Neutralität

Woche 43 – Politik ohne Grundlage

Es soll, so Estlands Premierministerin Kaja Kallas in einem Interview, der österreichische Kanzler Karl Nehammer ihr gegenüber festgehalten haben, dass Russland seine Verpflichtungen gegenüber Österreich stets eingehalten hätte. Nun gibt es Verpflichtungen und Verpflichtungen, solche, die bilateral abgeschlossen werden und solche, auf denen etwa eine internationale Ordnung beruht, die mithin eine Vielzahl an Partnern umfasst, die dadurch den Einzelstaat in ein größeres Ganzes einbettet.

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Die europäische Nachkriegsordnung sowie die Ordnung nach 1989, von der Schlussakte von Helsinki 1977 bis hin zum Budapester Memorandum 1994 sind allumfassende Vertragswerke. Das Memorandum, in dem die Ukraine ihr Atomwaffenarsenal gegen die Zusicherung sicherer Grenzen abgibt, ist eines, das in seiner Bedeutung weit über die Signatarstaaten hinausgreift und damit auch ein Land wie Österreich wenigstens mittelbar betrifft. Umso mehr, wenn das Abkommen, das Papier nicht wert ist, auf dem es geschrieben steht.

Spätestens mit dem 24. Februar 2022 hat Russland unverholen gezeigt, was es von der europäischen Ordnung, von ihren Prinzipien und Übereinkünften hält: nichts. Insofern hat Russland sehr wohl und massiv gegen grundlegende Verträge, an denen Österreich als Vertragspartner höchstes Interesse hat, gebrochen. Dieser Umstand sollte dem Kanzler sehr wohl bewusst sein. Er sollte ihn in Worte und in Politik fassen können.

Stattdessen gewinnt man den Eindruck, die Regierung in Wien hoffe nach wie vor, dass der russische Krieg gegen die Ukraine sich irgendwie auflösen ließe, wenn schon nicht in Wohlgefallen dann wenigstens in einem wie auch immer gearteten Zustand des Nichtkrieges, der es Österreich und anderen ermöglicht, zur Vorkriegspolitik zurückzukehren.

Allein, ein Zurück ist nicht möglich. Der 24. Februar 2022, die Massaker von Butscha und Irpin, die Folter, die Vergewaltigungen, die Entführungen, der nackte Terror, den die russische Kriegsführung gegen die ukrainische Zivilbevölkerung von der Leine gelassen hat, die Großmachtbestrebungen des Moskauer Regimes, seine glasklare Absage an die Kultur und die Werte des Westens, seine offen demonstrierte Kumpanei mit diktatorischen Regimen wie Nordkorea, sein freundlicher Empfang der Gesandten der Terrororganisation Hamas, seine gemeinsamen Interessen mit dem fundamentalistischen Mullah Regime in Iran, das alles ist ein Bruch aller Vereinbarungen und Verpflichtungen, die Russland je mit den Ländern des Westens, insbesondere Europas, eingegangen ist. Also auch mit Österreich. Dieser Bruch ändert alles.

Dass diese Einsicht in Österreich nicht wohlgelitten ist, ist kein Geheimnis. Eine wahrhaft große Koalition von ehemaligen bis hin zu aktiven Politikern, von Sozialdemokraten, Volkspartei und Freiheitlichen in Bund und Ländern will alles, nur den Bruch nicht wahrnehmen. Und wenn, dann bitte als einen Bruch zwischen zwei Systemen, den man – wie weiland Kreisky – überbrücken müsse (die Wahrnehmung Kreiskys als genialer Weltpolitiker ist ein weiteres Mysterium Österreichs).

