Armenien

Woche 37 – Die Botschaft von Charkiv

Nach 200 Tagen Krieg gerät etwas in Bewegung. Zuallererst die Front, die die ukrainischen Streitkräfte deutlich nach Osten und zur Grenze hin verschoben haben. Ein Erfolg, der überraschend kam.

Denn: Die Lehrbücher sehen ihn so nicht vor. Ebenso wenig wie die herrschende Meinung, die Russland als groß und mächtig und unbesiegbar sieht. Immer noch. Selbst nach dem Fiasko vor Kiew zu Beginn des Krieges.

© Mikhail Volkov / unsplash.com

Daraus hatte die russische Armeeführung wohl die Konsequenzen gezogen und sich auf ein einen langen, langsamen und zermürbenden Krieg im Osten und Süden der Ukraine eingerichtet. Je länger er dauern würde, je alltäglicher er geriete, desto besser. Denn dann würde der Westen des Krieges und seiner unmittelbaren Folgen auf die europäische Wirtschaft überdrüssig. Und schließlich würden die westeuropäischen Staats- und Regierungschefs – allen voran der deutsche Kanzler – Kiew zum Einlenken, zu Verhandlungen und zum Eingeständnis, den Krieg nicht gewinnen und sein Territorium nicht befreien zu können, drängen.

Putin kennt die westeuropäische Gemütslage. Er hat sie oft und intensiv studieren dürfen, auf Hochzeiten, während gemeinsamer Skiliftfahrten in den Alpen, in langen freundschaftlichen Gesprächen.

Das war, davon kann man ausgehen, in etwa die Strategie, der Plan.

Die Ukrainer haben dem nun eine Offensive entgegengesetzt, die allen Lehrbüchern widerspricht. Erst kündigen sie eine Offensive im Süden an, geben Russland Zeit und Gelegenheit, die eigenen Truppen rund um Cherson zu verstärken und greifen an, obwohl sie keine Überlegenheit von eins zu drei aufweisen. Die aber, so die Lehrbücher und die herrschende Meinung, braucht es, um einen Angriff erfolgreich durchführen zu können.

Und dann setzt sich die ukrainische Armee auch noch rund um Charkiv in Bewegung, wobei die russischen Besatzer ihr nichts entgegenzusetzen haben. Weswegen der Begriff des Blitzkriegs, zumindest in den englischsprachigen Medien, eine Renaissance erfährt.

Der Krieg ist damit noch lange nicht vorüber. Er ist nur, was Moskau sicher nicht passt, in die Wohnzimmer Westeuropas zurückgekehrt. Und das mit einer klaren Botschaft: Die russische Armee kann geschlagen werden. Sie kann empfindlich geschlagen werden. Moskaus Macht ist endlich.

Das ist die, für Putin, unendlich gefährlichere Botschaft als es noch der Rückzug vor Kiew war.

Es unterzeichnen russische Abegordnete aus St. Petrersburg, Moskau, aus Saratow und anderen, kleineren Städten eine Petition, die seinen, Putins, Rücktritt verlangt. Um Schaden von Russland abzuwenden. Es wird im russischen Talk-TV laut und offen überlegt, was nun zu tun ist. Und die Meinungen divergieren deutlich.

Vor allem aber flammt Krieg am Rande des russischen Imperiums auf. Aserbeidschan greift Armenien an. In Armenien, nicht in Berg-Karabach. Es scheint, als nutze die Regierung in Baku die Gunst der Stunde der geschlagenen russischen Armee bei Charkiv dazu, Tatsachen zu schaffen. Und einen eingefrorenen Konflikt militärisch und ohne russische Interventionen zugunsten Armeniens befürchten zu müssen, zu seinem Vorteil zu wenden.

Aserbeidschan ist nicht allein in seinem Bemühen, alte Konflikte angesichts des sichtbaren Schwächelns der russischen Armee zu seinen Gunsten zu nutzen: An der Grenze zwischen Kirgistan und Tadschikistan kommt es gleichfalls zu Gefechten zwischen bewaffneten Einheiten beider Länder.

Man kann, man muss davon ausgehen, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine in den ehemaligen Ländern des Sowjetunion sehr genau verfolgt wird. Mehr noch, dass dieser Krieg von Moskau auch als Demonstration seiner uneingeschränkten Macht und damit als deutliche Warnung an die Adresse aller Ex-Republiken gedacht und angelegt war. 2020 noch, als aserbeidschanische Truppen in die armenisch besetzte Exklave vordringen, setzt Moskau einen Waffenstillstand und kalten Frieden zwischen den beiden Oppnenten durch. Inklusive der Stationierung eigener Truppen in der Region.

