Olaf Scholz

Woche 17 – 28 Prominente und die Logik der Eskalation

Woche neun. Aus dem russischen Belgorod werden mysteriöse Explosionen gemeldet, solche ereignen sich auch in der Region Transnistrien, was prompt Sorge auslöst, Moldawien könne in den Krieg hineingezogen werden. Ganz und gar nicht mysteriös ist der Raketenbeschuss Kiews durch Russland während des Besichs von UN-Generalsekretär Guterres. Und schlichtweg unverholen sind die Drohungen, die von Moskau aus in die Welt dringen. Das reicht von wiederholten Wink mit der nuklearen Option bis hin zu wüsten Beschimpfungen Kasachstans, das sich als doch nicht so treuer Vasall erweist.

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Man kann sagen, die Nervosität steigt auf allen Seiten. Die Ausweitung der Kampfzone, die bislang vermieden werden konnte, erscheint in dieser Woche ein Stück weit denkbarer als zuvor.

Also schreiben 28 prominente deutsche Persönlichkeiten ihrem Kanzler einen offenen Brief. Darin warnen sie vor der Möglichkeit eines Dritten Weltkriegs. Wohl benennen sie den Aggressor und das Opfer, sorgen sich indes, dass das Engagement des Westens Putin das Motiv liefert, im ganz großen Rahmen loszuschlagen.

Um das zu vermeiden, um Putin keinen Vorwand zu liefern, ersuchen Alice Schwarzer, Alexander Kluge, Reinhard Mey, Reinhard Merkel, Edgar Selge und Juli Zeh – um nur einige der Erstunterzeichner zu nennen –, ersuchen sie ihren Kanzler, der Ukraine keine schweren Waffen zu liefern. Sie bitten ihn dringend und dringlich zu seiner abwartenden, zurückhaltenden Position zurückzukehren und die Zeitenwende, die er im Bundestag beschworen hat, nicht zu weit zu treiben. Und, sie ersuchen ihn, „alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beiden Seiten akzeptieren können“.

Damit allein belassen sie es nicht. Sie wenden sich auch dem Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung zu und formulieren: „Dazu steht selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor in einem unerträglichen Missverhältnis“. Somit steht ein wiederholt gebrauchtes Argument im Raum, demzufolge der Kampf der Ukraine gegen Russland unverhältnismäßig sei und Frieden um beinahe jeden Preis die bessere Option.

Alice Schwarzer, Juli Zeh und Alexander Kluge sind sicherlich keine naiven „Putinversteher“, ihr Schreiben an Scholz ist von großer Sorge getragen. Um den Weltfrieden, um jedes einzelne Leben, welches in diesem Krieg ausgelöscht wird. Diese Sorge ist unter allen Umständen gerechtfertigt.

Aber.

Aber was ist der richtige Weg, mit einem Diktator umzugehen? Die Argumentation der 28 läuft letztlich auf eine Kapitulation der Ukraine hinaus, als Preis einem möglichen nuklearen Krieg zu entgehen. Mit der Draufgabe, dass der Westen dieses Ergebnis zähneknirschend akzeptiert. Womit Putins Rechnung aufgegangen wäre, wonach die westliche Staatengemeinschaft bereit ist, der Gewalt zu weichen. Und wonach die Drohung mit der nuklearen Option ausreicht, Ziele zu erreichen, die zuvor unerreichbar erschienen.

Der Kreml hat es wieder und wieder betont, gesagt, geschrieben, gesendet und der Welt ins Gesicht gesagt, dass Russland von Lissabon bis Wladiwostok die dominierende, die Hegemonialmacht sein will. Das kann und darf nicht weiter ausgeblendet werden. Es geht dem russischen Regime nicht nur um die Wiederherstellung von Russlands Glanz und Gloria, es geht um die Unterwerfung des verweichlichten, liberalen, dekadenten Westens.

Auftritt Tigran Keossajan, in Russland gilt er als Humorist. Verheiratet ist er mit der Direktorin des Senders RT, Margarita Simonjan, beide sind Teil des Establishments in Moskau, dem Kreml und seinem Hausherren auf das Engste verbunden. Keossajan, so berichtet die FAZ, hat nun zum verbalen Rundumschlag gegen Kasachstan ausgeholt.