Die österreichische Lösung liegt mithin nicht in einer auf Gegenwart und Zukunft ausgerichteten Politik, sie liegt in der Besinnung auf eine Vergangenheit, deren Rahmenbedingungen Putin indes gezielt, gewaltsam und aus freien Stücken zerstört hat. Es wird in Wiens politischen Kreisen also konsequent Politik gedacht, die jeder realen Grundlage entbehrt. So erklärt sich denn auch Nehammers Kommentar gegenüber Kallas. Zuversichtlich stimmt das nicht. (fksk, 29.10.23)

Woche 08 – Russlands Krieg, Europas Neubeginn

Woche 52. US-Präsident Biden besucht Kiyv. Putin besucht ein Stadion in Moskau. In Wien beruft Neos zum Jahrestag Russlands Invasion eine Sondersitzung des Nationalrats ein. In Berlin demonstrieren 15.000 mit Wagenknecht und Schwarzer vor dem Brandenburger Tor gegen Waffenlieferungen an die Verteidiger der freien Ukraine. Eine Woche zuvor hat Ungarns Premier Orban in seiner Rede an die Nation Wagenknecht und Schwarzer inhaltlich vorweggenommen.

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Der 24. Februar 2022 bezeichnet ein einschneidendes Datum in der europäischen Geschichte. Das, wovor man die Augen geschlossen hat, wovon man hoffte, es würde einfach nicht eintreten, ist Realität geworden: Krieg mitten in Europa. Krieg zu Wiedererrichtung eines Imperiums. Krieg gegen die internationale Rechtsordnung, gegen die europäische Friedensordnung, gegen das Völkerrecht.

In der Ukraine bedeutet das ganz konkret Vergewaltigungen, Massaker, Folter und Brandschatzung durch russische Soldaten, den organisierten Raub von Kindern, Getreide und Kulturgütern, die Zerstörung aller Hinweise auf ukrainisches Geistesleben. Es ist ein Vernichtungskrieg, der da vor den Augen der Weltöffentlichkeit gegen die Ukraine geführt wird.

Es ist aber auch die Weltöffentlichkeit, die nicht so reagiert, wie die russische Führung rund um Putin das gedacht haben muss. Der Angriff am 24. Februar und der erfolgreiche Widerstand der Ukrainer bedingt ein Umdenken. Von einer Zeitenwende spricht Deutschlands Kanzler Scholz wenige Tage nach Beginn der Invasion. Inzwischen ist Deutschland nach den USA und Großbritannien der drittgrößte Lieferant von Waffen und Waffensystemen an die ukrainische Armee. Wobei fast jeder Lieferung, jeder Festlegung eine schmerzhaft lange Debatte in Deutschland vorausgeht. Die Zeitenwende ist ein langwieriger Prozess, mit einem klaren Ost-West-Gefälle.

Da sind Estland, Lettland und Litauen sowie Polen, die seit Jahr und Tag vor russischen Expansionsgelüsten gewarnt haben – und vom Rest der Europäer im besten Fall als etwas lästig empfunden wurden. Da sind die Länder ganz im Westen wie Frankreich, Spanien und Portugal, denen der Krieg immer noch ferner erscheint als ihren östlichen Nachbarn. Und da sind dann auch noch Länder die Länder in der Mitte, etwa Deutschland, Österreich und Ungarn, die jedes für sich eine spezielle Rolle spielen, die jedes auf seine Art tiefer in diesen Krieg verstrickt sind als gemeinhin sichtbar.

Zum Beispiel Deutschland. Die geopolitische Verflechtung mit Russland reicht weit zurück. Vor genau 101 Jahren führt die Rolle beider Staaten als Außenseiter im europäischen Konzert zum Pakt von Rapallo, der auf wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit hin abzielt. Die junge Sowjetunion wird zum Handelspartner Europas potenziell stärkster Volkswirtschaft. Deutschland wiederum kann im Osten, fernab der Augen Frankreichs und Großbritanniens, seine Truppen ausbilden und mit Waffensystemen vertraut machen, die ihm verboten sind. Nur 17 Jahre später schließen Hitlerdeutschland und Stalinrussland jenen Pakt, der den Zweiten Weltkrieg einläutet, Polen einmal mehr teilt und der Vernichtung durch beide Regime freigibt. Bis Nazideutschland die Sowjetunion überfällt und das heutige Belarus, das Baltikum, die Ukraine sowie die westlichen Regionen Russlands in europäische Killing Fields verwandelt. Wobei die Kumpanei der beiden Regime bis zum Schluss über ihre Gegnerschaft triumphiert. Den Warschauer Aufstand 1944 schlägt die Wehrmacht ungestört von der Roten Armee nieder, die nur kurz vor der polnischen Hauptstadt haltgemacht hat – und darauf wartet, dass die Deutschen ihr Geschäft besorgen, die Vernichtung des polnischen Widerstands. Partner in crime.

