Joe Biden

Woche 08 – Russlands Krieg, Europas Neubeginn

Woche 52. US-Präsident Biden besucht Kiyv. Putin besucht ein Stadion in Moskau. In Wien beruft Neos zum Jahrestag Russlands Invasion eine Sondersitzung des Nationalrats ein. In Berlin demonstrieren 15.000 mit Wagenknecht und Schwarzer vor dem Brandenburger Tor gegen Waffenlieferungen an die Verteidiger der freien Ukraine. Eine Woche zuvor hat Ungarns Premier Orban in seiner Rede an die Nation Wagenknecht und Schwarzer inhaltlich vorweggenommen.

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Der 24. Februar 2022 bezeichnet ein einschneidendes Datum in der europäischen Geschichte. Das, wovor man die Augen geschlossen hat, wovon man hoffte, es würde einfach nicht eintreten, ist Realität geworden: Krieg mitten in Europa. Krieg zu Wiedererrichtung eines Imperiums. Krieg gegen die internationale Rechtsordnung, gegen die europäische Friedensordnung, gegen das Völkerrecht.

In der Ukraine bedeutet das ganz konkret Vergewaltigungen, Massaker, Folter und Brandschatzung durch russische Soldaten, den organisierten Raub von Kindern, Getreide und Kulturgütern, die Zerstörung aller Hinweise auf ukrainisches Geistesleben. Es ist ein Vernichtungskrieg, der da vor den Augen der Weltöffentlichkeit gegen die Ukraine geführt wird.

Es ist aber auch die Weltöffentlichkeit, die nicht so reagiert, wie die russische Führung rund um Putin das gedacht haben muss. Der Angriff am 24. Februar und der erfolgreiche Widerstand der Ukrainer bedingt ein Umdenken. Von einer Zeitenwende spricht Deutschlands Kanzler Scholz wenige Tage nach Beginn der Invasion. Inzwischen ist Deutschland nach den USA und Großbritannien der drittgrößte Lieferant von Waffen und Waffensystemen an die ukrainische Armee. Wobei fast jeder Lieferung, jeder Festlegung eine schmerzhaft lange Debatte in Deutschland vorausgeht. Die Zeitenwende ist ein langwieriger Prozess, mit einem klaren Ost-West-Gefälle.

Da sind Estland, Lettland und Litauen sowie Polen, die seit Jahr und Tag vor russischen Expansionsgelüsten gewarnt haben – und vom Rest der Europäer im besten Fall als etwas lästig empfunden wurden. Da sind die Länder ganz im Westen wie Frankreich, Spanien und Portugal, denen der Krieg immer noch ferner erscheint als ihren östlichen Nachbarn. Und da sind dann auch noch Länder die Länder in der Mitte, etwa Deutschland, Österreich und Ungarn, die jedes für sich eine spezielle Rolle spielen, die jedes auf seine Art tiefer in diesen Krieg verstrickt sind als gemeinhin sichtbar.

Zum Beispiel Deutschland. Die geopolitische Verflechtung mit Russland reicht weit zurück. Vor genau 101 Jahren führt die Rolle beider Staaten als Außenseiter im europäischen Konzert zum Pakt von Rapallo, der auf wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit hin abzielt. Die junge Sowjetunion wird zum Handelspartner Europas potenziell stärkster Volkswirtschaft. Deutschland wiederum kann im Osten, fernab der Augen Frankreichs und Großbritanniens, seine Truppen ausbilden und mit Waffensystemen vertraut machen, die ihm verboten sind. Nur 17 Jahre später schließen Hitlerdeutschland und Stalinrussland jenen Pakt, der den Zweiten Weltkrieg einläutet, Polen einmal mehr teilt und der Vernichtung durch beide Regime freigibt. Bis Nazideutschland die Sowjetunion überfällt und das heutige Belarus, das Baltikum, die Ukraine sowie die westlichen Regionen Russlands in europäische Killing Fields verwandelt. Wobei die Kumpanei der beiden Regime bis zum Schluss über ihre Gegnerschaft triumphiert. Den Warschauer Aufstand 1944 schlägt die Wehrmacht ungestört von der Roten Armee nieder, die nur kurz vor der polnischen Hauptstadt haltgemacht hat – und darauf wartet, dass die Deutschen ihr Geschäft besorgen, die Vernichtung des polnischen Widerstands. Partner in crime.

