Woche 03 – Putin macht Schule

Das klingt vertraut: Erewan sei, betonte unlängst Aserbeidschans Präsident Alijew, von alters her und also immer schon aserbeidschanisches Territorium und Siedlungsgebiet. Dass die Stadt, noch dazu als Hauptstadt, armenisch ist, das verdanke sich nur einem dummen Zufall aus den frühen Tagen der Sowjetunion. So klang Alijew bereits 2018. Jetzt hat er es wieder in den Raum gestellt. Diesmal nach militärischen Erfolgen und im Schatten des russischen Kriegs in der Ukraine.

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Putins Beispiel macht Schule.

Als die russische Armee vor bald zwei Jahren alle Grenzen überschritt und nach der Krim und dem Donbass 2014 auf breiter Front in die Ukraine einfiel, setzte Moskau damit ein Exempel. Die internationale Ordnung, nach 1945 geschaffen auf Basis völkerrechtlicher Verträge und Verpflichtungen, ein System, dazu gedacht, Konflikte und Kriege hintanzuhalten, all das gilt nichts mehr. Allenfalls gelten sie als Instrumente des perfiden Westens zur Unterdrückung der Welt. Das ist ein unverhohlenes Signal an autoritäre Machthaber in anderen Weltgegenden, sich zu holen, was ihnen ins Auge sticht.

Die rohstoffreichen Regionen Guyanas etwa, auf die Venezuela Anspruch erhebt, abgesichert durch ein Referendum, in dem dieser Anspruch unter der eigenen Bevölkerung abgefragt wurde. Was die Bevölkerung in Guyana dazu zu sagen hätte, interessiert in Caracas nicht.

In Belgrad spitzt Präsident Vucic seit Monaten schon Sprache und Politik gegenüber dem Kosovo zu. Die serbische Armee wird aufgerüstet, um zu gegebenem Zeitpunkt der Unabhängigkeit der einstigen Provinz ein gewaltsames Ende zu bereiten und wohl auch der Eigenständigkeit Montenegros. Parallel dazu erhöht der Präsident des bosnisch-herzegowinischen Kantons Republika Srpska, Herr Dodik, die regionalen Spannungen und stellt die Vereinigung mit Serbien in den Raum.

Währenddessen nehmen die, von Iran unterstützten, Huthis von Jemen aus den Schiffsverkehr im Roten Meer ins Visier, feuern Raketen auf Frachtschiffe ab oder versuchen sie zu kapern. Im Irak erhöhen mit Iran verbündete Milizen ihre Attacken auf kurdische und US-amerikanische Einrichtungen, während Iran selbst Ziele in Pakistan mit Marschflugkörpern angreift – um Terroristen zu bestrafen, wie Teheran beteuert. Die Atommacht Pakistan antwortet ihrerseits mit Raketenangriffen auf iranische Ziele. Eine beunruhigende Entwicklung, die die Führung der afghanischen Taliban veranlasst, dringlich vor einem Dritten Weltkrieg zu warnen und die internationale Gemeinschaft zu beschwören, alles zu unternehmen, jede weitere Eskalation zu verhindern. Kim Jong-un unterdessen spekuliert so offen wie nie zuvor über einen Krieg gegen Südkorea.

Man kann sagen, die Lage spitzt sich zu.

Sie spitzt sich auch zu, weil der Westen als schwach wahrgenommen wird. Nach zwei Jahren des Kriegs in der Ukraine mehren sich die kriegsmüden Stimmen in Europa und den USA. In Washington blockieren die Republikaner dringend benötigte Gelder für die Ukraine. In der Europäischen Union ist es Ungarn, das blockiert.

Freilich nicht nur Ungarn. Die Union hat hehren Worten und wohltönenden Versprechen keine entsprechenden Taten folgen lassen. Immer noch hinkt die europäische Rüstungs- und Munitionsproduktion den eigenen Vorgaben weit hinterher, noch immer kann Europa aus eigener Kraft die Ukraine nicht unterstützen, noch immer taktieren wesentliche Politiker und zögern essenzielle Waffenlieferungen hinaus, so wie Deutschlands Kanzler Scholz, der die Taurus nicht und nicht freigibt. Die Zeitenwende, die er vor zwei Jahren unter dem Eindruck der russischen Aggression ausrief, materialisiert sich nicht. Nicht in konsequenter Politik. Nicht in robustem Handeln.