Nein, das ist nicht die Basis, auf der das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau heute maßgeblich aufbaut. Aber diese unausgesprochene, subkutane Ebene spielt immer noch in das besondere Verhältnis zwischen Deutschland und Russland hinein und erklärt wenigstens zum Teil das deutsche Streben, die russischen Bedürfnisse und Befindlichkeiten über jene seiner östlichen Nachbarn zu stellen. Ziehen Wagenknecht und Schwarzer mit dem ehemaligen General Vad und dem einstigen Star der deutschen Sozialdemokratie, Lafontaine, vor das Brandenburger Tor, dann manifestiert sich in ihnen dieses Element, das niemals gegen, dafür immer mit Russland arbeiten will. Eine krude Mischung aus rückwärtsgewandtem Romantizismus und Verehrung brutal zur Schau gestellter Macht.

Zum Beispiel Österreich. Bei jenem demaskierenden Auftritt der Herren Fischer und Leitl mit Putin im Festsaal der Wiener Wirtschaftskammer 2014, ist es Leitl der mit Blick auf die Ukraine darauf hinweist, dass 100 Jahre zuvor Lemberg/Lviv als Teil des Kronlandes Galizien eine altösterreichische Metropole war. Putin gluckst und meint, er fürchte sich, vor dem was da nun kommen mag, woraufhin Fischer ihm lachend die Schultern streichelt – unter uns alten Imperien, so kann die Geste gelesen werden, ist ein wenig Spaß erlaubt. Verständnis für imperiale Nostalgie aber ist garantiert.

Denn es verbindet die kleine Republik ein seltsames Verhältnis zur dem einstigen habsburgischen Österreich. Gerne schmückt man sich mit allerlei k.k-Glitter, mit Lipizzanern, Sisi-Kitsch und monarchischem Gepränge. Dem Rest schenkt man weniger Aufmerksamkeit, dem vielsprachigen Reichsrat, der multinationalen Armee, dem Bemühen, das europäische Vielvölkerreich entgegen aller seiner internen Konflikte in das 20. Jahrhundert zu führen (ein Versuch, der damals an Borniertheit und althergebrachten Ehrvorstellungen scheiterte). Nichts schmeichelt der Seele Kleinösterreichs mehr, als wenn man ihr imperiale Größe und Weltgeltung bescheinigt. In der Musik. Im Theater. In Kunst, Kultur und Skifahren. Es kennt die kleine Republik den Phantomschmerz eines verschwundenen Imperiums. Und es war wieder und wieder Putins Russland, das es verstanden hat, diesen speziellen Ton zu treffen, der österreichische Kanzler (als die einzigen EU-Vertreter) zum Wirtschaftsforum in St. Petersburg lockt; der österreichische Außenministerinnen tanzen und knicksen lässt; der das Land einen Hauch einstiger Größe wahrnehmen lässt. Glanz und Gloria in Zuckerguss. Und üppige Geschäfte dazu.

Zum Beispiel Ungarn. Nun wäre Ungarn eigentlich jenes Land, welches historisch am wenigsten mit Russland verbindet, wenigstens nicht im Positiven. Da bittet der junge Kaiser seinen Partner den Zaren vor 175 Jahren um Truppen, die ungarische Revolution niederzuschlagen. Da kommen die russischen Truppen 1956 wieder und schlagen wieder eine Revolution nieder. Bis sie ein junger Mann 1989 in einer aufsehenerregenden Rede auffordert, das Land endlich zu verlassen. Der Abzug der Roten Armee ist auch ein Erfolg des jungen Orban, der damit seine politische Karriere startet. Doch wo die Österreicher mit zuckerglasierter Nostalgie auf die Habsburgermonarchie zurückblicken, fühlt Orban den Schmerz des Verlusts. Der Friedensvertrag von Trianon, 1920 nach den Verträgen von Versailles und St. Germain oktroyiert und nicht verhandelt, reduziert Ungarn auf seinen ethnisch homogenen Kern. Dass in allen seinen Nachbarländern ungarische Minderheiten leben, empfindet ein großer Teil der Ungarn bis heute als ungerecht. Die Karten, auf denen Ungarn in den Grenzen von 1918 dargestellt wird, sind weit verbreitet. Sie sind ein politisches Statement. Es ist der Schmerz um die einstige Dominanz, das Gefühl, vom Westen, von aller Welt betrogen worden zu sein und im Grunde genommen alleine zu stehen. Darin versteht Orban Putin und fühlt sich ihm mehr verbunden als den westlichen Werten, die aus seiner Sicht das wahre Ungarn bedrohen. Eine Partnerschaft in Ablehnung.

