Europäische Union

Woche 10 – Europäische Standortbestimmung

Es ist ein Bild, das man nicht so leicht vergisst. Unter all den tausenden Demonstranten, die in Tiflis gegen das „Fremde Agenten“-Gesetz auf die Straße gehen, ist diese eine Frau, die das Sternenbanner der EU schwenkt. Bis der Strahl des Wasserwerfers sie trifft und zurückdrängt. Aber sie bleibt nicht alleine, ein Mann stärkt ihr den Rücken, gemeinsam stemmen sie sich gegen den nächsten Strahl, werden abermals zurückgedrängt, bis immer mehr Menschen sich um die Frau mit dem Sternenbanner scharen und gemeinsam vordrängen.

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Die Regierung in Georgien hat den Gesetzesentwurf, der sich am russischen Vorbild orientierte, zurückgezogen. Das Regime in Moskau klagt, der Westen inszeniere in der Ukraine die nächste Farbenrevolution. Begleitet wird der Vorwurf von der kaum verhohlenen Drohung einer Intervention.

Währenddessen hört der Widerstand gegen das Mullah Regime in Iran nicht und nicht auf. Es gibt Demonstrationen, es gibt tausende Akte des Ungehorsams, es schaffen die Kleriker und ihre Schergen es nicht, das Land in Friedhofsruhe zu stürzen. Und in der Ukraine wird immer noch um Bakhmut gekämpft. Was als Demonstration russischer Macht gedacht war und binnen Tagen hätte erledigt sein sollen, ist dank des ukrainischen Widerstands zu einem Krieg geworden, der sogar das Auseinanderbrechen Russlands in den Bereich des Möglichen rückt.

Das alles sorgt für Nervosität. In Russland wie auch andernorts. Es treffen, auf Initiative Chinas, einander saudi-arabische und iranische Unterhändler, sie reden miteinander, sie entdecken gemeinsame Interessen. Im Angesicht einer möglichen demokratischen Revolution in Iran finden sunnitische und schiitische Hardliner schnell zu einer gemeinsamen Basis. Kein Wunder. China wiederum versichert Russland seiner Solidarität und wirft den USA vor, eine aggressive Politik zu verfolgen.

Es ist bemerkenswert. Vor drei Jahren erst wurden die Stärken der autoritären und diktatorischen Regime im Vergleich zu den demokratischen Gesellschaften hervorgehoben, besprochen, von manchen offensiv bewundert und als Auftakt des unweigerlichen Niedergangs des Westens interpretiert. Und jetzt das. Da nehmen ein Land und seine Menschen einen Krieg auf sich, um ihre mühsam erworbenen demokratischen Errungenschaften gegen einen Aggressor zu verteidigen. Da gehen in Iran Hunderttausende wieder und wieder und wieder auf die Straße, um für Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung und Menschenwürde einzustehen, auch mit ihren Leben und ihrer Gesundheit. Da strömen Tausende in Georgien auf die Plätze und Straßen der Hauptstadt, um einen Angriff auf ihr demokratisches System abzuwehren. Und in Belarus ringen immer noch Menschen allen Verfolgungen und Strafen zum Trotz darum, ein demokratisches Gemeinwesen zu erlangen.

Der Siegeszug des autoritären Staates, er kommt doch nicht so recht in Schwung. Im Gegenteil. Eine freie Ukraine stärkt die Opposition in Belarus und strahlt als Gegenentwurf zum Moskauer Modell bis tief nach Russland. Ein gefestigt demokratisches Georgien macht Russland als Ordnungsmacht im Kaukasus obsolet. Und ein demokratischer Iran stellt die Verhältnisse im Nahen Osten auf den Kopf, als die Religion als Machtfaktor entfiele. Im Grunde also müssten allen voran die europäischen Staaten und die Union alles tun, diese Bewegungen zu unterstützen. Und sei es nur, dass ihnen mehr Öffentlichkeit in Europa und damit in der Welt zuteil wird.

Hier nun hakt es. Europa unterstützt die Ukraine mit Waffensystemen, Munition und Ausbildung, mit humanitärer Hilfe und mit Geld. Vor allem aber steht Europa geeint gegen die russische Aggression. Das darf nicht gering geschätzt werden.

Geht es hingegen um Belarus, um Georgien, um Iran wird Europa leise. Sehr leise und wendet sich anderen Themen zu. Ganz so, als wüsste Europa mit all der Veränderung in seiner unmittelbaren Nachbarschaft nichts anzufangen.

Es braucht keine Intervention der EU, es braucht auch keine gutgemeinten Ratschläge, keine Bevormundung, kein Besserwissen, das von Europa aus an die Menschen in Iran, Georgien, Belarus und der Ukraine gerichtet wird. Aber es braucht die Aufmerksamkeit, die Rezeption dessen, was geschieht. Zu wissen, dass man nicht alleine gegen ein Regime steht, dass vielmehr die Augen der Welt auf eine Bewegung und ihre Menschen gerichtet sind, dass ihr Tun und Handeln ebenso gesehen und registriert werden wie das der Regime, gegen die sie sich wenden, ist essenziell.

Es bedarf dazu einer europäischen Standortbestimmung und klarer, unmissverständlicher Positionen gegenüber autoritären Regimen. Bei aller Diplomatie, bei aller Bereitschaft, strittige Punkte in Gesprächen zu behandeln, ist Eindeutigkeit unverzichtbar. Europa kann und darf seine Grundwerte der Menschenrechte und Menschenwürde nicht länger je nach Opportunität situationselastisch interpretieren. Das höhlt sie aus, entwertet sie und macht sie zur billigen Verhandlungsmasse.