Dabei ist es die Ukraine, in der kommende Konflikte, Krisen und Kriege eingehegt werden können. Ist Europa nicht in der Lage, nicht fähig und willens, ein europäisches Land, das sich einem Vernichtungskrieg gegenüber sieht, mit allen Mitteln und mit aller Kraft zu unterstützen, dann ist auch das auch eine Botschaft an die Welt.

Es wäre das Eingeständnis, dass Politik nach Putinart nunmehr das Maß aller Dinge ist; dass Grenzen ebenso wie internationale Vereinbarungen nichts mehr gelten; dass Gewalt Vorrang vor Diplomatie hat; dass Europa sich in die neue Weltordnung nach dem Gusto Moskaus und Pekings fügt. Nicht zu seinem Vorteil. Putin und seine Gefolgsleute geben unumwunden ihre nächsten Ziele preis: das Baltikum, Polen, Finnland. Mindestens.

Dem kann Europa einen Riegel vorschieben. Indem es gezielt seine industriellen Kapazitäten nutzt, die Ukraine mit allen notwendigen Waffensystemen, Nachschub und Material zu versorgen, damit Kiyv an der Front Oberhand gewinnt – und Russland zum Rückzug zwingt. Mehr noch, Europa muss sein Sanktionsregime gegenüber Russland deutlich verschärfen und alle bislang geduldeten Schlupflöcher, über die nach wie vor strategisch wichtige Güter nach Russland gelangen, schließen. Und während Europa die Ukraine voll und ganz unterstützt, muss es seine militärische Abhängigkeit von den USA rasch reduzieren.

Damit ist Kim Jong-un noch nicht in die Schranken gewiesen. Das hält Maduro nicht davon ab, sein Nachbarland Guyana teilen zu wollen. Aber es ist ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass die Union bereit ist, ihre Interessen, ihre Friedens- und Sicherheits-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung auch robust zu verteidigen.

Alles das ist mit Kosten, Mühe und Risiken behaftet. Sie sind indes gering im Vergleich zu jenen Kosten, mit denen Europa und seinen Menschen konfrontiert werden, wenn Putins Politik Schule macht. Man kann sagen, es ist eine Investition in die Zukunft. Sie muss jetzt getätigt werden. (fksk, 21.01.2024)

Woche 02 – Geld. Oder gestalten.

Nun also ziehen sie über Deutschlands Straßen und in die Städte, Bauern, die demonstrieren, protestieren und – im Verein mit der in dieser Hinsicht stets verlässlichen Deutschen Bahn – den Verkehr der Republik stilllegen. Darüber mag man sich mokieren, diverse Aussagen und Symbole mag man rundheraus ablehnen, gleichwohl zahlt es sich aus, den frustrierten Landwirten zuzuhören. Denn, so ist zu vernehmen, es ist nicht die gestrichene und nun eilends wieder zugesagte Subvention des Diesels, es ist die Wut über Jahrzehnte agrarpolitischen Stillstands, die sie auf die Straßen treibt.

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Mit der ersten Sichtung von Milchseen und Butterbergen in den späten 70er und frühen 80er Jahren nahm ein Stillstand Form an, der seither mit allen nur erdenklichen Instrumentarien den Überschuss verwaltet. Mit Quotenregelungen, Subventionen, Preisstützungen, steuerlichen Pauschalierungen, günstigen Krediten und Sonderregelungen, die allesamt nur eines zum Ziel haben, den Änderungsdruck abzufedern um nichts grundsätzlich ändern zu müssen.

Ideen, Projekte, konkrete Politik, wie die Landwirtschaft – und mit ihr der ländliche Raum – attraktiv und zukunftsfähig werden können, welche Aufgaben und welchen Stellenwert sie innerhalb der Gesellschaft einnehmen, sucht man indes vergebens. In einer Welt, die sich dramatisch verändert hat (und kaum ein Bereich hat nach 1945 einen radikaleren Wandel durchlaufen als die Landwirtschaft), in einer Welt, die, getrieben durch Globalisierung, Klimawandel und Artensterben, an Veränderungstempo nochmals dramatisch zulegt, herrscht – teuer erkauft – Stillstand.