Es sind indes immer wieder Schockereignisse, die alte Bindungen und Einstellungen in Frage stellen, in ihrer Wirkmacht abschleifen und langsam verschwinden lassen. Der russische Angriff auf die Ukraine bewirkt genau das. In Deutschland, wo der Russlandromantizismus der Realität nicht mehr standhält und die Politik der letzten 20 Jahre gegenüber Moskau einer kritischen Revision unterzogen wird. Wagenknecht und Schwarzer sind nicht die Mehrheit, selbst wenn sie es zu sein behaupten.

In Österreich wiederum ist die Debatte über das Selbstverständnis der Republik und ihrer Neutralität nicht mehr einzufangen, wenngleich Kanzler Nehammer, artig assistiert von der Sozialdemokratin Rendi-Wagner, das versucht. Es sind die liberalen Neos und, etwas zurückhaltender, die Grünen, die unterstützt und begleitet von Initiativen wie unseresicherheit.org und immer vernehmbareren Stimmen aus der Gesellschaft die Ausrichtung der Republik hinterfragen und diskutieren. Das ist tatsächlich neu und im Grunde überfällig.

Indem Russland mit seiner Invasion die geltende Friedensordnung in Europa zu zerstören sucht, hat es eine Dynamik angestoßen, die seine Instrumentarien der subtilen Macht, den Romantizismus, die Nostalgie nach imperialen Glanz, zusehends stumpf werden lässt. Eine Dynamik, die nicht nur in Deutschland und Österreich (über kurz oder lang auch in Ungarn) zu gravierenden Veränderungen im Selbstbild führen wird, die zudem eine geopolitische Neuausrichtung der gesamten Union zur Folge haben wird.

Das war nicht Putins Intention. (fksk. 26.02.23)

Woche 04 – Heinz Fischer oder: Die Welt von Gestern

Vier Wochen noch bis zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine. Deutschland gibt den Leopard frei, die USA sichern Kyiv Abrams M1 Panzer zu, Polen liefert zusätzlich ältere Modelle der sowjetischen T-Serie. Die Schlacht um Bakhmut hält unvermindert an, Kyiv spricht von einer schwierigen Lage, in der die ukrainischen Soldaten ihre Stellungen halten. Unterdessen gehen die russischen Raketen- und Bombenangriffe auf zivile Infrastruktur in der Ukraine weiter, in den westlichen Medien gerinnen sie langsam zu Alltagsmeldungen und verschwinden aus den Schlagzeilen. In der Nacht von Samstag auf Sonntag werden in Iran offenbar Angriffe auf militärische Einrichtungen und Drohnen-Fabriken durchgeführt. Das Regime meint, es sei kein Schaden entstanden. Die Opposition hingegen geht von größeren Schäden aus. Wer hinter den Angriffen steckt und sie durchführt, ist unklar.

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In Österreich gibt derweil Altbundespräsident Heinz Fischer dem SPÖ-Online-Magazin kontrast.at ein Interview. Darin spricht er über die Entwicklung des österreichischen Parlaments seit den 60er Jahren, über das Vertrauen der Menschen in die Politik und er spricht über den Krieg in der Ukraine sowie über die Neutralität Österreichs. Es sind vor allem diese Passagen, die dieses Gespräch zwischen Patricia Huber und dem großen alten Mann der österreichischen Sozialdemokratie so lesenswert machen. Sie legen ein Denken frei, welches das Weltbild der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts vollständig konserviert hat und – nebenbei bemerkt –, mit einer etwas fragwürdige Wahrnehmung der Position Österreichs im internationalen Geschehen verbindet.