Der Europäischen Union öffnet sich ein Fenster, sich selbst und ihre Beziehungen zu ihren Nachbarn substanziell neu zu definieren. Nach außen, indem die Union und ihre Mitgliedstaaten unmissverständlich für Grundrechte und -werte einstehen. Auch wenn das manchen Geschäftsbeziehungen nicht unbedingt zuträglich ist. Vor allem aber nach innen, indem Demokratie und die Werte der demokratischen Gesellschaften bewusst in aller Konsequenz gelebt werden. Das ist nicht immer einfach. Aber es ist grundnotwendig – auch gegenüber den Menschen in Iran, Georgien, Belarus und der Ukraine, die dafür ihre Leben einsetzen. (fksk, 12.03.23)

Woche 09 – Ein endloser Krieg

Russlands Krieg in der Ukraine geht in sein zweites Jahr. Während alle Welt überlegt und diskutiert, wann, wie und unter welchen Bedingungen ein Ende dieses Kriegs möglich sei, formuliert der russische Soziologe und Philosoph Grigory Yudin in einem Medzua-Interview, dass Putin einen „ewigen“ Krieg kämpft, präziser gesagt, kämpfen lässt: „Dieser Krieg ist jetzt für immer. Er hat keine Ziele, die erreicht werden können und die zu seinem Ende führen. Er dauert an, weil (in Putins Vorstellungswelt) sie die Feinde sind, die uns und die wir töten wollen. Für Putin ist das ein existenzieller Zusammenstoß mit einem Feind, der ihn zerstören will.“

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Er fährt fort: „Man darf sich keine Illusionen machen: Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg nicht enden. Er wird vielmehr ausgeweitet. Die Masse der russischen Armee wächst, die Wirtschaft wird auf die Rüstungsproduktion ausgerichtet und Bildung wird zu einem Werkzeug der Propaganda und Kriegsvorbereitung. Sie bereiten das Land auf einen langen und schwierigen Krieg vor.“

Yudin belässt es nicht mit dieser einen Feststellung. In dem Gespräch mit Margarita Liutova, geht er tiefer. Es sind nicht nur Putin und sein unmittelbares Umfeld, die Russland in einem dauernden Konflikt mit dem Rest der Welt und hier in erster Linie mit den USA und dem Westen wähnen, es ist tatsächlich ein Gutteil der russischen Bevölkerung, die ebendieses Sentiment teilt.

In seinen Aussagen trifft sich Yugin mit Timothy Snyder, der in seinem Buch „Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika“ Putin als Vertreter der „Ewigkeitspolitik“ beschreibt. Wobei der Ewigkeitspolitiker „die Nation ins Zentrum des Narrativs eines immer wiederkehrenden Opfers“ rückt. Snyder fährt fort: „Es gibt keine Zeitlinie mehr, die in die Zukunft führt, sondern einen Kreis, der endlos dieselben Bedrohungen der Vergangenheit wiederholt“(1). Am 23. Jänner 2012 publiziert Putin einen Artikel, in dem er, fasst Snyder zusammen, „Russland nicht als Staat, sondern als spirituellen Zustand“ beschreibt. Damit wird Russland gleichsam grenzenlos, womit sich Putin das Recht nimmt, alle Menschen, die „Teil der russischen Zivilisation“ – die Putin definiert – sind, für Russland zu beanspruchen. Zum Beispiel die Ukrainer (2).

Yugin bestätigt Snyder: „Sein [Putins] Weltbild kennt keine Grenzen. Diese Devise ist praktisch zur offiziellen Linie geworden: Russland endet nirgendwo. Das ist die Standarddefinition eines Imperiums, als ein Imperium keine Grenzen anerkennt.“ In aller Konsequenz.

Damit nicht genug. Was immer passiert, zumal an Rückschlägen, fügt sich in dieses Weltbild des ewigen Kampfs. Die Ukraine widersteht und der Westen unterstützt sie? Ein Beleg dafür, dass die Behauptung, die Ukraine sei nichts anderes als ein antirussisches Konstrukt der Nato, stimme. Der Westen verhängt Sanktionen? Ein Beweis dafür, dass Russland wirtschaftlich zerstört werden soll. In der Vollversammlung der Vereinten Nationen stimmen 141 Staaten für den Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine? Das Zeugnis dafür, dass alle Welt sich gegen Russland und seine einzigartige Zivilisation verschworen hat; dafür, dass es sich um einen existenziellen Konflikt handelt.

Einen, der keinen Kompromiss kennt. Nur Sieg oder Niederlage.

Für den Westen bedeutet das, die innere Logik und Rationalität des Putinschen Weltbilds endlich anzuerkennen und sie in das eigene strategische Denken als reale und effektive Größen einfließen zu lassen. Zu lange haben die Hoffnung und der Glaube, Putin werde letztlich so logisch und rational handeln, wie der Westen denkt, dominiert. Teils dominiert die Hoffnung immer noch, wenn die Berücksichtigung russischer Sicherheitsansprüche eingefordert wird, um einer Übereinkunft den Boden zu bereiten. Für das russische Regime in seiner aktuellen Verfasstheit wäre dies nichts weiter als ein Etappensieg, um sofort den nächsten Konflikt vorzubereiten, die nächsten territorialen und imperialen Ansprüche anzumelden und einzufordern. So, wie das spätestens seit dem russischen Angriff auf die territoriale Integrität Georgiens im August 2008 Usus ist. Das meint nun nicht, dass der Westen die Ewigkeitspolitik für sich übernimmt, und schon gar nicht, dass man sich ihrer Logik beugt, wohl aber, dass man sich ihrer Mechanismen und ihrer Auswirkungen bewusst wird; dass man ihrer Realität ins Auge blickt.

Das ist das Fundament, eine stringente Strategie und konsequente Politik zu formulieren, die Russlands „ewigem Krieg“ entgegenwirkt und ihn in aller Konsequenz scheitern lässt. Essentiell ist es dafür, dass allen voran die Europäische Union daran arbeitet, eine robuste europäische Friedensordnung und Sicherheitsstruktur für die Zeit danach zu entwickeln. Darin liegt mittel- und langfristig die Stärke der Union: Indem sie ein Zukunftsbild entwerfen kann, an dem sie arbeitet, das greifbar und in seinen Auswirkungen für die Menschen spürbar wird, verfügt sie über einen realen und erstrebenswerten Vorteil gegenüber dem ununterbrochen wiederkehrenden Opfergang von Putins Krieg.