Damit steht die Landwirtschaft keineswegs alleine. Über Geld und Zuwendungen sucht die Politik allen möglichen Herausforderungen und Problemen beizukommen. Es mangelt im Bildungsbereich? Mehr Geld für die schulische Verwaltung. Es krankt der Gesundheitsbereich? Finanzspritzen sollen es richten. Es weitet sich die Einkommensschere und die Zahl der „Working Poor“ nimmt zu? Mehr Mittel für soziale Ausgleichszahlungen sollen die Unterschiede einebnen. An die Stelle politischer Auseinandersetzung ist die Auseinandersetzung um einen möglichst großen Anteil am Staatshaushalt getreten.

Das geht. Es geht eine Zeit lang, und es geht auch länger, wenn da oder dort nochmals zusätzliche Gelder aufgetan und großflächig verteilt werden. Bis es zur Gewohnheit wird, mit der man dann selbst existenziellen Krisen begegnet.

Die Finanzkrise von 2008 führte zu keiner grundlegenden Reform des Finanz- und Bankenwesens, sie führte aus der durchaus berechtigten Angst vor einer Rezession zu einer Politik des billigen Geldes, die durch die Pandemie der Jahre 2020/21 nochmals intensiviert wurde – allen Warnungen zum Trotz. Nun führt die Politik des billigen Geldes zu Inflation und steigenden Zinsen, denen Österreichs Politik todesmutig mit noch mehr Geld entgegenzuwirken versucht.

Der Griff ins Budget ist ein Armutszeugnis. Er steht für den Unwillen oder, schlimmer noch, für die Unfähigkeit, sich mit Themen eingehend und in der Tiefe zu befassen, auch unerfreuliche Entwicklungen anzugehen und sie solcherart zu gestalten, dass etwas Neues daraus hervorgeht. Der Griff ins Budget offenbart die Selbstaufgabe der Politik – wenn Politik als Gestaltungswille begriffen wird.

An die Stelle der öffentlichen Debatte, die auch schmerzhaft sein mag, die Kraft kostet und bisweilen an die Substanz geht, an die Stelle von Überzeugungskraft und redlicher Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionen, ist die irrige Meinung getreten, alles ließe sich durch immer mehr Geld behandeln. Auch Verwerfungen und Konflikte innerhalb einer Gesellschaft.

Ein Irrglaube.

Demokratie verlangt nach echter Auseinandersetzung. Sie verlangt nach Positionen und Positionierungen, nach Überzeugung und Programmatiken, nach validen Zukunftsentwürfen. Vor allem verlangt sie danach, die Menschen in ihren Lebensumständen ernst zu nehmen. Solcherart, dass sie aktiv an der Gestaltung ihrer Verhältnisse teilhaben, dass sie den Wandel prägen anstatt von ihm geprägt zu werden. Die Politik einer demokratischen Gesellschaft stellt nicht ruhig, sie lädt ein, unmittel- und mittelbar Beiträge zu leisten. Sie sucht nach Lösungen, die weit über eine Budgetperiode hinaus wirksam sind (und nutzt ihre finanziellen Mittel mit Bedacht). Vor allem aber begreift sie die Menschen als aktive Subjekte, als gleichwertiges politisches Gegenüber und Partner im Gestalten. Nicht als passive Objekte finanzieller Zuwendungen.

Die Politik – nicht nur in Österreich und Deutschland, vielmehr in weiten Teilen Europas – hat indes alles unternommen, ihren Menschen nichts aktiv zuzumuten. Stattdessen wurde, was immer als Problem erschien, mit immer größeren Geldscheinen nachgerade zugekleistert.