Also spricht Fischer: „Die Neutralität ist generell für Außen- und Friedenspolitik wichtig, nicht nur für eine sozialdemokratische. [...] In der Zeit der großen Blöcke – Ost und West – war die Neutralität für Österreich wirklich eine sehr gute Lösung, die sich mit der Zeit immer fester im Bewusstsein der Bevölkerung verankert hat – so ähnlich wie das auch in der Schweiz schon viel länger und viel früher der Fall war. Es nützt ganz einfach der Friedenspolitik, wenn nicht alle Länder in Nato oder Warschauer Pakt, in Ost oder West eingeteilt sind.“

Nun mag man Fischer zugestehen, dass er die prägenden Jahre seiner politischen Karriere in den 70er und 80er Jahren erlebt hat, dass er indes vom Warschauer Pakt immer noch im Präsens spricht, mutet seltsam an. Der Konflikt des Westens mit Russland ist eben kein Ost-West-Konflikt mehr, als von Estland, Lettland, Litauen und Polen über Tschechien, die Slowakei, Ungarn bis hin zu Rumänien und Bulgarien der europäische Osten Teil der EU und der Nato geworden ist. Freiwillig, aus eigenen Stücken, und aus dem Bestreben heraus, sich als Nationen gegen Russland und seine imperialen Ambitionen rückzuversichern. Hört man Fischer zu, dann hört man – dem Präsens sei Dank – sein Verständnis für Russlands Klage von der Nato „eingekreist“ zu werden. Dann spricht daraus Verständnis dafür, dass Russland Anspruch auf die Wahrung seiner traditionellen, sprich sowjetischen, Einflusssphäre erhebt.

Fischer hat Putin einmal schon öffentlichkeitswirksam und wortwörtlich den Rücken gestärkt, er tut es auch in diesem Interview, wenn er über die Ursache der russischen Aggression sinniert: „Kriege haben immer einen langen Vorlauf und die Situation zwischen Russland und der Ukraine war schon Jahrzehnte lang eine sehr schwierige und spannungsgeladene. In der Ukraine hat es einen russischen Flügel und einen pro-westlichen Flügel gegeben, die haben sich bekämpft. Sie haben sich am Maidan gegenseitig beschossen. Österreich zählt nicht in eine Gruppe solcher Staaten, die so umstritten und so umkämpft sind. Ich glaube, dass der Westen sich freut, dass Österreich ihm keine Sorgen macht und ich glaube, dass der frühere Osten froh ist, dass Österreich keine Probleme macht.“

Die Ukraine hat seit ihrer Unabhängigkeit, das ist Tatsache, einen bewegten und konfliktbeladenen Weg hin zu einer demokratisch verfassten Gesellschaft durchlaufen (und sie durchläuft ihn immer noch). Umso mehr gilt es anzuerkennen, dass in der Ukraine Regierungen und Präsidenten gewählt und abgewählt wurden (und werden). Dass der demokratische Machtwechsel funktioniert. Diesen Umstand schlicht zu ignorieren und einen Bürgerkrieg in der Ukraine zu insinuieren, so wie Fischer das hier tut, ist schlicht unlauter und intellektuell unredlich.

Freilich, pflegt man ein Österreichbild, so wie es der Altbundespräsident hier offenherzig darlegt, dann darf die Schlichtheit nicht weiter wundern. Es spricht das ehemalige Staatsoberhaupt von Österreich wie von einem Kind, das eben keine „Sorgen“ und „Probleme“ macht. Nicht dem Westen, nicht dem Osten, die sich darüber wahlweise freuen oder darüber froh sind. Österreich als eine Insel der Seligen inmitten der Stürme der Gegenwart, ein politisches Nullum. Ein Gebilde, das niemals handelt, nie Subjekt, sondern ausschließlich Objekt ist. Ein Staatswesen, das am liebsten nie und nirgendwo anecken will, überall gerne mit von der Partie aber niemals initiativ oder gar verantwortlich ist. Ein Opportunist par excellence.