Nein, das ist nicht die Basis, auf der das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau heute maßgeblich aufbaut. Aber diese unausgesprochene, subkutane Ebene spielt immer noch in das besondere Verhältnis zwischen Deutschland und Russland hinein und erklärt wenigstens zum Teil das deutsche Streben, die russischen Bedürfnisse und Befindlichkeiten über jene seiner östlichen Nachbarn zu stellen. Ziehen Wagenknecht und Schwarzer mit dem ehemaligen General Vad und dem einstigen Star der deutschen Sozialdemokratie, Lafontaine, vor das Brandenburger Tor, dann manifestiert sich in ihnen dieses Element, das niemals gegen, dafür immer mit Russland arbeiten will. Eine krude Mischung aus rückwärtsgewandtem Romantizismus und Verehrung brutal zur Schau gestellter Macht.

Zum Beispiel Österreich. Bei jenem demaskierenden Auftritt der Herren Fischer und Leitl mit Putin im Festsaal der Wiener Wirtschaftskammer 2014, ist es Leitl der mit Blick auf die Ukraine darauf hinweist, dass 100 Jahre zuvor Lemberg/Lviv als Teil des Kronlandes Galizien eine altösterreichische Metropole war. Putin gluckst und meint, er fürchte sich, vor dem was da nun kommen mag, woraufhin Fischer ihm lachend die Schultern streichelt – unter uns alten Imperien, so kann die Geste gelesen werden, ist ein wenig Spaß erlaubt. Verständnis für imperiale Nostalgie aber ist garantiert.

Denn es verbindet die kleine Republik ein seltsames Verhältnis zur dem einstigen habsburgischen Österreich. Gerne schmückt man sich mit allerlei k.k-Glitter, mit Lipizzanern, Sisi-Kitsch und monarchischem Gepränge. Dem Rest schenkt man weniger Aufmerksamkeit, dem vielsprachigen Reichsrat, der multinationalen Armee, dem Bemühen, das europäische Vielvölkerreich entgegen aller seiner internen Konflikte in das 20. Jahrhundert zu führen (ein Versuch, der damals an Borniertheit und althergebrachten Ehrvorstellungen scheiterte). Nichts schmeichelt der Seele Kleinösterreichs mehr, als wenn man ihr imperiale Größe und Weltgeltung bescheinigt. In der Musik. Im Theater. In Kunst, Kultur und Skifahren. Es kennt die kleine Republik den Phantomschmerz eines verschwundenen Imperiums. Und es war wieder und wieder Putins Russland, das es verstanden hat, diesen speziellen Ton zu treffen, der österreichische Kanzler (als die einzigen EU-Vertreter) zum Wirtschaftsforum in St. Petersburg lockt; der österreichische Außenministerinnen tanzen und knicksen lässt; der das Land einen Hauch einstiger Größe wahrnehmen lässt. Glanz und Gloria in Zuckerguss. Und üppige Geschäfte dazu.

Zum Beispiel Ungarn. Nun wäre Ungarn eigentlich jenes Land, welches historisch am wenigsten mit Russland verbindet, wenigstens nicht im Positiven. Da bittet der junge Kaiser seinen Partner den Zaren vor 175 Jahren um Truppen, die ungarische Revolution niederzuschlagen. Da kommen die russischen Truppen 1956 wieder und schlagen wieder eine Revolution nieder. Bis sie ein junger Mann 1989 in einer aufsehenerregenden Rede auffordert, das Land endlich zu verlassen. Der Abzug der Roten Armee ist auch ein Erfolg des jungen Orban, der damit seine politische Karriere startet. Doch wo die Österreicher mit zuckerglasierter Nostalgie auf die Habsburgermonarchie zurückblicken, fühlt Orban den Schmerz des Verlusts. Der Friedensvertrag von Trianon, 1920 nach den Verträgen von Versailles und St. Germain oktroyiert und nicht verhandelt, reduziert Ungarn auf seinen ethnisch homogenen Kern. Dass in allen seinen Nachbarländern ungarische Minderheiten leben, empfindet ein großer Teil der Ungarn bis heute als ungerecht. Die Karten, auf denen Ungarn in den Grenzen von 1918 dargestellt wird, sind weit verbreitet. Sie sind ein politisches Statement. Es ist der Schmerz um die einstige Dominanz, das Gefühl, vom Westen, von aller Welt betrogen worden zu sein und im Grunde genommen alleine zu stehen. Darin versteht Orban Putin und fühlt sich ihm mehr verbunden als den westlichen Werten, die aus seiner Sicht das wahre Ungarn bedrohen. Eine Partnerschaft in Ablehnung.