Der lässt sich nur durch Konsequenz, nicht durch Kompromisse beenden. (fksk, 05.03.23)

 

(1) Snyder: „Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika“, CH Beck, 2018, Seite 16

(2) ebenda Seite 69

Woche 23 – Demokratien unter Druck

Woche fünfzehn. Die Schlacht um Sjewjerodonezk im Donbass dauert an, inzwischen bezifferen die Ukrainer ihre täglichen Verluste auf bis zu 200 Mann. Über die Russen sagt ein Sprecher freilich: „Sie sterben wie die Fliegen“. Unterdessen versichert Präsident Macron der Ukraine die Solidarität Frankreichs, wobei er auch auf Waffenlieferungen verweist. Aus Deutschland verlautet, Kanzler Scholz wolle noch im Juni nach Kiew reisen. Es stehen auch schon fünf Marder Schützenpanzer zur Auslieferung bereit, es ist anzunehmen, dass Scholz lange vor den fünf Mardern in der Ukraine ankommt. In Moskau sieht Putin Parallelen zur Zeit Peters des Großen, der, wie kaum ein anderer, in Kriegszügen Russlands Grenzen verschoben hat. Ein Vorbild.

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Auf dem „Time to Decide Europe Summit“ ging der russische Journalist Maxim Trudoljubow auf den „permanenten Ausnahmezustand“ in Russland ein, ein Zustand, ohne den das System Putin gar nicht überlebensfähig wäre. Es enthebt der Zustand der Ausnahme das Regime und auch Putin jeglicher Verantwortung. Die Regierung ist nichts und niemandem Rechenschaft schuldig, sie agiert vollkommen losgelöst von allen Kontrollen, Debatten und Beschränkungen nach Gutdünken. Und der Krieg, so Trudoljubow, ist dafür die notwendige Voraussetzung. In einem Beitrag auf der Plattform „Dekoder“ postuliert Trudoljubow: „Krieg ist für Putin die natürliche Form der politischen Existenz. Solange er an der Macht ist, wird der Krieg nicht aufhören. Der Krieg und sein Regime sind untrennbar miteinander verbunden.“

Während der Konferenz am 20. Mai ist es nicht nur der Chefredakteur des – inzwischen im Exil erscheindenden – Mediums „Meduza“, der den Blick auf diesen speziellen Charakterzug des Putinschen Systems lenkt. Auch Ivan Krastev beschreibt an diesem Tag Putins Krieg als einen Krieg zum Erhalt der russischen Identität, die er als kompletten Gegenentwurf zum westlichen Modell versteht. Nicht nur als Gegenentwurf, vielmehr als Kampfansage, die Staat und Menschen aneinander schweißt. Indem Putin, so Krastev weiter, einen langen Krieg von niedriger Intensität initiiert, erhält er die russische Identität.

Sowohl Krastev als auch Trudoljubow blicken der Zukunft Russlands nicht gerade optimistisch entgegen.

Nur beschränkt sich dieser „permanente Ausnahmezustand“, der „lange Krieg niedriger Intensität“ nicht allein auf Russland, beides wirkt sich auf die Nachbarschaft aus, auf die gesamte europäische Nachbarschaft, die immer noch nicht so recht weiß, wie mit dieser Situation umzugehen ist, die bis vor kurzem noch der Meinung war, dass Handel auch Wandel bedeute und die immer noch hofft, der Krieg in der Ukraine möge bald zu einem Ende kommen, auf dass man wieder anknüpfen könne an den Beziehungen, die durch den Krieg nun unterbrochen sind.

Gemeinhin ist zu lesen und zu hören, Putin habe mit seinem Angriff auf die Ukraine nur erreicht, dass die Europäische Union genauso wie die Nato so einig und geschlossen aufträten wie seit langem nicht mehr. Mit Blick auf Ungarn und die Türkei sind hier Zweifel angebracht. Und noch mehr Zweifel sind angebracht, zieht sich der Krieg in der Ukraine in die Länge. Über das Jahr hinweg bis tief in das nächste.

Selbst wenn die unmittelbaren Kampfhandlungen in der Ukraine stoppen sollten, kann von Frieden noch keine Rede sein. So wenig wie davon, dass das Regime Putin damit Geschichte würde. Worauf sich Europa einstellen muss, ist dieser „permanente Ausnahmezustand“, mithin eine Periode der Unsicherheit, Unberechenbarkeit, gebrochener Abkommen und Verträge, unablässiger Provokationen und Scharmützel aller Art, von Unruhen auf dem Balkan über digitale Attacken bis hin zu einem intensivierten Propagandakrieg. Damit unterscheidet sich dieser Konflikt mit Russland grundlegend vom Kalten Krieg zwischen Ost und West, der in seiner Unbeweglichkeit und starren Frontstellungen höchst berechenbar war.

Dieser Konflikt addiert sich zu den Herausforderungen des Klimawandels, der weltweiten Migrationsbewegungen, der Digitalisierung und den Auswirkungen aller drei auf die soziale und politische Struktur der westlichen Demokratien. Und hier wird es spannend.

Sind der Krieg und Putins Macht untrennbar miteinander verbunden, so verhält es sich in den Demokratien genau umgekehrt. Eines der zentralen Versprechen demokratischer Gesellschaften ist die Minimierung kriegerischer Auseinandersetzungen. Demokratien kooperieren untereinander und miteinander, sie pflegen den Kontakt und den Austausch und auch den Kompromiss. Kurz, sie vermeiden es, ihre Bürger in einen Krieg zu entsenden und zu verwickeln.

Wie nun die demokratischen Systeme Europas auf einen Dauerkonflikt, der auf den unterschiedlichsten Ebenen ausgetragen wird, reagieren, ist vollkommen unklar. Vor allem wie dieser andauernde Konflikt sich – im Verein mit Klimawandel, Migration und Digitalisierung – auf Strukturen, Institutionen und die politische Kultur auswirken wird.

Eines erscheint jetzt schon sicher zu sein, die bisherige Art der europäischen Demokratien mit Krisen umzugehen, indem man die Symptome finanziell zu behandeln trachtet, ohne je das zugrundeliegende Problem zu lösen, diese Art der Politik stößt an ihr Ende. Sie war nie richtig, als sie stets auf Zeitgewinn ausgerichtet war und rasenden Stillstand zur Folge hatte.

Das rächt sich nun.