So ist Österreich nicht (um den aktuellen Bundespräsidenten zu paraphrasieren). So sind vor allem die Verhältnisse nicht mehr. Der „Osten“, den Fischer im Interview als Gegensatz zum „Westen“ bemüht, ist heute ausschließlich das imperialistische Russland, wie Putin es geformt hat. Die Republik ist Mitglied der Europäischen Union und mithin in einem politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich vollkommen anders gearteten Umfeld eingebettet als sie es in den Jahren zwischen 1955 und 1989 war. Und so wie das Parlament sich geändert hat, in seiner Arbeit und seinem Selbstverständnis (auch in dieser Hinsicht ist das Gespräch mit Fischer lesenswert), so hat sich Österreich verändert und mit ihm Europa und die Welt.

Dass Fischer der Welt von gestern nachhängt, das mag seiner politischen Biographie geschuldet sein. Dass er die Rezepte von gestern zur Lösung der Probleme von heute empfiehlt, ist fragwürdig. Dass es ihm die österreichische Sozialdemokratie darin gleich tut, das ist zukunftsvergessen. Und das ist noch milde ausgedrückt. (fksk, 29.01.23)

Woche 10 – Gewissheit im Ungewissen

Der Krieg geht in seine dritte Woche. Einheiten der Armee der Russischen Föderation belagern, bombardieren und hungern ukrainische Städte aus, mehr als zwei Millionen Menschen fliehen in benachbarte westliche Länder derweilen der russische Außenminister den Angriff seines Landes auf die Ukraine rundweg in Abrede stellt. Das zeugt von Konsequenz, als in Russland der Begriff „Krieg“ für das, was sich im Nachbarland abspielt, von Putins Regierung schlichtweg verboten worden ist. Aus der Welt schaffen lässt sich der Krieg in der Ukraine dennoch nicht. So wenig wie seine Folgen.

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Die Welt sortiert sich neu. So viel lässt sich sagen.

Da ist der klassische Krieg in der Ukraine, den die internationale Gemeinschaft, wenn sie ihn schon nicht beenden kann, so doch auf das Land eingrenzen will. Die Gefahr einer Eskalation ist real, also müht sich der Westen bei aller Parteinahme für die Ukraine unausgesprochen rote Linien nicht zu überschreiten.

Ungeachtet dessen hat der Krieg jenseits der ukrainischen Grenzen binnen kürzester Zeit die Dimension eines weltumspannenden Wirtschaftskriegs angenommen. Dies ist nun eine Auseinandersetzung, die keine Neutralität anerkennt, vielmehr klare Bekenntnisse und Taten einfordert. Wenigstens in Europa.

Putin hat sich in vielem verschätzt. In der Bereitschaft und Fähigkeit der Ukraine, seiner Armee effizient und vor allem effektiv Widerstand zu leisten. Er hat sich indes auch in der geradezu verzweifelten Bereitschaft der Europäer und Amerikaner, Sanktionen, die im eigenen Lager Kollateralschäden nach sich ziehen, auszusprechen, vertan.

Nie zuvor hat es ein so umfassendes Bündel derart präziser Maßnahmen gegeben – die immer noch als zu unpräzise, zu sanft und unentschlossen kritisiert werden. Nie zuvor waren sie in so kurzer Zeit so folgenreich. Allein der Umstand, dass die russische Zentralbank keinen Zugriff mehr auf ihre, im Westen geparkten, Währungsreserven mehr hat, schickt die rapide isolierte russische Wirtschaft auf eine rasante Talfahrt. Das Risiko eines Gegenschlags in Form eingestellter Öl- und Gaslieferungen in die Union ist sehenden Auges eingegangen worden. Indem die Union jetzt auch noch ankündigt, ihre Energieabhängigkeit von Russland schrittweise und so schnell als möglich zu beenden, macht sie Moskau die Aussicht auf künftige Einnahmen auch langfristig zunichte. Ob China sie substituieren kann, bleibe vorerst dahingestellt.