Im Jänner dieses Jahres entsendet Moskau, noch während sein Truppenaufmarsch an den Grenzen zur Ukraine andauert, Einheiten nach Kasachstan, um dort Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Die kasachische Regierung indes hält seither Distanz zu Moskau. Trotzdem hatte die rasche Verlegung einsatzfähiger Truppen im Westen und sicherlich auch in der Region Eindruck gemacht.

So wie jetzt die Niederlage von Charkiv.

Das Problem Moskaus ist, dass die Niederlage deutlich mehr Eindruck macht. Und durchaus das Streben einiger Länder und Ethnien nach mehr Unabhängigkeit, nach einem Ende der russischen Dominanz befeuern kann. Oder eben im Sinne des Wortes befeuert, blickt man auf Aserbeidschan.

Wenn aber an den Rändern des Imperiums Konflikte aufbrechen, wenn die Bruchlinien sich bis nach Russland selbst verlagern, sieht sich Moskau einem schier unlösbaren Problem gegenüber. Nicht nur Moskau.

Brechen alte und neue Konfliktlinien vom Kauskasus bis nach Zentralasien auf, dann sind davon auch chinesische Interessen unmittelbar betroffen. Das reicht von der Neuen Seidenstraße bis hin zu potenziellen Auswirkungen auf die ethnischen Minderheiten in China, wie die Uiguren. Ist Russland nicht mehr in der Lage, die Situation mit eiserner Faust zu kontrollieren, kann für Peking der Moment kommen, an dem es sich direkt engagieren muss. Das bedeutet nichts weniger, als dass China seine Interessen im bis dato russischen Einflussgebiet selbst und militärisch vertritt.

Noch ist es nicht so weit. Und nichts deutet darauf hin, dass es bald schon dazu kommt. Zumal China lieber einen schwachen, zur Kontrolle der Lage in Zentralasien gerade genügend starken Nachbarn hat, als seine eigenen Soldaten einzusetzen. Der kühle Empfang, dem Putin beim Treffen der Shanghai-Gruppe in Samarkand seitens seiner Autokratenkollegen entboten wurde, spricht Bände.

Die Schlacht um Charkiv hat den Krieg in der Ukraine nicht beendet. Aber sie hat dem Ansehen des russischen Imperiums mehr Schaden zugefügt, als sich in Mannschaftsstärken und Material zählen lässt. Der Koloss ist verletztlich. Das ist die Botschaft von Charkiv. (fksk, 18.09.22)

Woche 40 – Wetterleuchten der Konflikte

Trump ist krank. Die Corona-Infektionen steigen. Und alles wartet, bangt und hofft. Hofft, dass dieses Jahr sich doch noch zum Guten wendet, der Spuk wieder vorbei ist. Spätestens zur Jahreswende, also irgendwann zwischen November und Jänner; dass dann alles wieder wird. Wenigstens halbwegs und nicht mehr so nervenaufreibend.

Nichts wird wieder so. Nicht, dass eine Zeitenwende anstünde, von der im März und April viel und oft die Rede war. Nur der Fokus, das grelle Scheinwerferlicht, mit dem der Virus und die USA ausgeleuchtet werden, verhüllt mehr, als es zeigt. Im Schatten und im Dunkel jenseits des Lichtkegels geschehen entladen sich Spannungen, die nur dann und wann und kurz Aufmerksamkeit erregen.

© Johannes Plenio / unsplash.com

© Johannes Plenio / unsplash.com

Zum Beispiel Taiwan. Steve Tsang, Direktor des SOAS China Institute an der University of London, schätzt die Möglichkeit einer chinesischen Intervention auf der Insel ab November höher als je zuvor. Wenn der Ausgang der Präsidentschaftswahl am 3. November umstritten ist, die USA in einem Zustand verfassungsrechtlicher Auseinandersetzung gelangen und außenpolitisch gelähmt sind: „Peking würde darin eine Gelegenheit sehen, die nur alle tausend Jahre wiederkehrt“. Die Möglichkeit, sein Gebiet und seine Gebietsansprüche auf essentielle Seewege substantiell zu erweitern. Sowie die Chance, ein Beispiel chinesischer Demokratie zu tilgen.

Tatsächlich verschärft die Volksrepublik über die letzten Wochen nicht nur ihre Rhetorik gegenüber Taiwan, sie testet zusehend auch Grenzen aus. Ihre Marineverbände queren demonstrativ jene Linie in der Straße von Taiwan, die zwischen Peking und Taipeh als Demarkationslinie gilt. Nicht, um in der Tat und jetzt sofort anzugreifen, aber um Selbstbewusstsein zu demonstrieren. Und – um die amerikanische Reaktion zu prüfen. Die besteht bisher darin, einige wenige Schiffe in die Meerenge zu entsenden. Washington ist anderweitig beschäftigt.