Mit Beschwörungen der guten alten Zeit ist es keinesfalls getan. Es werden sich die Demokratien Europas darum kümmern müssen, auf große Herausforderungen große Antworten zu geben. Ohne Scheu davor, mit liebgewonnen Gewissheiten zu brechen. Bereit, die demokratischen Prozesse darauf auszulegen, schneller als bisher zu Resultaten zu gelangen, sie dabei so transparent wie nur möglich anzulegen, sie so zu stärken, dass ein „permanenter Ausnahmezustand“ sie nicht zu erschüttern vermag. Und schon gar nicht in Frage stellen kann. (fksk, 12.06.22)

Woche 21 – Klimapolitik ist Industriepolitik ist Geopolitik

Woche dreizehn. Die russischen Kräfte konzentrieren ihre Angriffe im Donbass und erobern Sjewjerodonezk, Lyman sowie andere Orte. Die Kämpfe in dieser Region nehmen zusehends den Charakter der Materialschlachten des Ersten Weltkriegs an, massive Artilleriegefechte, langsames Vorrücken gegen befestigte und ausgebaute Positionen. Im Gegenzug setzt die Ukraine rund um Cherson zum Angriff an. Derweilen klingelt das Telefon im Kreml immer wieder. Mal ist es Herr Nehammer aus Österreich, dann wieder die Herren Scholz und Macron. Und jeder bekommt zu hören, was er hören soll. Herr Scholz vor allem düstere Warnungen vor einem zu großen Engagement Deutschlands.

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Unterdessen eröffnet Putin eine weitere Front: Durch seinen Angriffskrieg ist die globale Weizenversorgung in Gefahr. Die Ukraine kann über ihre verbliebenen Häfen nicht exportieren, Russland hält sich zurück und beobachtet die rasant steigenden Preise. Während also die Welthungerhilfe vor Hungersnöten im sogenannten globalen Süden warnt, fordert Putin, der Westen müsse seine Sanktionen aufgeben, erst dann könne Russland daran danken, den Weltmarkt zu bedienen. Und, auch das verlautet aus Moskau, die Gewinne aus den gestiegenen Erdöl- und Erdgaspreisen, die steckt der Kreml stantepede in die Rüstung und die Finanzierung seines Kriegs.

Als am 20. Mai im Rahmen der Konferenz „Time to Decide Europe Summit“ die Zukunft des Kriegs in der Ukraine am Podium diskutiert wird, bleibt es Olivia Lazard vorbehalten, die Perspektive zu weiten. Die Forscherin fokussiert in ihrer Arbeit auf die geopolitischen Aspekte der Klimakrise und die Konflikte, die mit ihr einhergehen. Ihr Augenmerk gilt auch, und das ist in diesem Zusammenhang wesentlich, der Rolle der Rohstoffe.

Gemeinhin wird festgestellt, in Ermangelung moderner Industrien sei Russland auf den Verkauf seine Rohstoffe angewiesen. Und das Fazit dieser Feststellung lautet, dass Russland sich, wenn es die Märkte im Westen verliere, in eine ungesunde Abhängigkeit von China begeben müsse. Auch daran ist vorderhand nichts falsch. Nur ist die Geschichte von Russland und den Rohstoffen nicht damit erschöpfend erzählt, wenn man sich nur auf Russlands eigene Ressourcen konzentriert.

Russland ist ein Rohstoffhändler. Und als solcher mit den Entwicklungen am Weltmarkt auf das innigste vertraut. Beschließt die Europäische Union den Ausstieg aus fossilen Rohstoffen (unabhängig vom Krieg in der Ukraine), dann bedeutet das einen massiven Verlust für Russland.

Was der Westen indes braucht, um die Energiewende erfolgreich durchzuführen, sind andere Rohstoffe. Die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ hat sie dieser Tage dankenswerterweise zusammengefasst: Lithium, Kobalt, Kupfer, Nickel und Seltene Erden. In Europa sind alle diese Stoffe nur in kleinen Mengen vorhanden, und wo sie vorhanden sind, ist es fraglich, ob ihr Abbau ökonomisch argumentierbar und mit dem Umweltschutz vereinbar ist. Wie ihr Abbau in Afrika und Lateinamerika vonstatten geht, davon ist bisweilen zu hören und zu lesen, zu genau aber will das niemand wissen.

Diesen Umstand macht Russland sich zunutze.

Die „Gruppe Wagner“, die zurzeit berüchtigste Söldnertruppe der Welt, ist ein russisches Unternehmen. Aktiv in der Demokratischen Republik Kongo, in der Zentralafrikanischen Republik, in Mali (siehe auch „Grosny, Aleppo, Butscha und Moura“), in Syrien und selbstredend auch in der Ukraine. Die „Gruppe Wagner“ taucht verlässlich überall dort auf, wo Russland strategische und ökonomische Interessen hat und durchzusetzen sucht.

Olivia Lazard nimmt den Krieg in der Ukraine als Teil einer weit umfassenderen Strategie Russlands wahr. Einer Strategie, die Russland in essentiellen Fragen des 21. Jahrhunderts an zentraler Stelle positionieren soll.

Am 4. März hält Lazard in einem Gespräch mit dem Experten für Geopolitik und Umwelt François Gemenne von der Universität Lüttich/Liege fest, Putin habe wiederholt betont, dass er Russland auf der Gewinnerseite der globalen Erwärmung sehen wolle. Und seine Politik entsprechend ausrichte.

Nun ist alles, was im Zusammenhang mit dem Klimawandel prognostiziert wird, mit Vorsicht zu genießen, allein weil die Implikationen und das Zusammenspiel des Weltklimas schlichtweg zu vielfältig und unbekannt sind, als dass sich mit Verlässlichlichkeit sagen ließe, diese oder jene Region sei ein sicherer Gewinner, eine andere der sichere Verlierer. Aber die Aussicht, dass die Tundra Sibiriens Weizenfeldern weicht, sorgt im Kreml für Zukunftsoptimismus. Nirgendwo sonst kann durch die Erwärmung so viel potentielles Ackerland gewonnen werden wie hier. Womit die Stellung Russlands als der Weizenkammer, als der Ernährer der Welt auf Jahrzehnte hinaus gesichert wäre. „Putin“, stellt Lazard fest, „versucht für Russland landwirtschaftliche Flächen zu horten, wodurch die Abhängigkeit des Weltagrarmarkts von Russland zunimmt.“

Das ist bei weitem noch nicht alles. Am 4. März wie am 20. Mai weist Lazard explizit auf eine weitere Komponente hin, die ihrer Meinung nach in ihrer geopolitischen Dimension noch immer nicht wahrgenommen wird – weil die EU sich immer noch nicht als geopolitisches Projekt begreift.

