Nach 200 Tagen Krieg gerät etwas in Bewegung. Zuallererst die Front, die die ukrainischen Streitkräfte deutlich nach Osten und zur Grenze hin verschoben haben. Ein Erfolg, der überraschend kam.
Denn: Die Lehrbücher sehen ihn so nicht vor. Ebenso wenig wie die herrschende Meinung, die Russland als groß und mächtig und unbesiegbar sieht. Immer noch. Selbst nach dem Fiasko vor Kiew zu Beginn des Krieges.
Daraus hatte die russische Armeeführung wohl die Konsequenzen gezogen und sich auf ein einen langen, langsamen und zermürbenden Krieg im Osten und Süden der Ukraine eingerichtet. Je länger er dauern würde, je alltäglicher er geriete, desto besser. Denn dann würde der Westen des Krieges und seiner unmittelbaren Folgen auf die europäische Wirtschaft überdrüssig. Und schließlich würden die westeuropäischen Staats- und Regierungschefs – allen voran der deutsche Kanzler – Kiew zum Einlenken, zu Verhandlungen und zum Eingeständnis, den Krieg nicht gewinnen und sein Territorium nicht befreien zu können, drängen.
Putin kennt die westeuropäische Gemütslage. Er hat sie oft und intensiv studieren dürfen, auf Hochzeiten, während gemeinsamer Skiliftfahrten in den Alpen, in langen freundschaftlichen Gesprächen.
Das war, davon kann man ausgehen, in etwa die Strategie, der Plan.
Die Ukrainer haben dem nun eine Offensive entgegengesetzt, die allen Lehrbüchern widerspricht. Erst kündigen sie eine Offensive im Süden an, geben Russland Zeit und Gelegenheit, die eigenen Truppen rund um Cherson zu verstärken und greifen an, obwohl sie keine Überlegenheit von eins zu drei aufweisen. Die aber, so die Lehrbücher und die herrschende Meinung, braucht es, um einen Angriff erfolgreich durchführen zu können.
Und dann setzt sich die ukrainische Armee auch noch rund um Charkiv in Bewegung, wobei die russischen Besatzer ihr nichts entgegenzusetzen haben. Weswegen der Begriff des Blitzkriegs, zumindest in den englischsprachigen Medien, eine Renaissance erfährt.
Der Krieg ist damit noch lange nicht vorüber. Er ist nur, was Moskau sicher nicht passt, in die Wohnzimmer Westeuropas zurückgekehrt. Und das mit einer klaren Botschaft: Die russische Armee kann geschlagen werden. Sie kann empfindlich geschlagen werden. Moskaus Macht ist endlich.
Das ist die, für Putin, unendlich gefährlichere Botschaft als es noch der Rückzug vor Kiew war.
Es unterzeichnen russische Abegordnete aus St. Petrersburg, Moskau, aus Saratow und anderen, kleineren Städten eine Petition, die seinen, Putins, Rücktritt verlangt. Um Schaden von Russland abzuwenden. Es wird im russischen Talk-TV laut und offen überlegt, was nun zu tun ist. Und die Meinungen divergieren deutlich.
Vor allem aber flammt Krieg am Rande des russischen Imperiums auf. Aserbeidschan greift Armenien an. In Armenien, nicht in Berg-Karabach. Es scheint, als nutze die Regierung in Baku die Gunst der Stunde der geschlagenen russischen Armee bei Charkiv dazu, Tatsachen zu schaffen. Und einen eingefrorenen Konflikt militärisch und ohne russische Interventionen zugunsten Armeniens befürchten zu müssen, zu seinem Vorteil zu wenden.
Aserbeidschan ist nicht allein in seinem Bemühen, alte Konflikte angesichts des sichtbaren Schwächelns der russischen Armee zu seinen Gunsten zu nutzen: An der Grenze zwischen Kirgistan und Tadschikistan kommt es gleichfalls zu Gefechten zwischen bewaffneten Einheiten beider Länder.
Man kann, man muss davon ausgehen, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine in den ehemaligen Ländern des Sowjetunion sehr genau verfolgt wird. Mehr noch, dass dieser Krieg von Moskau auch als Demonstration seiner uneingeschränkten Macht und damit als deutliche Warnung an die Adresse aller Ex-Republiken gedacht und angelegt war. 2020 noch, als aserbeidschanische Truppen in die armenisch besetzte Exklave vordringen, setzt Moskau einen Waffenstillstand und kalten Frieden zwischen den beiden Oppnenten durch. Inklusive der Stationierung eigener Truppen in der Region.
Im Jänner dieses Jahres entsendet Moskau, noch während sein Truppenaufmarsch an den Grenzen zur Ukraine andauert, Einheiten nach Kasachstan, um dort Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Die kasachische Regierung indes hält seither Distanz zu Moskau. Trotzdem hatte die rasche Verlegung einsatzfähiger Truppen im Westen und sicherlich auch in der Region Eindruck gemacht.
So wie jetzt die Niederlage von Charkiv.
Das Problem Moskaus ist, dass die Niederlage deutlich mehr Eindruck macht. Und durchaus das Streben einiger Länder und Ethnien nach mehr Unabhängigkeit, nach einem Ende der russischen Dominanz befeuern kann. Oder eben im Sinne des Wortes befeuert, blickt man auf Aserbeidschan.
Wenn aber an den Rändern des Imperiums Konflikte aufbrechen, wenn die Bruchlinien sich bis nach Russland selbst verlagern, sieht sich Moskau einem schier unlösbaren Problem gegenüber. Nicht nur Moskau.
Brechen alte und neue Konfliktlinien vom Kauskasus bis nach Zentralasien auf, dann sind davon auch chinesische Interessen unmittelbar betroffen. Das reicht von der Neuen Seidenstraße bis hin zu potenziellen Auswirkungen auf die ethnischen Minderheiten in China, wie die Uiguren. Ist Russland nicht mehr in der Lage, die Situation mit eiserner Faust zu kontrollieren, kann für Peking der Moment kommen, an dem es sich direkt engagieren muss. Das bedeutet nichts weniger, als dass China seine Interessen im bis dato russischen Einflussgebiet selbst und militärisch vertritt.
Noch ist es nicht so weit. Und nichts deutet darauf hin, dass es bald schon dazu kommt. Zumal China lieber einen schwachen, zur Kontrolle der Lage in Zentralasien gerade genügend starken Nachbarn hat, als seine eigenen Soldaten einzusetzen. Der kühle Empfang, dem Putin beim Treffen der Shanghai-Gruppe in Samarkand seitens seiner Autokratenkollegen entboten wurde, spricht Bände.
Die Schlacht um Charkiv hat den Krieg in der Ukraine nicht beendet. Aber sie hat dem Ansehen des russischen Imperiums mehr Schaden zugefügt, als sich in Mannschaftsstärken und Material zählen lässt. Der Koloss ist verletztlich. Das ist die Botschaft von Charkiv. (fksk, 18.09.22)