Es sind indes immer wieder Schockereignisse, die alte Bindungen und Einstellungen in Frage stellen, in ihrer Wirkmacht abschleifen und langsam verschwinden lassen. Der russische Angriff auf die Ukraine bewirkt genau das. In Deutschland, wo der Russlandromantizismus der Realität nicht mehr standhält und die Politik der letzten 20 Jahre gegenüber Moskau einer kritischen Revision unterzogen wird. Wagenknecht und Schwarzer sind nicht die Mehrheit, selbst wenn sie es zu sein behaupten.

In Österreich wiederum ist die Debatte über das Selbstverständnis der Republik und ihrer Neutralität nicht mehr einzufangen, wenngleich Kanzler Nehammer, artig assistiert von der Sozialdemokratin Rendi-Wagner, das versucht. Es sind die liberalen Neos und, etwas zurückhaltender, die Grünen, die unterstützt und begleitet von Initiativen wie unseresicherheit.org und immer vernehmbareren Stimmen aus der Gesellschaft die Ausrichtung der Republik hinterfragen und diskutieren. Das ist tatsächlich neu und im Grunde überfällig.

Indem Russland mit seiner Invasion die geltende Friedensordnung in Europa zu zerstören sucht, hat es eine Dynamik angestoßen, die seine Instrumentarien der subtilen Macht, den Romantizismus, die Nostalgie nach imperialen Glanz, zusehends stumpf werden lässt. Eine Dynamik, die nicht nur in Deutschland und Österreich (über kurz oder lang auch in Ungarn) zu gravierenden Veränderungen im Selbstbild führen wird, die zudem eine geopolitische Neuausrichtung der gesamten Union zur Folge haben wird.

Das war nicht Putins Intention. (fksk. 26.02.23)

Woche 48 – Pariser Sicherheitsgarantien

Neun Monate Krieg in der Ukraine. Am östlichen Ufer des Dnipro sollen russische Verbände teilweise ihre Stellungen räumen, es soll an einem Ort sogar schon die ukrainische Flagge gehisst worden sein. Genaues weiß man nicht. Vor Bakhmut gehen die schweren Gefechte weiter, die Verluste auf beiden Seiten steigen, die Stadt ist ein Trümmerfeld. Mal heißt es, die ukrainischen Verteidiger seien im Vorteil, dann wieder werden russische Geländegewinne vermeldet. Minimale nur, teuer erkauft. Präsident Macron besucht Präsident Biden, beide meinen, man könne mit Russland verhandeln, wenn...

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...Russland sich aus allen ukrainischen Gebieten zurückziehe und die Integrität des Landes anerkenne, so Biden,...

...und dann ließe sich auch über die Sicherheitsbedürfnisse Russlands reden, meint Macron...

... währenddessen Deutschlands Kanzler Scholz wieder einmal mit Putin telefoniert und erfährt, dass der Krieg, dass das alles längst schon vorüber wäre, unterstützte der Westen nicht die Ukraine. Offenbar liest Russlands Präsident die Aussagen mancher deutscher Intellektueller, Publizisten und Ex-Generäle sehr genau. Denn, so weiß man in diesen Kreisen, längst herrschte wieder Ruhe in Europa, würden die Ukrainer nicht mit Waffen und Systemen und Informationen unterstützt und versorgt. Womit sie ohne jeden Zweifel recht haben. Es herrschte dann Friedhofsruhe in der Ukraine. Im Sinne des Wortes.