„Im Jahr 2021“, führt Lazard aus, „schloss die Europäische Union eine Partnerschaft mit der Ukraine zur Lieferung von Rohstoffen, die für die Dekarbonisierung und die Digitalisierung notwendig sind. Russlands Einmarsch in die Ukraine kann also als Versuch gesehen werden, zusätzlich zu den landwirtschaftlichen Ressourcen auch Bodenschätze zu horten, indem es sich Zugang zu Bodenschätzen außerhalb seines Territoriums verschafft.

Dies ist ein Verhaltensmuster, das wir immer häufiger bei Russland beobachten: Der Versuch, sich Einflusssphären in der Welt zu sichern, sei es in der Ukraine, in der Zentralafrikanischen Republik oder in Mali. Da sich der Klimawandel beschleunigt und sich die Energiesysteme verändern, möchte Russland Einfluss darauf nehmen, wie andere Länder und Regionen, einschließlich der Europäischen Union, in der Lage sein werden, effektiv auf erneuerbare Energien umzusteigen und die demokratische, geoökonomische und sozioökonomische Widerstandsfähigkeit angesichts des Klimawandels zu erhalten.“

Merke, Klimapolitik ist Industriepolitik ist Geopolitik. (fksk, 29.05.22)

Woche 18 – Europas Zeitfenster

Woche zehn. In Mariupol wird immer noch um das Stahlwerk gekämpft, ukrainische Truppen gehen bei Charkiv und Izium zum Gegenangriff über und die russische Schwarzmeerflotte verliert mit der Fregatte „Admiral Makarov“ ein weiteres Kampfschiff durch ukrainischen Beschuß. Während in Moskau die Vorbereitungen zur Siegesparade am 9. Mai anlaufen und weltweit darüber spekuliert wird, wie Putin diesen Tag nutzen wird, lädt Selenskij den deutschen Präsidenten Steinmeier und auch gleich noch Kanzler Scholz für denselben Tag nach Kiew. Auf die deutschen Panzer Gepard und die Panzerhaubitzen 2000 wird die Ukraine länger warten müssen. In Deutschland wie in Österreich diskutiert man unterdessen über den Brief der 28.  Und vergisst, dass sich die Welt nicht ausschließlich um deutsche und österreichische Befindlichkeiten dreht.

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Dieser Befund trifft freilich grosso modo auf die gesamte Europäische Union zu. Kommission und Parlament blicken gebannt in die Ukraine und arbeiten emsig an neuen Sanktionen, aber schon macht sich das übliche Abtauschen zwischen den 27 Regierungen wieder breit und bemerkbar. Es herrscht gewissermaßen wieder Alltag in all seiner Behäbigkeit.

Dabei besteht für Behäbigkeit kein Anlass. Das geeinte Auftreten des Westens gegenüber Russland ist allein der Tatsache geschuldet, dass Joe Biden US-Präsident ist, im Senat und Repräsentantenhaus (noch) die Mehrheit hat und die Antworten des westlichen Staatengemeinschaft klug dirigiert.

Die Frage ist nur, wie lange noch?

Im November finden die Midterms statt. Dass Senat und Repräsentantenhaus an die Republikaner fallen, ist nicht ausgemacht. Liegt aber im Bereich des Möglichen. Des sehr Möglichen. Für Biden bedeutete so ein Ausgang die totale Blockade durch den Kongress.

Und in zwei Jahren wählen die US-Bürger einen neuen Präsidenten. Und wieder ist es nicht ausgemacht, liegt aber im Bereich des Möglichen, dass Trump zum zweiten Mal in das Weiße Haus einzieht. Oder einer seiner Adepten.

Damit wäre der momentan vorherrschende transatlantische Konsens aller Wahrscheinlichkeit nach Geschichte. Und Europa, die Europäische Union, fände sich ohne Rückendeckung wieder. Vielmehr in einer Zwickmühle.

Man hat Tschetschenien weitgehend ausgeblendet, den Georgienkrieg 2008 klein geredet, den ersten Ukrainekrieg 2014 versucht, schnell wieder zu vergessen und war dann vom zweiten Ukrainekrieg und der Tatsache, dass Russland sich in einem allumfassenden Konflikt mit dem Westen sieht, auf das Höchste überrascht.

Nach demselben Muster droht die nächste Überraschung, wenn die USA sich aus Europa zurückziehen, über die Köpfe der EU hinweg Abmachungen mit Russland treffen, schlichtweg alle transatlantischen Stärken in den Kübel treten.

Es bleibt Europa nur ein kleines, eng bemessenes Zeitfenster, sich neben all den anderen Aufgaben, die dringlich sind, auf genau dieses Szenario einzustellen. Möglicherweise arbeiten ja tatsächlich in den vielen Thinktanks und Gremien, die sich in den 27 Hauptstädten tummeln, viele ausgewiesene Experten unermüdlich ohne Unterlass daran, für dieses Szenario gerüstet zu sein, den leeren Raum, der durch eine mögliche Abkehr der USA entsteht, durch die EU kraftvoll und kreativ zu füllen und zu nutzen. Möglicherweise arbeiten Kommission und Parlament längst schon und intensiv daran, die Außenpolitik der 27 zu einer Außenpoilitik aus einem Guß zu machen, legen die Fundamente für eine reibungslos und effizient funktionierende europäische Sicherheitsstruktur inklusive aller militärischen Kapazitäten und haben die Lösung und die Umsetzung, Europas Abhängigkeit von fossilen Energieträgern binnen kürzester Zeit auf ein absolutes Minimum zu reduzieren.