Bei aller Ungewissheit darüber, was kommt, diese Entwicklung zeichnet sich ab: Die Weltwirtschaft beginnt sich entlang politischer Bruchlinien neu zu sortieren. Hier die Volkswirtschaften der USA, der EU, Japans, Kanadas, Großbritanniens, Südkoreas und auch Singapurs. Dort jene Russlands und – nolens volens – Chinas. Die Globalisierung als Hohelied des Freihandels, der weltweiten Investitionen nach dem Gebot der Opportunitätskosten und der immer engeren Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg, stößt jäh an Grenzen. In Hinkunft ist es nicht mehr die Politik, die der Wirtschaft optimale Voraussetzungen zu bieten und zu schaffen hat, es ist die Politik, die ihr Primat wieder in Anspruch nimmt und damit die Wirtschaft in die Pflicht.

Moskau hat diese Entwicklung in ihrer ganzen Bandbreite bereits erkannt. Und spricht konsequenterweise schon von der „scheinbaren Neutralität“ Österreichs. Damit sorgt ausgerechnet das Außenministerium unter Sergej Lawrow für eine Klarheit, die in Österreich – noch – verweigert wird. In diesem Konflikt zwischen Russland und dem Westen gibt es keine Neutralität, weder in Hinblick auf die Werte, nicht in wirtschaftlichen Belangen und letztlich auch nicht in sicherheitspolitischen.

Floskelfrei formuliert: Russland hat festgestellt, dass es Österreich nicht mehr als neutralen Staat sieht. Sondern als Partei in der Koalition der „unfreundlichen Staaten“.

Dass die Vorsitzende der österreichischen Sozialdemokratie daraufhin die Neutralität als „wertvoller denn je“ wertet und sie als „nicht verhandelbar“ bezeichnet, mag im Einklang mit der Mehrheit der österreichischen Bevölkerung stehen, es entspricht nur nicht mehr der Faktenlage. So verständlich es ist, angesichts der vielen Ungewissheiten nach sicherem Terrain zu suchen, so fatal ist es, sich dabei ausgerechnet auf ein über die Jahrzehnte ausgehöhltes Konzept zu berufen und die dringend notwendige Debatte dogmatisch zu verweigern. Die Gewissheiten von gestern haben keine Geltung mehr, Österreichs Neutralität ist Geschichte – spätestens seit dem 24. Februar 2022. Es ist an der Zeit, sich das einzugestehen. (fksk, 13.03.22)

Woche 09 – Was in den Nebeln des Kriegs noch klar ist

Tag elf seit Beginn der russischen Invasion. Und alles liegt im Nebel. Klarheit ist in diesem Krieg mehr noch als in anderen Mangelware. Klar ist, wer wer ist. Wer Aggressor und wer Verteidiger. Klar ist auch, dass dieser Krieg wie bisher keiner via Social Media begleitet und interpretiert wird.

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Hier nun beginnt der Nebel zu wabern. Im steten Strom von Bildern, Meldungen und Videos ist es unmöglich, den Überblick zu bewahren. Manche Geschichten gehen viral. Der Ghost of Kiew etwa, der ukrainische Pilot, der an einem Tag fünf russische Kampfflugzeuge abgeschossen haben soll. Eine Leistung, die seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erbracht wurde. Ob die Meldung indes stimmt, kann weder verifiziert noch falsifiziert werden. Um den Ghost of Kiew ist es allerdings still geworden. Andere Geschichten sind der seinen gefolgt.

Eines ist ihnen allen gemein, sie erzählen vom ukrainischen Mut der Verzweiflung, mit dem sich Armee und Zivilisten den Angreifern entgegenstellen. Sie schaffen in der Ukraine und unter Ukrainern noch mehr an Verbundenheit und Zusammenhalt. Womit sie ihren wichtigsten Zweck erfüllen. Sie haben das Format, auch unter russischer Besatzung den ukrainischen Widerstandsgeist am Leben zu erhalten.