Nun aber lässt sich nicht alles auf Dauer kaschieren, nimmt vielmehr die Perspektivlosigkeit angesichts dieser Politik der Mutlosigkeit überhand. Bis sie in Wut umschlägt, in offenen Protest. Und partout jenen Krakeelern in die Hände spielt, die mit demokratischen Prozessen und Ordnungen so gar nichts, mit autoritärer Macht dafür umso mehr am Hut haben, und siegestrunken schon auf die kommenden Wahlen spitzen. Um dann einen der Ihren als Volkskanzler zu proklamieren.

Es ist nicht zu spät, gegenzusteuern. Nur verdammt hart. Aber allemal alle Anstrengung wert. (fksk, 14.01.2024)

Woche 01 – Wut und Politik

Auch so hat 2024 begonnen: Wütende Landwirte wollten jene Fähre stürmen, auf der der deutsche Wirtschaftsminister und Vizekanzler Habeck aus dem Urlaub in den Alltag zurückzukehren plante. Der Gründe für die bäuerliche Wut sind viele und wurzeln tief, die geplante Verteuerung des Diesel war der Anlass.

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Demonstrationen, einen Empfang mit Trillerpfeifen und deftigen Parolen, das hat es gegeben, das gibt es und wird es geben. Das ist, was eine Demokratie aushalten muss. Wenn aber die Demonstranten versuchen, sich Zutritt zur Fähre zu verschaffen, wenn die Sicherheit und Unversehrtheit eines Menschen, in diesem Fall Herrn Habecks, nicht mehr gewährleistet werden kann, dann ist eine Grenze überschritten. Dann handelt es sich nicht mehr um Demonstranten, dann ist es ein Mob, von Wut gesteuert und außer Rand und Band. In Deutschland im Grunde genommen ein Fall von Landfriedensbruch. Die Ermittlungen laufen.

Damit aber ist das Problem nicht aus der Welt, der Umstand, dass immer wieder und immer öfter Proteste in Gewalt umschlagen, dass Galgen, Morddrohungen, Vernichtungsphantasien bei Aufmärschen schon zum gewohnten Bild werden, dass es vor den Häusern und Wohnungen von Politikern und anderen, in der Öffentlichkeit stehenden Menschen, Zusammenrottungen gibt.

Die Zeiten sind nicht einfach. Das waren sie nie, so komplex, wie sie sich derzeit gestalten, waren sie indes bisher selten. Entsprechend groß sind Unsicherheit und Verunsicherung. Weit verbreitet ist zudem der Eindruck, schlicht kein Gehör zu finden, zur Seite gedrängt zu werden, zu den Verlierern des Wandels zu zählen. Und das in einer Demokratie, die doch eigentlich Mitsprache garantiert, mithin die Möglichkeit, gemeinsam mit anderen die Lebenswelt gestalten zu können.

Seit vor bald 14 Jahren Stéphane Hessels „Empört Euch“, ein schmales Pamphlet wider die herrschenden Zustände, die allen Idealen der französischen Résistance Hohn sprachen (und sprechen), erschienen ist, ist die Empörung als Haltung akzeptiertes Mittel der Politik. Während Hessel mit seiner Streitschrift noch das Ziel verfolgt, zu den als verloren wahrgenommenen Idealen zurückzukehren, ist die real gelebte Empörung alsbald ziellos geworden. In Erscheinung trat sie seither als Wutoma, als Wutbürger, als Wutwirt, als Wutwasweißichnochalles, die ihre Auftritte in Funk und Fernsehen hatten, die ihre ungefilterte Wut massenmedial zur besten Sendezeit zu Markte trugen.

Bisweilen sind Empörung und Wut ein notwendiges Ventil, sich Luft zu verschaffen. Im besten Fall werden sie zu Impulsen, tatsächlich gestaltend aktiv zu werden, sich politisch oder gesellschaftlich zu engagieren, seiner Stimme im demokratischen Rahmen Gehör zu verschaffen.

Die Empörung der letzten Jahre ist das Gegenteil. Sie ist blind vor Wut. Sie will zerschlagen, zertrümmern, sie will einen Rausch erleben, der andere zittern macht, der Macht verleiht. Wenigstens für den Moment.