Joe Bidens Präsidentschaft ist ein Glücksfall für Europa. Gerade angesichts der russischen Aggression in der Ukraine. Es darf nur der Umstand, dass ein transatlantisch geprägter und auf Zusammenarbeit bedachter Joe Biden im Weißen Haus amtiert, nicht als gegeben angenommen werden. Schon Obama hatte klar zu verstehen gegeben, dass die Interessen der USA in Zukunft auf den pazifischen Raum fokussieren würden. Europa kann und darf sich nicht darauf verlassen, dass im Fall des Falles die USA in die Bresche springen. Vielmehr muss sich die Union mit Szenarien auseinandersetzen, in denen die USA nicht mehr nur ein ökonomischer Konkurrent, sondern auch ein politischer Gegner sein können. Die Zeitenwende, die der deutsche Kanzler im Februar im Bundestag beschworen hat, diese Zeitenwende wird viel an Überraschungen parat halten. Nur, sich nochmals davon überraschen zu lassen, dass die USA einen anderen Weg als Europa einschlagen, das ist selbst im Rahmen der Unwägbarkeiten dieser Zeitenwende keine Option.

Der Krieg in der Ukraine, das besondere Gewicht der USA und ihre innere Verfasstheit, sollten Grund genug dafür sein, die Union rasch wetterfest zu machen. Nicht allein als ökonomischen Block, sondern gerade als politischen Machtfaktor, der in der Lage ist, seine Interessen auf dem eigenen Kontinent und in der Welt auch ohne US-amerikanische Unterstützung zu vertreten. Im Fall des Falles sogar gegen US-Interessen.

Die Zeit drängt. (fksk, 08.05.22)

Woche 09 – Was in den Nebeln des Kriegs noch klar ist

Tag elf seit Beginn der russischen Invasion. Und alles liegt im Nebel. Klarheit ist in diesem Krieg mehr noch als in anderen Mangelware. Klar ist, wer wer ist. Wer Aggressor und wer Verteidiger. Klar ist auch, dass dieser Krieg wie bisher keiner via Social Media begleitet und interpretiert wird.

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Hier nun beginnt der Nebel zu wabern. Im steten Strom von Bildern, Meldungen und Videos ist es unmöglich, den Überblick zu bewahren. Manche Geschichten gehen viral. Der Ghost of Kiew etwa, der ukrainische Pilot, der an einem Tag fünf russische Kampfflugzeuge abgeschossen haben soll. Eine Leistung, die seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erbracht wurde. Ob die Meldung indes stimmt, kann weder verifiziert noch falsifiziert werden. Um den Ghost of Kiew ist es allerdings still geworden. Andere Geschichten sind der seinen gefolgt.

Eines ist ihnen allen gemein, sie erzählen vom ukrainischen Mut der Verzweiflung, mit dem sich Armee und Zivilisten den Angreifern entgegenstellen. Sie schaffen in der Ukraine und unter Ukrainern noch mehr an Verbundenheit und Zusammenhalt. Womit sie ihren wichtigsten Zweck erfüllen. Sie haben das Format, auch unter russischer Besatzung den ukrainischen Widerstandsgeist am Leben zu erhalten.

Putin mag das Land in Schutt und Asche legen, seine Städte in Grund und Boden bomben, er hat jetzt schon verloren. Die Einheit, die er beschwört, ist nicht mehr. Dazu ist allein in den letzten hundert Jahren zu viel an der Ukraine und ihren Menschen verbrochen worden. Vom Holodomor über die stalinistischen Säuberungen bis zum heutigen Angriff auf das Land. Mit Putin wird die letzte Gemeinsamkeit ausgelöscht.

Die Frage, die sich dabei stellt, ist, ob er sich der veränderten Stimmung in der Ukraine denn nicht bewusst war. Es ist auf jeden Fall eine groteske Fehleinschätzung des russischen Präsidenten. Auch das ist klar, trotz des Nebels.

Putin hat sich in allen Belangen verschätzt. Zuallererst im Widerstandswillen der Ukrainerinnen und Ukrainer. Aber auch, und das ganz wesentlich, in der Toleranz des von ihm so sehr verachteten Westens, weitere Grenzüberschreitungen hinzunehmen.

So, wie der russische Präsident Geburtshelfer einer neuen ukrainischen Identität ist, so hat ausgerechnet er zur Geschlossenheit und Einheit des Westens beigetragen. Mit Sanktionen haben er und seine Kamarilla gerechnet. Mit Protesten und hilfloser Empörung. Aber dann, und das war er ja gewohnt und dessen muss er sich also sicher gewesen sein, dann, nachdem etwas Wasser die Donau, die Havel, die Seine oder die Themse hinabgeflossen wäre, würde er wieder empfangen.

Wie einst 2014 in Wien, in allen Ehren, als der Präsident der Wirtschaftskammer gemeinsam mit dem österreichischen Bundespräsidenten Putin schamlos den Hof machen und die Kämpfe im Osten der Ukraine, die Besetzung der Krim schlichtweg kein Thema sind und wenn, dann in Form von Witzchen. So war es und so war es immer wieder und eigentlich auch überall. Wenigstens in diesem Punkt kann man Putin folgen, wenn er den Westen als feige, schwach und rückgratlos erlebt hat.

Das hat sich geändert. In aller Klarheit. Am Sonntag vor einen Woche räumt der neue deutsche Kanzler Olaf Scholz in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag wohlige deutsche Gewissheiten ab und stellt der Bundeswehr mehr und dringend benötigte Mittel in Aussicht. Die Koordination und Kooperation zwischen Großbritannien und der Europäischen Union funktioniert wie geschmiert, als hätte es niemals den Brexit und alle damit verbundenen gegenseitigen Verletzungen gegeben. Selbst im US-Kongress zollt die Opposition Joe Biden Respekt und Unterstützung. Und sogar in Österreich wird ein ganz anderer Ton angeschlagen als bisher. Ohne Augenzwinkern, ohne windelweichen Verweis auf die Neutralität. Vielmehr werden im Einklang mit allen anderen Unionsstaaten Sanktionen verhängt, die durchaus den Charakter einer mächtigen Waffe haben, die Russland und seiner Wirtschaft massiven Schaden zufügen (und dafür auch Schäden in der eigenen Wirtschaft in Kauf nehmen).

Damit hat Putin nicht gerechnet. So viel ist klar, und so viel geht aus seinen Reaktionen hervor.