Putin mag das Land in Schutt und Asche legen, seine Städte in Grund und Boden bomben, er hat jetzt schon verloren. Die Einheit, die er beschwört, ist nicht mehr. Dazu ist allein in den letzten hundert Jahren zu viel an der Ukraine und ihren Menschen verbrochen worden. Vom Holodomor über die stalinistischen Säuberungen bis zum heutigen Angriff auf das Land. Mit Putin wird die letzte Gemeinsamkeit ausgelöscht.

Die Frage, die sich dabei stellt, ist, ob er sich der veränderten Stimmung in der Ukraine denn nicht bewusst war. Es ist auf jeden Fall eine groteske Fehleinschätzung des russischen Präsidenten. Auch das ist klar, trotz des Nebels.

Putin hat sich in allen Belangen verschätzt. Zuallererst im Widerstandswillen der Ukrainerinnen und Ukrainer. Aber auch, und das ganz wesentlich, in der Toleranz des von ihm so sehr verachteten Westens, weitere Grenzüberschreitungen hinzunehmen.

So, wie der russische Präsident Geburtshelfer einer neuen ukrainischen Identität ist, so hat ausgerechnet er zur Geschlossenheit und Einheit des Westens beigetragen. Mit Sanktionen haben er und seine Kamarilla gerechnet. Mit Protesten und hilfloser Empörung. Aber dann, und das war er ja gewohnt und dessen muss er sich also sicher gewesen sein, dann, nachdem etwas Wasser die Donau, die Havel, die Seine oder die Themse hinabgeflossen wäre, würde er wieder empfangen.

Wie einst 2014 in Wien, in allen Ehren, als der Präsident der Wirtschaftskammer gemeinsam mit dem österreichischen Bundespräsidenten Putin schamlos den Hof machen und die Kämpfe im Osten der Ukraine, die Besetzung der Krim schlichtweg kein Thema sind und wenn, dann in Form von Witzchen. So war es und so war es immer wieder und eigentlich auch überall. Wenigstens in diesem Punkt kann man Putin folgen, wenn er den Westen als feige, schwach und rückgratlos erlebt hat.

Das hat sich geändert. In aller Klarheit. Am Sonntag vor einen Woche räumt der neue deutsche Kanzler Olaf Scholz in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag wohlige deutsche Gewissheiten ab und stellt der Bundeswehr mehr und dringend benötigte Mittel in Aussicht. Die Koordination und Kooperation zwischen Großbritannien und der Europäischen Union funktioniert wie geschmiert, als hätte es niemals den Brexit und alle damit verbundenen gegenseitigen Verletzungen gegeben. Selbst im US-Kongress zollt die Opposition Joe Biden Respekt und Unterstützung. Und sogar in Österreich wird ein ganz anderer Ton angeschlagen als bisher. Ohne Augenzwinkern, ohne windelweichen Verweis auf die Neutralität. Vielmehr werden im Einklang mit allen anderen Unionsstaaten Sanktionen verhängt, die durchaus den Charakter einer mächtigen Waffe haben, die Russland und seiner Wirtschaft massiven Schaden zufügen (und dafür auch Schäden in der eigenen Wirtschaft in Kauf nehmen).

Damit hat Putin nicht gerechnet. So viel ist klar, und so viel geht aus seinen Reaktionen hervor.

Wobei die Einigkeit der westlichen Staatengemeinschaft (zu der selbstverständlich auch Japan, Südkorea und Taiwan zählen) nicht allein Russland adressiert, sondern auch und besonders China. Jeder Schritt, jede Maßnahme aber auch jede Zurückhaltung ist ein Signal an China, ist eine Demonstration dessen, wozu der Westen in der Lage ist und wozu er auch bereit ist in einem Konflikt. China, so viel ist klar, verfolgt die Entwicklungen akribisch und wird daraus seine Schlüsse ziehen.

Klar ist an diesem elften Tag des russischen Angriffkriegs auf die Ukraine, dass die russische Armee bislang nicht in der Lage ist, ihre gesteckten Ziele zu erreichen, dass deswegen die Opfer unter der Zivilbevölkerung noch zunehmen werden, dass dieser Krieg noch viel hässlicher werden wird, als er es schon ist.

Darüber darf der dichte Nebel an Social Media Geschichten und Bildern nicht hinwegtäuschen. (fksk, 06.03.22)