Die interessanteste Aussage aber ist jene Macrons, der anbietet, über die Sicherheitsbedürfnisse Russlands verhandeln zu wollen und Russland dabei auch Garantien in Aussicht stellt, Moskaus Ansprüche mithin als gerechtfertigt einstuft. Was angesichts des Umstands, dass es Russland war und ist, welches die Sicherheitsinteressen eines souveränen Staates missachtet, einigermaßen kreativ klingt. Es klingt, verstärkt durch das Telefonat zwischen Berlin und Moskau, einmal mehr nach dem alten Lied, wonach Deutschland und Frankreich nur allzu bereit wären, dem eigenen Wohlergehen ein Stück Ukraine zu opfern. Es ist das alte Lied, wonach Westeuropa feige ist und träge, Osteuropa hingegen voll des Elans, Freiheit und Demokratie zu verteidigen (was angesichts mancher Regierungen im EU-Osten nun auch wieder kreativ klingt). Russland indes tönt zurück, man könne gerne über alles verhandeln, so Kiyv den Verlust aller von Russland eingeforderten Territorien akzeptiere, die Waffen niederlege und weder der EU noch der Nato beitrete.

Womit klar ist, dass dieser Krieg auf dem Schlachtfeld entschieden werden wird, da es nichts gibt, worüber man verhandeln könnte. So einfach ist das.

Was bleibt, ist die Frage, was die Töne aus Paris zu bedeuten haben. Denn dass Macron annimmt, die Ukraine wäre nach ihren beeindruckenden militärischen Erfolgen bereit, Abstriche in ihrem Sicherheitsbedürfnis zu machen, ist unrealistisch. Es passt auch nicht zu den verstärkten Anstrengungen Frankreichs, die Ukraine endlich mit Waffensystemen zu unterstützen. Es passt schon gar nicht zu den freundlichen, gar vertrauten Tönen, die letzthin zwischen Kiyv und Paris zu hören waren. Frankreich ist, wie Deutschland, wie die gesamte EU, in diesem Krieg Partei auf Seiten der Ukraine.

Es ließe sich die Sicherheitsgarantie, die Macron in den Raum gestellt hat, auch anders verstehen. Als Garantie dafür, dass Putin und Russland nach einem verlorenen Krieg nicht in Frage gestellt werden; dass der Westen definitiv kein Interesse daran hat, Russland zerfallen zu sehen; dass der Westen vielmehr ein vitales Interesse daran hat, dass Russland in sicheren und garantierten Grenzen existiert.

Was im ersten Moment undenkbar klingt, ist so unwahrscheinlich nicht. Ein verlorener Krieg, kollabierende russische Sicherheitsstrukturen, eine zusammenbrechende Wirtschaft, Diadochenkämpfe um die Nachfolge Putins und jede Menge alter Rechnungen im Inneren wie auch mit Nachbarstaaten – nichts ist undenkbar. Vielmehr muss man mit allem rechnen.

Nun gibt es Stimmen, die meinen, davon dürfe man sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Gerade diese Sorge würde vom Kreml gezielt gestreut, dabei sei das Beste, was Russland passieren könne, dass dieses alte Imperium endlich zerfalle, ein für allemal und also Platz mache für Neues.

Dieses Neue käme aber verbunden mit einer unerfreulichen Frage, die bereits nach dem Zerfall der Sowjetunion für Unruhe gesorgt hat, der Frage, wer denn über das russische Atomwaffenarsenal – dem größten der Welt –, das Sagen habe. Wer garantiert nach einem Zerfall Russlands, dass die Nachfolgestaaten so verantwortungsbewusst wie seinerzeit die Ukraine handeln und ihre Atomsprengköpfe und -kapazitäten internationaler Kontrolle übergeben? Wer kann sicher gehen, dass unter den Nachfolgestaaten nicht ein zweites Nordkorea entsteht, mit wilden, nuklearen Phantasien und – Möglichkeiten?

Kann man es sich noch vorstellen, dass das Atomwaffenarsenal etwa Pakistans bei einer Machtübernahme durch Taliban von US-Amerikanern gesichert und (wohl mit dem Einverständnis etwa Chinas und Indiens) außer Landes gebracht würde, so ist eine derartige Operation in einem Russland im Chaos nur schwer vorstellbar.

Russland ist, das zeigt dieser Krieg, den es in die Ukraine getragen hat und dort mit aller Gewalt austrägt, ein Koloss auf tönernen Füßen. Seine Armee war bereits im Februar/März schon nicht in der Lage, Kiyv zu erobern. Heute, nach neun Monaten Krieg ist diese Armee in einem noch viel schlechteren Zustand. Heute erscheint die Implosion Russlands eine reale Möglichkeit zu sein.