Sie verliert sich zusehends in tiefinneren Überzeugungen, die in Verschwörungsmythen wurzeln oder in dem Gefühl, zu den Wenigen zu zählen, die die Wirklichkeit tatsächlich durchdringen und also sehend und wissend sind. Und – sie lässt sich instrumentalisieren. Von politischen Kräften, die darin eine Kraft erkennen, die sie ins Zentrum der Macht tragen kann.

Darauf baut der Erfolg der Freiheitlichen in Österreich auf, die sich an die Spitze der Coronawütenden gesetzt hat, jede noch so krude Theorie zu ihren Gunsten zu wenden weiß und offen, frank und frei verkündet, wer unter ihrer Regierung nichts mehr zu lachen hat. Darauf baut der Erfolg der AfD auf, jener von Frau Le Pen und der Schweizer Volkspartei. Daraus speist sich auch der Zuspruch zu Kommunisten auf regionaler Ebene in Österreich, zur extremen Linken in Frankreich und zur rinkslechts schillernden Frau Wagenknecht in Deutschland. Wut stärkt ausschließlich und nur die politisch radikalen Ränder. Das ist eine Konstante.

Wenn aber die Wut nur das Geschäft der Extreme befördert, ist die politische Mitte gefordert, Position zu beziehen. Darauf zu setzen, dass die Wut verrauchen würde, gibt man ihr nur die Möglichkeit, durch das Land zu ziehen und sich auf allen nur verfügbaren Plätzen zu manifestieren, greift zu kurz. Zu hoffen, sie irgendwie mit Zugeständnissen befrieden zu können, stachelt lediglich ihren Hunger nach mehr Zugeständnissen an und führt also in die Irre. Dann wird sie noch mehr zur treibenden Kraft, deren Sog immer weiter ausgreift.

Mit dieser Wut umzugehen ist kein Leichtes, genau deswegen sind Grenzen zu setzen. Grenzen, die neben der Gesetzeslage das in einer Demokratie produktive Ausmaß an Protesten definieren. Über die Konsens besteht und die verständlich und nachvollziehbar darlegen, wann sie überschritten sind, und ab welchem Zeitpunkt, ab welcher Eskalationsstufe man sich aus dem gesellschaftlichen Diskurs herausnimmt. Dazu zählt auch, dass das Verhalten der Seitenlinie kritisch betrachtet wird, die Wortwahl in Kommentaren großer Medien, die Kritik ad personam anstelle der Kritik in der Sache, der Hang zu Häme, zu Gering- und Lächerlich machen politischer Gegner gleich welcher Couleur, die permanente Zuspitzung der Pointe wegen. Das sind die Echoräume der Wut, die sie nicht allein spiegeln als vielmehr bestärken und verstärken, die sich mitreißen lassen, die im Sog des Geschehens ebendiesem zusätzlich Schwungkraft verleihen.

So wie einmal mehr die Politik gefordert ist. Sich zu erklären, direkt und ohne Social-Media-Filter, vor Ort und nicht allein im Hauptstadtstudio. Verantwortung zu übernehmen, zu leben und zu exekutieren. Und klar zu sein. In der Sache, in den Vorhaben, in den Perspektiven. Mit Schlingern ist der Wut nicht beizukommen. (fksk, 07.01.24)

Woche 51 – Kraft des Gesetzes

Nun also doch. Das Höchstgericht des US-Bundesstaates Colorado streicht Trump von der Wahlliste der Vorwahlen. Trump, so das Gericht, habe gegen die Aufstandsklausel des 14. Verfassungszusatzes verstoßen. Demzufolge sind Personen, die im Amt einen Umsturzversuch oder eine Rebellion gegen die verfassungsmäßige Ordnung der USA unterstützen, nicht amtsfähig. Weder jetzt noch in Zukunft.

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Selbstverständlich geht Trump in die Berufung, der Verfassungszusatz beziehe sich nicht auf den Präsidenten argumentieren seine Anwälte. Selbstverständlich wird sich in absehbarer Zeit der Supreme Court der Vereinigten Staaten mit dieser Frage auseinandersetzen müssen – auch wenn er damit noch zuwartet.

