.

Indem Russland mit seiner Invasion die geltende Friedensordnung in Europa zu zerstören sucht, hat es eine Dynamik angestoßen, die seine Instrumentarien der subtilen Macht, den Romantizismus, die Nostalgie nach imperialen Glanz, zusehends stumpf werden lässt. Eine Dynamik, die nicht nur in Deutschland und Österreich (über kurz oder lang auch in Ungarn) zu gravierenden Veränderungen im Selbstbild führen wird, die zudem eine geopolitische Neuausrichtung der gesamten Union zur Folge haben wird.

Das war nicht Putins Intention. (fksk. 26.02.23)

Woche 07 – Nehammers Flucht aus der Verantwortung

Russlands Krieg geht in seiner 51. Woche mit verstärkten Angriffen auf breiter Front und verlustreichen Kämpfen rund um Vuhledar und Bakhmut, mit erneutem Raketenbeschuss ziviler und kritischer Infrastruktur in der Ukraine einher. Den Vorwurf, 6.000 ukrainische Kinder in Umerziehungslager nach Russland deportiert zu haben, weist die Regierung in Moskau zurück. Im Rahmen eines Putin-Interviews dankt eine Journalistin ihrem Präsidenten für die Möglichkeit, einen 15jährigen aus Mariupol adoptiert haben zu können. In russischen TV-Shows erstrecken sich die Ambitionen mittlerweile weit gen Westen, die DDR solle als eine Art russischen Territoriums wiederhergestellt werden. Unterdessen sind dort im Westen Exponenten von ganz rechts und ganz links unverdrossen von den lauteren Absichten Putins überzeugt und fordern also sofortige Verhandlungen ein.

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Um Versöhnung müht sich auch Österreichs Kanzler Nehammer. Konkret um die Aufarbeitung der Covidjahre. Versöhnen will er, Verletzungen heilen, die Lager wieder zusammenführen. Darin wohl sieht er seine Rolle bis zu den Wahlen im Jahr 2024. Man darf davon ausgehen, dass es ihm damit auch ernst ist.

Weswegen es gilt, dem Kanzler ganz genau zuzuhören, wenn er davon spricht, dass im Zuge dieses Prozesses die Experten sich und ihre Entscheidungen erklären müssten. Wobei Nehammer das nicht im Konjunktiv formuliert, er setzt den Indikativ ein. Er gibt in bemerkenswerter Offenheit die Linie vor, wer seines Erachtens ursächlich an den Verwerfungen in der Gesellschaft Schuld hat und dafür Verantwortung trägt: Es sind die Experten, die Mediziner, Gesundheitsmanager, Komplexitätsforscher, es ist die Wissenschaft.

Die Politik, die Regierung, insbesondere der große Koalitionspartner trägt dafür keine Verantwortung. Folgt man der Aussage des Kanzlers, haben sie nur getreulich getan, was ihnen gesagt, um nicht zu sagen, aufgetragen wurde.

Das ist nichts weniger als die Bankrotterklärung eines Regierungschefs und Politikers.

Politik, die sich als nicht verantwortlich sieht, die davor zurückschreckt, für ihre Handlungen einzustehen, die das noch dazu mit der tiefsitzenden österreichischen Abneigung gegen alles, was aus dem Umkreis der universitären Forschung kommt, garniert, nimmt sich aus dem demokratischen Spiel. Mehr noch, sie diskreditiert nicht nur die Wissenschaft und beschädigt in einem Aufwaschen alle anderen politischen Akteure – sie legt Axt an die tragenden Säulen der Republik.

Nehammer steht damit nicht alleine. Die Flucht aus der Verantwortung ist bei vielen Vertretern der politischen Klasse Österreichs zu beobachten. Sie geben sich als von missgünstigen Umständen getrieben, bevormundet und ihres wichtigsten Daseinsgrundes, den Menschen Freude zu bereiten und sie vor den Fährnissen des Alltags und allen Zumutungen zu bewahren, beraubt. Von Experten oder Brüssel oder was es der extern waltenden Kräfte noch geben mag. Sie geben sich als ohnmächtige Opfer der herrschenden Umstände. Aktiv zu gestalten, kommt ihnen nicht in den Sinn.

Nach Gestaltung aber verlangt die Demokratie. Sie baut auf gesellschaftlicher Teilhabe auf und darauf, dass gewählte Vertreter über einen bestimmten Zeitraum Verantwortung übernehmen. Sie bedarf der Akteure, die sich, ihre Arbeit, ihr Streben, ihre Ziele, ihr Handeln und Tun den Menschen erklären, die dafür einstehen, bereit sind dafür zu streiten und die zu überzeugen suchen, die nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Und – die auch irren können.

Das alles macht die Demokratie bisweilen anstrengend und anspruchsvoll. Das macht sie gleichzeitig lebendig und einzigartig. Sie ist das einzige politische System, das den Irrtum als Faktor beherrschbar macht, da er im Zuge von Wahlen korrigiert werden kann. Sie ist ein lernendes System. Wenn man denn zu lernen bereit ist. Aus Entwicklungen, aus Erfolgen wie aus Fehlern.

Das freilich setzt Verantwortungsbewusstsein voraus. Sowie die Bereitschaft, Verantwortung tatsächlich zu übernehmen.

Suggerieren hingegen Politiker, zumal Regierungspolitiker, sie wären innerhalb eines demokratischen Systems nicht verantwortlich, so entziehen sie ihm sein wesentliches Element der Möglichkeit der Korrektur in Form der Abwahl der Verantwortungsträger. Sie stellen das demokratische System damit in letzter Konsequenz in Frage.

Daraus folgt ein schleichend anschwellender Vertrauensverlust der Wähler. Wo sie sich ihres Rechts, Verantwortung zuzuteilen und damit an der politischen Gestaltung teilzuhaben, beraubt sehen, ziehen sie für sich Schlüsse. Manche, indem sie sich zurückziehen und an den demokratischen Prozessen nicht mehr teilnehmen. Andere, indem sie sich den Rändern des politischen Spektrums zuwenden, jenen, die versprechen, dass mit ihnen alles anders wird, zumal das System. Denn, dieser Umstand ist dokumentiert, auch und gerade in der Demokratie erwarten die Menschen Führungsqualitäten.

Mithin nicht die Klage über die obwaltenden Umstände, nicht das Abschieben von Entscheidungen an andere, nicht das schlichte Verwalten und Organisieren des Staates und der Republik. Die Menschen wollen Antworten, auch solche, denen man nicht zustimmt, über die man diskutieren, streiten kann. Sie erwarten Eindeutigkeit, Klarheit, Kompetenz und – Verantwortungsbewusstsein.

Bezeichnet Nehammer nun sich und seine Regierungskollegen als „hörig“ gegenüber Experten und delegiert die Aufarbeitung an eine Kommission, anstatt das Parlament und die Öffentlichkeit aktiv darin einzubinden, so befeuert er die Entfremdung, der er doch eigentlich entgegentreten will. Dazu braucht es aber auch deutlich mehr als eine Rede über die Zukunft und etwas Marketing. Es braucht konkrete Handlungen und Tun, die Bereitschaft zu reden, zu argumentieren, sich der Kritik zu stellen, es braucht klare Positionen. Und es verlangt nach gelebter Verantwortung.

Die aber flieht der Kanzler. In aller Konsequenz. (fksk, 19.02.23)