Vielleicht ist Macrons Angebot der Sicherheitsgarantien also ganz anders zu verstehen, nämlich als das Angebot, dass dieser Moment der Schwäche vom Westen nicht gegen Russland genutzt wird; dass Putin und seine Kamarilla nicht in Frage gestellt werden; dass der Westen keinen Regime-Change in Moskau anstrebt; dass Putin die Möglichkeit hat, den Krieg gegen die Ukraine verloren zu geben ohne Russland zu verlieren.

Es ist vielleicht der letzte Exit, der sich der russischen Regierung bietet. (fksk, 04.12.22)

Woche 18 – Europas Zeitfenster

Woche zehn. In Mariupol wird immer noch um das Stahlwerk gekämpft, ukrainische Truppen gehen bei Charkiv und Izium zum Gegenangriff über und die russische Schwarzmeerflotte verliert mit der Fregatte „Admiral Makarov“ ein weiteres Kampfschiff durch ukrainischen Beschuß. Während in Moskau die Vorbereitungen zur Siegesparade am 9. Mai anlaufen und weltweit darüber spekuliert wird, wie Putin diesen Tag nutzen wird, lädt Selenskij den deutschen Präsidenten Steinmeier und auch gleich noch Kanzler Scholz für denselben Tag nach Kiew. Auf die deutschen Panzer Gepard und die Panzerhaubitzen 2000 wird die Ukraine länger warten müssen. In Deutschland wie in Österreich diskutiert man unterdessen über den Brief der 28.  Und vergisst, dass sich die Welt nicht ausschließlich um deutsche und österreichische Befindlichkeiten dreht.

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Dieser Befund trifft freilich grosso modo auf die gesamte Europäische Union zu. Kommission und Parlament blicken gebannt in die Ukraine und arbeiten emsig an neuen Sanktionen, aber schon macht sich das übliche Abtauschen zwischen den 27 Regierungen wieder breit und bemerkbar. Es herrscht gewissermaßen wieder Alltag in all seiner Behäbigkeit.

Dabei besteht für Behäbigkeit kein Anlass. Das geeinte Auftreten des Westens gegenüber Russland ist allein der Tatsache geschuldet, dass Joe Biden US-Präsident ist, im Senat und Repräsentantenhaus (noch) die Mehrheit hat und die Antworten des westlichen Staatengemeinschaft klug dirigiert.

Die Frage ist nur, wie lange noch?

Im November finden die Midterms statt. Dass Senat und Repräsentantenhaus an die Republikaner fallen, ist nicht ausgemacht. Liegt aber im Bereich des Möglichen. Des sehr Möglichen. Für Biden bedeutete so ein Ausgang die totale Blockade durch den Kongress.

Und in zwei Jahren wählen die US-Bürger einen neuen Präsidenten. Und wieder ist es nicht ausgemacht, liegt aber im Bereich des Möglichen, dass Trump zum zweiten Mal in das Weiße Haus einzieht. Oder einer seiner Adepten.

Damit wäre der momentan vorherrschende transatlantische Konsens aller Wahrscheinlichkeit nach Geschichte. Und Europa, die Europäische Union, fände sich ohne Rückendeckung wieder. Vielmehr in einer Zwickmühle.

Man hat Tschetschenien weitgehend ausgeblendet, den Georgienkrieg 2008 klein geredet, den ersten Ukrainekrieg 2014 versucht, schnell wieder zu vergessen und war dann vom zweiten Ukrainekrieg und der Tatsache, dass Russland sich in einem allumfassenden Konflikt mit dem Westen sieht, auf das Höchste überrascht.

Nach demselben Muster droht die nächste Überraschung, wenn die USA sich aus Europa zurückziehen, über die Köpfe der EU hinweg Abmachungen mit Russland treffen, schlichtweg alle transatlantischen Stärken in den Kübel treten.