Wobei die Einigkeit der westlichen Staatengemeinschaft (zu der selbstverständlich auch Japan, Südkorea und Taiwan zählen) nicht allein Russland adressiert, sondern auch und besonders China. Jeder Schritt, jede Maßnahme aber auch jede Zurückhaltung ist ein Signal an China, ist eine Demonstration dessen, wozu der Westen in der Lage ist und wozu er auch bereit ist in einem Konflikt. China, so viel ist klar, verfolgt die Entwicklungen akribisch und wird daraus seine Schlüsse ziehen.

Klar ist an diesem elften Tag des russischen Angriffkriegs auf die Ukraine, dass die russische Armee bislang nicht in der Lage ist, ihre gesteckten Ziele zu erreichen, dass deswegen die Opfer unter der Zivilbevölkerung noch zunehmen werden, dass dieser Krieg noch viel hässlicher werden wird, als er es schon ist.

Darüber darf der dichte Nebel an Social Media Geschichten und Bildern nicht hinwegtäuschen. (fksk, 06.03.22)

Woche 40 – Wetterleuchten der Konflikte

Trump ist krank. Die Corona-Infektionen steigen. Und alles wartet, bangt und hofft. Hofft, dass dieses Jahr sich doch noch zum Guten wendet, der Spuk wieder vorbei ist. Spätestens zur Jahreswende, also irgendwann zwischen November und Jänner; dass dann alles wieder wird. Wenigstens halbwegs und nicht mehr so nervenaufreibend.

Nichts wird wieder so. Nicht, dass eine Zeitenwende anstünde, von der im März und April viel und oft die Rede war. Nur der Fokus, das grelle Scheinwerferlicht, mit dem der Virus und die USA ausgeleuchtet werden, verhüllt mehr, als es zeigt. Im Schatten und im Dunkel jenseits des Lichtkegels geschehen entladen sich Spannungen, die nur dann und wann und kurz Aufmerksamkeit erregen.

© Johannes Plenio / unsplash.com

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Zum Beispiel Taiwan. Steve Tsang, Direktor des SOAS China Institute an der University of London, schätzt die Möglichkeit einer chinesischen Intervention auf der Insel ab November höher als je zuvor. Wenn der Ausgang der Präsidentschaftswahl am 3. November umstritten ist, die USA in einem Zustand verfassungsrechtlicher Auseinandersetzung gelangen und außenpolitisch gelähmt sind: „Peking würde darin eine Gelegenheit sehen, die nur alle tausend Jahre wiederkehrt“. Die Möglichkeit, sein Gebiet und seine Gebietsansprüche auf essentielle Seewege substantiell zu erweitern. Sowie die Chance, ein Beispiel chinesischer Demokratie zu tilgen.

Tatsächlich verschärft die Volksrepublik über die letzten Wochen nicht nur ihre Rhetorik gegenüber Taiwan, sie testet zusehend auch Grenzen aus. Ihre Marineverbände queren demonstrativ jene Linie in der Straße von Taiwan, die zwischen Peking und Taipeh als Demarkationslinie gilt. Nicht, um in der Tat und jetzt sofort anzugreifen, aber um Selbstbewusstsein zu demonstrieren. Und – um die amerikanische Reaktion zu prüfen. Die besteht bisher darin, einige wenige Schiffe in die Meerenge zu entsenden. Washington ist anderweitig beschäftigt.

Zum Beispiel Berg Karabach. Was aus europäischer Perspektive wie ein Konflikt weit hinten im Kaukasus und damit weit, weit weg erscheint, hat das Potential eine ganze Region in Brand zu setzen. Nach der Unabhängigkeit Armeniens und Aserbeidschans kam es bereits zum Krieg um die armenische Enklave in Aserbeidschan. Ein Konflikt, aus dem Armenien gestärkt hervorging und Berg Karabach als beinahe von Aserbeidschan losgelöste Region. Seither und damit fast 30 Jahre lang herrscht ein eiskalter Friede. Anders ausgedrückt, ein eingefrorener Konflikt.

Jetzt wird wieder gekämpft. Doch diesmal sind nicht nur Armenier und Aserbeidschaner beteiligt, vieles deutet darauf hin, dass die Türkei Baku mit Material und Mannschaften versorgt. Russland verhält sich abwartend, die USA engagieren sich gar nicht, selbst die Europäer verhalten sich, als ginge sie das alle gar nichts an. Man hat mit eigenen Problemen zu tun. Der Kaukasus ist fern.

Zum Beispiel die indisch-chinesische Grenzregion im Himalaya, wo indische und chinesische Grenztruppe im Sommer aneinandergerieten. Mit Steinen und Felsbrocken, geradezu archaisch. Wobei man sich die Folgen nicht ausmalen möchte, sollten die beiden Staaten tatsächlich in einen Krieg schlittern. Wobei es wichtig wäre, sich gerade diese Folgen auszumalen, um im Fall des Falles wenigstens diplomatisch noch agieren zu könne, um als Makler anerkannt und genutzt zu werden.

Zum Beispiel die Ägäis und das östliche Mittelmeer, in dem die Türkei ein ums andere Mal ihre Ansprüche rüde durchzusetzen sucht, was von Griechenland nicht minder rüde und von der Europäischen Union mit der demonstrativen Verlegung französischer Geschwader zum einen mit drängenden deutschen Gesprächsreigen zum anderen beantwortet wird. Die USA, als Nato-Verbündeter beiden Staaten verpflichtet, sind abwesend.

Donald Trump hat vor vier Jahren versprochen, die Truppen der USA nach Hause zu bringen, sich aus den Kriegen und Konflikten der Welt zurückzuziehen, denn für ihn gilt „America first“. Nun mag dieser Rückzug absolut legitim sein, das schallende Desinteresse, welches die Trump-Administration den immer öfter aufbrechenden Konfliktlinien entgegenbringt, ist es nicht. Wo Washington sich herausnimmt, hinterlässt es Leerstellen, freie Räume. Mithin Möglichkeiten, Fakten zu schaffen. Und Fakten lassen sich militärisch schneller schaffen als auf jede andere Art und Weise.

Die Europäische Union unterdessen ist nach wie vor nicht in der Lage, auch nur annähernd und auch nur in den unmittelbar angrenzenden Regionen diese Leerräume zu besetzen und zu stabilisieren. Sie ist dazu weder politisch und schon gar nicht militärisch in der Lage.