Man erinnert sich, erst im Jänner stellten russische Truppen Ruhe und Ordnung im Nachbarstaat wieder her. Was aber tut das zentralasiatische Land? Es ergreift nach dem 24. Februar nicht Russlands Partei, es sucht vielmehr Distanz zu wahren, kündigt sogar an, Moskau bei der Umgehung von Sanktionen nicht zu helfen. Keossajan hat sich dieser Haltung angenommen, er spricht die Kasachen direkt an: „Es herrscht Krieg. Der Krieg zweier enormer, großer Ideen, zweier großer Länder. Und das zweite ist nicht die Ukraine, sondern Amerika und die Nato. Alle übrigen, besonders die Bruderländer, müssen sich für eine Seite entscheiden. Und wir müssen aufmerksam schauen, wer mit uns ist und wer nicht.“

Das ist die Perspektive Moskaus, dargebracht von einem Humoristen aus dem Zentrum der Macht.

Die 28 machen sich zu Recht Sorgen.

Olaf Scholz mag für sein zurückhaltendes Auftreten gute Gründe haben. In der Tat ist alle Politik rund um den Krieg in der Ukraine ein Drahtseilakt ohne Netz. Was sich aus den neun Wochen indes als erste Zwischenerkenntnis gewinnen lässt, ist der Umstand, dass es der unbedingte Widerstandswille der Ukraine und eine daraufhin weitgehend konsistente westliche Reaktion auf die russische Aggression sind, die Putin Grenzen aufzeigen und setzen. Die Lieferung schwerer Waffen trägt das ihre dazu bei, dass diese Limits nicht aufgeweicht werden. Das ist die Sprache, die Putin versteht. Der Westen muss lernen, sie ihrer zu bedienen – ohne gleich ihrer Logik ganz und gar anheim zu fallen.

Hierin liegt der Wert des Briefs der 28. Man mag ihrer Argumentation nicht folgen wollen, man mag sie schlichtweg für falsch und in ihren Folgen für katastrophal halten, aber sie zu hören und ihnen zuzuhören, das beschreibt exakt die Stärke des Westens, die ihn auszeichnet, die das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zu Putins Russland ist. Es ist die Vielstimmigkeit, die Fähigkeit und Bereitschaft zur Debatte, das grundlegende Recht auf eine eigene Meinung – auch wenn sie im Gegensatz zur Mehrheitsmeinung steht.

Insofern läuft der Vorwurf an die 28, sie besorgten das Geschäft Putins, ins Leere. Das Gegenteil ist wahr. Sie nötigen Politik und Gesellschaft einmal mehr, jede Handlung zu begründen, jeden Schritt zu überlegen, sich der Verantwortung zu stellen und sich der Konsequenzen bewusst zu sein. Sie verhindern, dass Putins Logik der Eskalation im Westen Fuß fasst und damit nach seinen Regeln gespielt und gehandelt wird. Dafür gilt den 28 Anerkennung. Auch wenn sie in ihrer Argumentation irren. (fksk, 30.04.22)

Woche 09 – Was in den Nebeln des Kriegs noch klar ist

Tag elf seit Beginn der russischen Invasion. Und alles liegt im Nebel. Klarheit ist in diesem Krieg mehr noch als in anderen Mangelware. Klar ist, wer wer ist. Wer Aggressor und wer Verteidiger. Klar ist auch, dass dieser Krieg wie bisher keiner via Social Media begleitet und interpretiert wird.

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Hier nun beginnt der Nebel zu wabern. Im steten Strom von Bildern, Meldungen und Videos ist es unmöglich, den Überblick zu bewahren. Manche Geschichten gehen viral. Der Ghost of Kiew etwa, der ukrainische Pilot, der an einem Tag fünf russische Kampfflugzeuge abgeschossen haben soll. Eine Leistung, die seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erbracht wurde. Ob die Meldung indes stimmt, kann weder verifiziert noch falsifiziert werden. Um den Ghost of Kiew ist es allerdings still geworden. Andere Geschichten sind der seinen gefolgt.

Eines ist ihnen allen gemein, sie erzählen vom ukrainischen Mut der Verzweiflung, mit dem sich Armee und Zivilisten den Angreifern entgegenstellen. Sie schaffen in der Ukraine und unter Ukrainern noch mehr an Verbundenheit und Zusammenhalt. Womit sie ihren wichtigsten Zweck erfüllen. Sie haben das Format, auch unter russischer Besatzung den ukrainischen Widerstandsgeist am Leben zu erhalten.