Es bleibt Europa nur ein kleines, eng bemessenes Zeitfenster, sich neben all den anderen Aufgaben, die dringlich sind, auf genau dieses Szenario einzustellen. Möglicherweise arbeiten ja tatsächlich in den vielen Thinktanks und Gremien, die sich in den 27 Hauptstädten tummeln, viele ausgewiesene Experten unermüdlich ohne Unterlass daran, für dieses Szenario gerüstet zu sein, den leeren Raum, der durch eine mögliche Abkehr der USA entsteht, durch die EU kraftvoll und kreativ zu füllen und zu nutzen. Möglicherweise arbeiten Kommission und Parlament längst schon und intensiv daran, die Außenpolitik der 27 zu einer Außenpoilitik aus einem Guß zu machen, legen die Fundamente für eine reibungslos und effizient funktionierende europäische Sicherheitsstruktur inklusive aller militärischen Kapazitäten und haben die Lösung und die Umsetzung, Europas Abhängigkeit von fossilen Energieträgern binnen kürzester Zeit auf ein absolutes Minimum zu reduzieren.

Joe Bidens Präsidentschaft ist ein Glücksfall für Europa. Gerade angesichts der russischen Aggression in der Ukraine. Es darf nur der Umstand, dass ein transatlantisch geprägter und auf Zusammenarbeit bedachter Joe Biden im Weißen Haus amtiert, nicht als gegeben angenommen werden. Schon Obama hatte klar zu verstehen gegeben, dass die Interessen der USA in Zukunft auf den pazifischen Raum fokussieren würden. Europa kann und darf sich nicht darauf verlassen, dass im Fall des Falles die USA in die Bresche springen. Vielmehr muss sich die Union mit Szenarien auseinandersetzen, in denen die USA nicht mehr nur ein ökonomischer Konkurrent, sondern auch ein politischer Gegner sein können. Die Zeitenwende, die der deutsche Kanzler im Februar im Bundestag beschworen hat, diese Zeitenwende wird viel an Überraschungen parat halten. Nur, sich nochmals davon überraschen zu lassen, dass die USA einen anderen Weg als Europa einschlagen, das ist selbst im Rahmen der Unwägbarkeiten dieser Zeitenwende keine Option.

Der Krieg in der Ukraine, das besondere Gewicht der USA und ihre innere Verfasstheit, sollten Grund genug dafür sein, die Union rasch wetterfest zu machen. Nicht allein als ökonomischen Block, sondern gerade als politischen Machtfaktor, der in der Lage ist, seine Interessen auf dem eigenen Kontinent und in der Welt auch ohne US-amerikanische Unterstützung zu vertreten. Im Fall des Falles sogar gegen US-Interessen.

Die Zeit drängt. (fksk, 08.05.22)

Woche 46 – Joe und der gordische Knoten

Joe Biden hat die US-Präsidentschaftswahl gewonnen. Er hat sie klar gewonnen, in absoluten Zahlen wie auch an Wahlmännern. Nur war es nicht der von vielen erhoffte Erdrutschsieg, nicht die überwältigende Absage an den Trumpismus, auf den Kommentatoren und Beobachter hofften, von dem sie geradezu ausgingen. Die Wählerinnen und Wähler der USA haben stattdessen dafür gesorgt, dass keine Seite uneingeschränkte Oberhoheit hat und die Themen der Trump-Wählerschaft relevant bleiben.

© Kevin Grieve / unsplash.com

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Das kann man als fatal ansehen, als Fortschreibung der Pattsituation zwischen den wie auch immer liberalen Küsten und urbanen Zentren sowie den konservativen ländlichen Gebieten der Vereinigten Staaten. Mithin als fortschreitende Schwächung der USA, da die Biden-Präsidentschaft sich in erster Linie darauf wird konzentrieren müssen, Vertrauen herzustellen, der Gesprächsbereitschaft in Trippelschritten den Weg zu bahnen, mühselig Kompromiss auf Kompromiss mit den Republikanern zu zimmern.

Joe Biden ist nachgerade mit einem gordischen Knoten konfrontiert.

Die Lösung Alexander des Großen, den Knoten mit einem Schwerthieb zu durchtrennen, ist, wiewohl als kühne Tat und Ausweis seines Sendungsbewusstseins und Anbruch einer neuen Zeit gefeiert, eine reichlich simple. Bei einem realen Knoten mag sie angehen. Bei einem gordischen Knoten, wie er sich in den unterschiedlichen, krass divergierenden Lebenswelten und Erwartungshaltungen der US-Bevölkerung darstellt ist ein wie auch immer gearteter Schwerthieb keine Lösung.

Vielmehr braucht es Geduld und Fingerspitzengefühl. Joe Biden könnte sich in dieser Situation als die in jeder Hinsicht richtige Wahl herausstellen.