Mit der amerikanischen Absenz, der europäischen Irrelevanz und dem weltweiten Fokus auf Corona und den 3. November, ergeben sich nun eben Chancen, alste Rechnungen zu begleichen. Ganz ungestört und effektiv. Die Auswirkungen des Jahres 2020 werden die Welt noch lange beschäftigen.

Dabei gibt es auch hoffnungsvolle Entwicklungen.

Zum Beispiel Mali. Der Militärputsch im August interessierte Europa gerade so weit, als es um die Sicherheit europäischer Truppen und Ausbilder im Land ging. Die USA interessiert er gar nicht. Dass die Nachbarstaaten der Westafrikanischen Wirtschaftsunion (ECOWAS) indes massiven Druck auf die Junta ausübten, so schnell als möglich und nicht erst in drei Jahren zu einer Zivilregierung zurückzukehren, wurde nur sehr am Rande, eigentlich fast gar nicht registriert. Dass afrikanische Länder sich offen in die inneren Angelegenheiten eines anderen einmischen, das hat immer noch Seltenheitswert. Dass die westafrikanischen Staaten mit dieser Tradition brechen und sich dabei unter anderem auf grundlegende Werte ihrer Union berufen – das sollte gerade die Europäer interessieren. Als eine gute Nachricht, die neue Perspektiven der Zusammenarbeit eröffnet. In Mali sind nun Zivilisten an der Übergangsregierung beteiligt. (fksk/4.10.20)

Woche 38 – Boris haut auf den Putz

Ach, Boris. Letzte Woche entdeckt ZEIT-Redakteur Jan Ross den britischen Premier als Retter des bürgerlichen Konservativismus (Die Zeit N° 38/10.9.20) und beschreibt all die konstruktiven, optimistischen und bürgerlich-liberalen Charaktereigenschaften des obersten Torys. Und mit ihnen beschreibt er den europaweiten Niedergang des bisher existenten bürgerlich-konservativen Lagers.

Also jenes breiten Weltanschauungsdachs, „unter dem Unternehmer (dank des Gegensatzes zum atheistischen Marxismus), Gewerkschafter (wegen der christlichen Soziallehre) und Bildungsbürger (als Adressaten des Gymnasialhumanismus) gleichermaßen Platz fanden“.

© annie spratt / unsplash.com

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Boris Johnson, so Ross, sei zu der Schlüsselfigur einen „Volkskonservativen“ geworden. Mithin zu einem Hoffnungsträger. Ein rares Lob, von Ross mit Vorbehalten unterbreitet.

Die Vorsicht war begründet. Denn der von Ross Gelobte will nun den, von ihm verhandelten und unterzeichneten, Austrittsvertrag mit der Europäischen Union nicht mehr einhalten. Weil, so Premier Johnson, dieser Vertrag eine Grenze innerhalb des Vereinigten Königreichs zur Folge habe. Weil, so Boris Johnson weiter, die EU somit die Möglichkeit habe, das Königreich zu zerlegen. Stück für Stück.

Es ging und es geht immer nur um die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland. Und es geht um das Karfreitagsabkommen, durch das der jahrzehntedauernde Bürgerkrieg im Norden der Insel beendet werden konnte – wobei gerade die offene Grenze eine wesentliche Rolle spielte. Eine offene Grenze, die dank der Europäischen Union offen sein konnte. Auch weil niemand sich vorstellen konnte oder wollte, dass das Vereinigte Königreich aus der Union austreten würde.

Seit der Abstimmung 2016 geht es in allen Verhandlungen immer und immer wieder um die Frage, wie die Grenze zwischen dem Norden und dem Rest der Insel – so wie im Karfreitagsabkommen festgehalten – eine offene Grenze bleibt. Was nun verhandelt wurde läuft in gewisser Weise auf die alte Lösung mit dem Kleinwalsertal hinaus. Die österreichische Exklave zählte in Wirtschaftsfragen zu Deutschland, politisch zu Österreich.

Für Boris Johnson ein Affront. Der Startschuss, Großbritannien in seine Einzelteile zu zerlegen.

Also poltert er, legt dem Parlament ein Gesetz vor, welches im Widerspruch zum Austrittsvertrag steht. Erklärt letztlich aller Welt, dass Verträge, die das Königreich abschließt, vom Königreich nicht als bindend betrachtet werden.

Das kennt man. Von Potentaten, autoritären Figuren, ja, auch Diktatoren. Rechtssicherheit ist ein hohes Gut. Darauf will Verlass sein. Darauf muss Verlass sein. Vertragstreue ist das essentielle Element des Völkerrechts. Dieses baut nicht auf Strafen oder Sanktionen auf, sondern auf Vertrauen. Auf Dialog, Debatte, Auseinandersetzung.

Allesamt langwierige Verfahren.

Boris Johnson aber braucht schnell einen Erfolg. Er braucht einen Gassenhauer, einen Top-of-the-Pop-Nummer-1-Hit in der politischen Arena, denn ihm steht das Wasser bis zum Hals. Londons Brücken bröckeln, Corona legt das Königreich lahm, Schottland drängt zum Exit und dem Pfund ging es auch schon besser. Zudem liegt der neue Labour Chef, Keir Starmer, in den Umfragewerten weit voran.

Also haut Boris auf den Putz. Ohne Rücksicht auf Verluste an Vertrauen.

Boris ist dabei nicht alleine. Auch Konservative anderer Länder nehmen es mit Normen, Gesetzen, Vorschriften und Vereinbarungen nicht mehr allzu streng.

Doch Großbritannien ist ein anderes Kaliber. Es ist Atommacht, Ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats und – gemeinsam mit den USA – einer der Architekten jener völkerrechtlichen Ordnung, die nach 1945 errichtet wurde. Eine Struktur, die bei allen Fehlern, Makeln und Schwächen, für ein weitgehend gedeihliches Zusammenleben auf diesem Planeten sorgt. Weil man ihr vertraut.

Wenn Großbritannien sich nicht mehr an Verträge hält, aus welchen Gründen sollten sich dann andere noch an Verträge und Normen halten?

Konservativ ist das nicht. Jan Ross muss einen anderen Hoffnungsträger suchen. (fksk/20.9.20)