Putin mag das Land in Schutt und Asche legen, seine Städte in Grund und Boden bomben, er hat jetzt schon verloren. Die Einheit, die er beschwört, ist nicht mehr. Dazu ist allein in den letzten hundert Jahren zu viel an der Ukraine und ihren Menschen verbrochen worden. Vom Holodomor über die stalinistischen Säuberungen bis zum heutigen Angriff auf das Land. Mit Putin wird die letzte Gemeinsamkeit ausgelöscht.

Die Frage, die sich dabei stellt, ist, ob er sich der veränderten Stimmung in der Ukraine denn nicht bewusst war. Es ist auf jeden Fall eine groteske Fehleinschätzung des russischen Präsidenten. Auch das ist klar, trotz des Nebels.

Putin hat sich in allen Belangen verschätzt. Zuallererst im Widerstandswillen der Ukrainerinnen und Ukrainer. Aber auch, und das ganz wesentlich, in der Toleranz des von ihm so sehr verachteten Westens, weitere Grenzüberschreitungen hinzunehmen.

So, wie der russische Präsident Geburtshelfer einer neuen ukrainischen Identität ist, so hat ausgerechnet er zur Geschlossenheit und Einheit des Westens beigetragen. Mit Sanktionen haben er und seine Kamarilla gerechnet. Mit Protesten und hilfloser Empörung. Aber dann, und das war er ja gewohnt und dessen muss er sich also sicher gewesen sein, dann, nachdem etwas Wasser die Donau, die Havel, die Seine oder die Themse hinabgeflossen wäre, würde er wieder empfangen.

Wie einst 2014 in Wien, in allen Ehren, als der Präsident der Wirtschaftskammer gemeinsam mit dem österreichischen Bundespräsidenten Putin schamlos den Hof machen und die Kämpfe im Osten der Ukraine, die Besetzung der Krim schlichtweg kein Thema sind und wenn, dann in Form von Witzchen. So war es und so war es immer wieder und eigentlich auch überall. Wenigstens in diesem Punkt kann man Putin folgen, wenn er den Westen als feige, schwach und rückgratlos erlebt hat.

Das hat sich geändert. In aller Klarheit. Am Sonntag vor einen Woche räumt der neue deutsche Kanzler Olaf Scholz in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag wohlige deutsche Gewissheiten ab und stellt der Bundeswehr mehr und dringend benötigte Mittel in Aussicht. Die Koordination und Kooperation zwischen Großbritannien und der Europäischen Union funktioniert wie geschmiert, als hätte es niemals den Brexit und alle damit verbundenen gegenseitigen Verletzungen gegeben. Selbst im US-Kongress zollt die Opposition Joe Biden Respekt und Unterstützung. Und sogar in Österreich wird ein ganz anderer Ton angeschlagen als bisher. Ohne Augenzwinkern, ohne windelweichen Verweis auf die Neutralität. Vielmehr werden im Einklang mit allen anderen Unionsstaaten Sanktionen verhängt, die durchaus den Charakter einer mächtigen Waffe haben, die Russland und seiner Wirtschaft massiven Schaden zufügen (und dafür auch Schäden in der eigenen Wirtschaft in Kauf nehmen).

Damit hat Putin nicht gerechnet. So viel ist klar, und so viel geht aus seinen Reaktionen hervor.

Wobei die Einigkeit der westlichen Staatengemeinschaft (zu der selbstverständlich auch Japan, Südkorea und Taiwan zählen) nicht allein Russland adressiert, sondern auch und besonders China. Jeder Schritt, jede Maßnahme aber auch jede Zurückhaltung ist ein Signal an China, ist eine Demonstration dessen, wozu der Westen in der Lage ist und wozu er auch bereit ist in einem Konflikt. China, so viel ist klar, verfolgt die Entwicklungen akribisch und wird daraus seine Schlüsse ziehen.

Klar ist an diesem elften Tag des russischen Angriffkriegs auf die Ukraine, dass die russische Armee bislang nicht in der Lage ist, ihre gesteckten Ziele zu erreichen, dass deswegen die Opfer unter der Zivilbevölkerung noch zunehmen werden, dass dieser Krieg noch viel hässlicher werden wird, als er es schon ist.

Darüber darf der dichte Nebel an Social Media Geschichten und Bildern nicht hinwegtäuschen. (fksk, 06.03.22)