Der Mann ist seit einer gefühlten Ewigkeit in der US-Politik zu Hause. Er kennt, wie kaum ein anderer, die Kniffe und Befindlichkeiten. Er weiß seine Gegner (von denen er mehr als genug auch in der eigenen Partei hat) gut einzuschätzen. Wichtiger noch, er ist kein Haudrauf.

Das hat er allein in den Tagen seit er zum Sieger ausgerufen worden ist unter Beweis gestellt. Mit einer versöhnlichen Rede, mit Ruhe, mit ersten personellen Entscheidungen, indem er Tatsachen schafft, anstatt triumphal als zu feiern. Er verschafft den USA jetzt schon eine erste, dringend benötigte Atempause.

Die Querschüsse aus den Reihen der Republikanischen Partei, die Klagen, Unterstellungen, Vorwürfe des Wahlbetrugs, die offene Obstruktion durch die Trump-Administration lässt er ins Leere laufen – trotzdem nie zuvor ein US-Präsident mehr Stimmen auf sich vereint hat als er. Möglicherweise weil er sich des Umstands bewusst ist, dass auch nie ein amtierender Präsident mehr Stimmen erhalten hat als Trump.

Biden ist nicht der Typ, der große Emotionen hervorruft. Darin sind, bei allen gravierenden Unterschieden, Obama und Trump einander weitaus ähnlicher. Mit ihm werden keine großen Heilserwartungen verbunden. Weder von der Linken (die so viel lieber doch Bernie Sanders gesehen hätte), geschweige denn von der Rechten. Womit sich ihm die Chance bietet, die Mitte zu definieren, dem Zentrum jenes Gewicht zu verleihen, Diskurshoheit und Debattenfähigkeit zurück zu erlangen. Was wiederum voraussetzt, die andere Seite zu hören, auf ihre Argumente einzugehen, sich inhaltlich mit ihr zu beschäftigen.

Genau daran mangelt es in den USA (und nicht nur den USA). Die Fähigkeit und die Geduld sich mit Ansichten auseinanderzusetzen, die einem fremd sind, die eine Zumutung darstellen, die man eigentlich gar nicht denken geschweige den hören will. Das freilich ist das Wesen einer demokratischen Gesellschaft. Sie ist nie einfach, sie kann nicht auf Kommando funktionieren, sie verlangt nach dem Streitgespräch und nach Teilnehmern, die nicht sofort beleidigt sind, so sie mit anderen Sichtweisen konfrontiert werden. Demokratie ist eine langwierige Sache und eine ununterbrochene Zumutung.

Joe Biden, seit 48 Jahren inmitten des politischen Geschehens, weiß das. Er wird den gordischen Knoten vielleicht nicht lösen können. Aber er kann ihn wenigstens so weit lockern, um wieder Bewegung zwischen den Lagern zu ermöglichen.

Allein das würde seine Präsidentschaft zu einer herausragenden machen. (fksk/15.11.20)

Woche 37 – Die lieben Nachbarn

Acht Wochen noch, dann sind die US-Präsidentschaftswahlen geschlagen. Ob sie entschieden sein werden, steht dahin. Acht Wochen noch, während derer das Stakkato an Tweets, Schlagzeilen, Auf- und Erregung sich täglich noch mehr steigern wird. Acht Wochen, in denen es nicht mehr um das Überzeugen oder die Macht des besseren Arguments gehen wird, als vielmehr darum, die eigenen Wähler zu mobilisieren. Auf Teufel komm raus.

© envision film, Susanne Brandstätter

© envision film, Susanne Brandstätter

Donnerstag abends, Wien. Im Metro Kino läuft „This Land Is My Land“ von Susanne Brandstätter. Ein bemerkenswerter Film. Brandstätter, in den USA geboren und aufgewachsen, seit Jahrzehnten in Europa beheimatet, sucht Trump Wähler auf. Zu seiner Amtseinführung, zu den ersten hundert Tagen im Amt und dann noch einmal, 2018, zu den Midterm Elections.

Sie lässt sie reden. Erklären, weshalb sie diesen Mann nicht nur gewählt haben, vielmehr weshalb sie ihm so sehr vertrauen. Brandstätter hört zu, die Kamera zeichnet auf, weshalb auch das Publikum nicht anders kann, als zuzuhören und zu sehen.