Unabhängig davon, wie der Ratschluss der Höchstrichter ausfallen mag, argumentieren unterdessen viele Kommentatoren, es sei nicht an den Gerichten als vielmehr an den Wählern, ein endgültiges Verdikt über Trump und den 6. Jänner 2021 zu fällen. Der Demokratie wegen und weil ihre Bürger die letzte Instanz seien, nicht die Gerichte.

Das ist schön gedacht. Übersieht indes eine Reihe wesentlicher Punkte.

Dass die Demokratie ganz legal unter Druck geraten kann, dass sie ganz demokratisch außer Kraft gesetzt werden kann, das hat es alles schon gegeben. Aus eigenem Erfahren hat beispielsweise Deutschland daher in seinem Grundgesetz die Ewigkeitsklausel niedergeschrieben. Sie besagt, dass der Kern der Grundrechte, die Menschenrechte, die demokratisch-republikanische Staatsform und die Gesamtstruktur der Bundesrepublik von Verfassungsänderungen nicht berührt werden darf. Und sollten diese Prinzipien von Änderungen betroffen sein, dass diese rechtswidrig sind.

Auch die US-Verfassung kennt solche defensive Bestimmungen, den zuvor erwähnten dritten Abschnitt des 14. Verfassungszusatzes zum Beispiel. Wobei defensiv in diesem Fall nicht passiv verstanden werden darf, als vielmehr präventiv und vorausblickend aktiv. Recht und Gesetz sind scharfe Instrumente, die es einer Demokratie ermöglichen, ihren Gegnern effektiv entgegenzutreten, als eine wehrhafte Demokratie.

In aller Regel müssen diese Grundsätze nicht eigens bemüht werden. Weswegen sie in den Hintergrund treten, aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwinden. Ihrer Gültigkeit tut dies indes keinen Abbruch. Wenn sie nun also im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen und sie von Gerichten als Grundlage einer Entscheidung herangezogen werden, dann ist das nicht etwa jene politische Justiz, die nun so oft beschworen wird, es ist nur konsequent. Es gibt in jeder demokratischen Gesellschaft Grenzen, die zu ihrem Schutz nicht überschritten werden dürfen.

Wer sie verletzt, muss sich der Folgen bewusst sein.

Ihre Interpretation freilich obliegt der letzten Instanz, dem Höchstgericht. Und hier wird es spannend.

Demokratische Gesellschaften bauen auf Prinzipien auf. Etwa auf jenem, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Ausnahmslos alle Menschen, mithin auch Staatsoberhäupter, Regierungschefs und Minister. Und genießen diese während ihrer Amtszeit ein gewisses Maß an Immunität vor Strafverfolgung, so entfällt diese in aller Regel mit dem Verlust des Amtes. Dann sind diese Personen auch für mögliche Vergehen während ihrer Amtszeit verantwortlich.

Herr Trump bestreitet das. Er reklamiert volle, lebenslange Immunität für sich. Unantastbarkeit. Er habe, als Präsident, die USA verkörpert. Mithin seien seine Interessen die Interessen der USA. Ludwig des 14ten „L'Ètat c'est moi“ lässt grüßen. Der Absolutismus.

Im Kern dreht sich damit bei allen Verfahren rund um die Wahlen 2020 und den 6. Jänner 2021 alles um diese eine Frage: Steht der Präsident über dem Gesetz? Es geht bei dieser rechtlichen Entscheidung um mehr als nur um Herrn Trump. Es geht um die Demokratie in den USA. Genießt der Präsident für alle seine Handlungen im Amt lebenslange Immunität, gibt es nichts, was ihn bremsen, ihn einhegen, ihn zur Verantwortung ziehen kann, dann ist das gesamte System der Checks and Balances Makulatur.

Folgt der US Supreme Court in der Interpretation der dritten Klausel des 14 Verfassungszusatzes dem Supreme Court von Colorado, dann ist Trump als Kandidat Geschichte. Nicht als politischer Faktor. Erkennen die Richter des Höchstgerichts hingegen, dass die Bestimmung auf den Präsidenten nicht anzuwenden sei, ohne sich zur behaupteten lebenslangen Immunität zu äußern, dann spielen sie den Ball vorderhand an die Wählerschaft weiter. Entscheidet der Supreme Court hingegen zugunsten der lebenslangen, uneingeschränkten Immunität des Präsidenten, ermöglicht er die Errichtung einer autoritären oder gar diktatorischen Gewalt auf legalem Wege.