Zum Beispiel Berg Karabach. Was aus europäischer Perspektive wie ein Konflikt weit hinten im Kaukasus und damit weit, weit weg erscheint, hat das Potential eine ganze Region in Brand zu setzen. Nach der Unabhängigkeit Armeniens und Aserbeidschans kam es bereits zum Krieg um die armenische Enklave in Aserbeidschan. Ein Konflikt, aus dem Armenien gestärkt hervorging und Berg Karabach als beinahe von Aserbeidschan losgelöste Region. Seither und damit fast 30 Jahre lang herrscht ein eiskalter Friede. Anders ausgedrückt, ein eingefrorener Konflikt.

Jetzt wird wieder gekämpft. Doch diesmal sind nicht nur Armenier und Aserbeidschaner beteiligt, vieles deutet darauf hin, dass die Türkei Baku mit Material und Mannschaften versorgt. Russland verhält sich abwartend, die USA engagieren sich gar nicht, selbst die Europäer verhalten sich, als ginge sie das alle gar nichts an. Man hat mit eigenen Problemen zu tun. Der Kaukasus ist fern.

Zum Beispiel die indisch-chinesische Grenzregion im Himalaya, wo indische und chinesische Grenztruppe im Sommer aneinandergerieten. Mit Steinen und Felsbrocken, geradezu archaisch. Wobei man sich die Folgen nicht ausmalen möchte, sollten die beiden Staaten tatsächlich in einen Krieg schlittern. Wobei es wichtig wäre, sich gerade diese Folgen auszumalen, um im Fall des Falles wenigstens diplomatisch noch agieren zu könne, um als Makler anerkannt und genutzt zu werden.

Zum Beispiel die Ägäis und das östliche Mittelmeer, in dem die Türkei ein ums andere Mal ihre Ansprüche rüde durchzusetzen sucht, was von Griechenland nicht minder rüde und von der Europäischen Union mit der demonstrativen Verlegung französischer Geschwader zum einen mit drängenden deutschen Gesprächsreigen zum anderen beantwortet wird. Die USA, als Nato-Verbündeter beiden Staaten verpflichtet, sind abwesend.

Donald Trump hat vor vier Jahren versprochen, die Truppen der USA nach Hause zu bringen, sich aus den Kriegen und Konflikten der Welt zurückzuziehen, denn für ihn gilt „America first“. Nun mag dieser Rückzug absolut legitim sein, das schallende Desinteresse, welches die Trump-Administration den immer öfter aufbrechenden Konfliktlinien entgegenbringt, ist es nicht. Wo Washington sich herausnimmt, hinterlässt es Leerstellen, freie Räume. Mithin Möglichkeiten, Fakten zu schaffen. Und Fakten lassen sich militärisch schneller schaffen als auf jede andere Art und Weise.

Die Europäische Union unterdessen ist nach wie vor nicht in der Lage, auch nur annähernd und auch nur in den unmittelbar angrenzenden Regionen diese Leerräume zu besetzen und zu stabilisieren. Sie ist dazu weder politisch und schon gar nicht militärisch in der Lage.

Mit der amerikanischen Absenz, der europäischen Irrelevanz und dem weltweiten Fokus auf Corona und den 3. November, ergeben sich nun eben Chancen, alste Rechnungen zu begleichen. Ganz ungestört und effektiv. Die Auswirkungen des Jahres 2020 werden die Welt noch lange beschäftigen.

Dabei gibt es auch hoffnungsvolle Entwicklungen.

Zum Beispiel Mali. Der Militärputsch im August interessierte Europa gerade so weit, als es um die Sicherheit europäischer Truppen und Ausbilder im Land ging. Die USA interessiert er gar nicht. Dass die Nachbarstaaten der Westafrikanischen Wirtschaftsunion (ECOWAS) indes massiven Druck auf die Junta ausübten, so schnell als möglich und nicht erst in drei Jahren zu einer Zivilregierung zurückzukehren, wurde nur sehr am Rande, eigentlich fast gar nicht registriert. Dass afrikanische Länder sich offen in die inneren Angelegenheiten eines anderen einmischen, das hat immer noch Seltenheitswert. Dass die westafrikanischen Staaten mit dieser Tradition brechen und sich dabei unter anderem auf grundlegende Werte ihrer Union berufen – das sollte gerade die Europäer interessieren. Als eine gute Nachricht, die neue Perspektiven der Zusammenarbeit eröffnet. In Mali sind nun Zivilisten an der Übergangsregierung beteiligt. (fksk/4.10.20)