Es ist alles vertraut. Die Menschen, die Brandstätter im Swingstate Ohio aufsucht, diese Menschen gibt es exakt so hier in Europa, in Österreich, Deutschland, Frankreich, Portugal und Schweden. Es sind unsere Nachbarn. Keine monströsen Gestalten, keine Karikaturen.

Vor allem, sie meinen es ehrlich. Es eint sie das über lange Zeit gewachsene Gefühl, dass diesem Land etwas verloren gegangen ist. Die Einheit. Die Sicherheit geordneter Verhältnisse. Dass das, was ihnen wichtig war und ist nicht nur in Frage gestellt, sondern in Abrede gestellt wird. Hillary Clinton hat sie einmal als „Deplorables“ bezeichnet. Sie hat das nicht im Sinne von „bedauernswert“ oder „beklagenswert“ gemeint als vielmehr im Sinne von „elend“, „kläglich“, von „erbärmlich“.

© envision film, Susanne Brandstätter

© envision film, Susanne Brandstätter

Susanne Brandstätter hingegen versucht zu verstehen. „Meine goldene Regel war: Streite nicht, höre zu. Eine Regel, an die ich mich gehalten habe – obwohl es oft nicht einfach war“, hält sie fest. „In meinem Versuch zu verstehen, warum diese Wähler für Trump waren, lernte ich sie auch kennen – ich tauschte mich mit unseren Protagonistinnen und Protagonisten aus und begann sie zu verstehen.

Dann passierte etwas Seltsames: Ich fing an, unsere Protagonisten zu mögen.“

Corona hat verhindert, dass Brandstätter dieses Jahr nochmals nach Ohio reisen konnte. Dennoch steht sie mit den meisten ihrer Gesprächspartner in Kontakt. Via Mail, via Skype. Bis auf einen jungen Mann werden sie wieder für Trump stimmen.

Im November vor vier Jahren soll Joe Biden zu Barack Obama gesagt haben, es wäre besser gewesen, er hätte anstelle von Hillary Clinton kandidiert. Regular Joe gegen The Donald. Er, Biden, hätte besser mobilisiert, die enttäuschten, tendenziell konservativeren Anhänger der Demokraten, die Arbeiter im Rust Belt, all jene, die in der Wahl zwischen Clinton und Trump die Wahl zwischen Pest und Cholera sahen, der sie sich durch ihr Fernbleiben von der Urne entzogen. Mit bekannten Folgen.

Donald Trump genießt unter seinen Anhängern ungebrochen Vertrauen und Zuspruch. Daran ändert seine Politik nichts und auch nicht seine erratischen Auftritte, seine Twittertiraden. Zustimmung und Ablehnung haben sich in den letzten vier Jahren nur marginal verändert. Wen Trump bis heute nicht überzeugt hat, den wird er nicht mehr überzeugen. Gleiches gilt für Biden.

Alles, worum es jetzt geht, ist die Mobilisierung der Indifferenten, der Zögerlichen, jener, die 2016 nicht zur Wahl gegangen sind in den Swing States, in denen wenige tausend Stimmen über die Präsidentschaft entscheiden. Es wird laut werden und schrill in diesen Bundestaaten und weit darüber hinaus.

Viel schriller als es auch den Protagonisten in „This Land Is My Land“ lieb ist. Eigentlich wünschen sie sich einen Präsidenten, eine Politik, die wieder vereint, die Brücken baut und Gräben, tiefe Gräben, überwindet. Einfach, indem man einander wieder zuhört, ohne vorab zu urteilen.

„Das bedeutet nicht“, so Brandstätter, „dass wir nachgeben müssen, wenn es um Streitpunkte geht, die für uns wichtig sind – oder, dass wir unsere Grundwerte in Frage stellen. Aber es bedeutet, dass wir lernen mit der anderen Seite zu kommunizieren – dass wir mit den Ursachen unserer Spaltung lernen umzugehen, anstatt sie nur zu verdrängen.“

Das gilt für die USA wie es für die europäischen Demokratien gilt. (fksk, 12.09.20)

 

„This Land Is My Land“ ist derzeit in Kinos in ganz Österreich zu sehen. Informationen unter thislandismyland-film.com