Dann ist es wieder an den Wählern zu entscheiden, im Wissen um die Folgen. (fksk, 28.12.23)

Woche 50 – Kultur. Kampf. Krampf.

Gendern wird in Bayern nun verboten, Herrn Söder freuts. Frau Mikl-Leitner ist ihm in dieser Sache weit voraus und hat das Verbot im Lande unter der Enns schon längst unter Dach und Fach während in Hessen Sozial- und Christdemokraten großkoalitionär mit einem entsprechenden Schlussstrich liebäugeln. Wobei der sich jeweils nur auf amtliche Schreiben des jeweiligen Landes erstreckt. Auf Briefe vom Land.

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Wenn aber des bayerischen Ministerpräsidenten Augen dabei vor Vergnügen blitzen und ihm die Genugtuung darüber ins Gesicht geschrieben steht, dann geht es um mehr als nur um landesamtlichen Schriftverkehr, dann geht es um einen Sieg in einem Kampf, den der Bayer als wichtig erachtet, es geht um einen Sieg im Kulturkampf, den er sich stolz auf die Fahnen heftet.

Es braucht keine konservative oder gar reaktionäre Haltung, das Sternchensetzen, das Arbeiten mit Unterstrich oder Doppelpunkt, die kurze Pause, den Glottisschlag, das andauernde Deklinieren beider Geschlechter und die Anrufung vieler empfundener sexueller Identitäten in seiner strengen Auslegung und in seinem strikten Einfordern als grotesk und aufgezwungen zu empfinden. Tatsächlich geht ja damit die Zielvorgabe einher, über eine korrekte Sprache eine andere, eine bessere, gerechtere Gesellschaft zu formen. Ein hehres Ziel, verfolgt mit puritanischem Eifer.

Dazu wird mit der Sprache das wichtigste menschliche Ausdrucksmittel instrumentalisiert und normiert, was notwendigerweise Widerspruch hervorruft. Wer lässt sich denn gerne vorschreiben was und wie er dieses zu sagen hat? Zumal wenn die Welt sich wandelt, schneller als einem lieb ist und das, was gestern noch Bestand hatte, heute nichts mehr gilt. Weshalb, zum Teufel, sollte man darauf nicht reagieren können, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Also durchaus auch krumm und hart, böse und verletzend.

Das ist befreiend.

Das kann sich indes im Handumdrehen verselbstständigen und in brodelndes Wüten wandeln.

Das hat sich verselbstständigt. Grob ist der Ton, der nun floriert. In Foren und auf Manifestationen, brüllend vorgebracht, im Chor gegrölt, wider die da oben, gegen die Eliten, gegen alles, was Änderung bedeutet, allen voran gegen Sprech- und Sprachverbote, ob nur gefühlt oder real, aber auf jeden Fall und unbedingt dagegen, dass einem nun die Sprache genommen, man zum Sprachlosen werden soll. Gefühlt. Mithin also wahr.

Was die „woke“ Linke erdacht, diskutiert, entworfen und – um die Verhältnisse in ihrem Kern zu verändern – gezielt und dogmatisch in den öffentlichen Raum eingebracht hat, ist nun der Rechten fettes Kapital. Es öffnet ihr Zugang zur bürgerlichen Mitte. Denn es ist die politisch randständige Rechte, die sich lauthals gegen die politisch korrekte Sprache wendet, die sich sagen traut, was andere sich nicht mehr trauen, wenigstens nicht laut. Die Sprachrohr und Verstärker des unbestimmten Unbehagens wird, die selbstredend bei der Sprache nicht halt macht, sondern in einem Aufwaschen alles, was ihr im Weg steht, zur Agenda einer verschworenen Elite erklärt, zu einer Weltverschwörung, beginnend bei der Sprache.

Um die Sprache an sich geht es dabei den einen so wenig wie den anderen. Dass sie widerspenstig sein kann, zweideutig, mehrdeutig, unbestimmt, kraftvoll und pointiert, verletzend, beunruhigend, berauschend und sezierend, subversiv und erschütternd, dass sie Welten öffnet, dem Geist zu denken gibt und Grenzen verschiebt, indem sie sie überschreitet, das alles ist den Puristen der gereinigten Sprache so wenig wichtig wie es ihren selbsternannten Verteidigern ist. Viel eher ist es beiden Gruppen ein Dorn im Auge, unkontrollierbar, anarchisch und wild.

Weswegen sie noch verbissener und vehementer um ihren Einfluss auf die Sprachwelt ringen und um die Kompetenz, Dinge in ihrem Sinne zu benennen. Ein für alle Mal und um dieses Kapitel des Kulturkampfes für sich zu entscheiden.

Ein Gesetz, eine Verordnung ist schnell formuliert. Was als überfälliges Machtwort in einem Kulturkampf inszeniert wird, ist nichts weniger als das Eingeständnis  intellektueller Faulheit. Es ist ein Pyrrhussieg, den Söder-Mikl-Leitner und Co als Moment ihrer Stärke zelebrieren. Er öffnet den Extremen nur Tür und Tor, noch mehr Deutungshoheit für sich zu beanspruchen. (fksk, 17.12.23)

Woche 49 – Demaskierter Kontext

Da saßen sie, drei Präsidentinnen dreier US-amerikanischer Universitäten, Penn, Harvard und MIT, und sorgten für Empörung. Auf die Frage, ob der Aufruf zum Genozid an Juden in Widerspruch zum Regelwerk ihrer Institutionen stehe, antworteten sie nicht mit ja oder nein, sie verwiesen auf Kontext, der zu beachten sei.

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Als ob es einen Kontext gäbe, der den Aufruf zum Genozid an wem auch immer rechtfertigen könnte.

Es sei eine juristische Abwägung der drei Präsidentinnen gewesen, die sie nicht mit ja oder nein habe antworten lassen können, merken manche Juristen nun an und verweisen auf die in der US-Verfassung verankerte Freiheit der Rede und Meinung, die ungleich weiter und radikaler ausgelegt wird als in europäischen Landen. Mithin hätten die drei gar nicht anders können, als auf eine genaue Abwägung aller Umstände hinzuweisen, bevor sie und ihre Institutionen sich der Verletzung der Verfassung schuldig machten.

Tags darauf schieben alle drei Erklärungen nach, in denen sie jeden Aufruf zu Gewalt gegen Juden als inakzeptabel und mit den Werten ihrer Universitäten als unvereinbar bezeichnen. Ein Trauerspiel.

Eines, das in den Diskussionen und treibenden Ideen rund um Postkolonialismus und Dekonstruktivismus der letzten Jahrzehnte wurzelt.

Was als essenzieller Beitrag zur erweiterten Sicht und zum Begreifen der Welt bereits in den 50er Jahren formuliert wurde und mit Edward Saids „Orientialism“ 1978 endgültig Eingang in die Debatte und das Denken fand, der Postkolonialismus, ist mittlerweile zu einem starren Dogma geronnen. Freilich zu einem Dogma, das sich großer Sympathie erfreut, als es Eindeutigkeiten vorgaukelt, die nicht sind; das eine Bequemlichkeit des Denkens ermöglicht, frei von historischen Hintergründen und damit frei von Vieldeutigkeit.

Schuld trägt an allem der Westen.

Schuld tragen die Weißen.

Opfer ist der Globale Süden.

Opfer sind People of Colour.

Immer und überall. Ausnahmslos.

So löst sich Geschichte auf und wird ersetzt durch simplizistische Schwarz-Weiß-Wahrnehmung.

Dass es 1948 einen Teilungsplan für einen jüdischen und einen arabischen Staat gab, den die Araber ablehnten, stattdessen einen Auslöschungskrieg starteten – das spielt keine Rolle, das wird nicht gewusst.

Dass die arabischen Staaten nach 1948 ihre jüdischen Bürger unter dem Hinweis, es gäbe ja nun Israel, vertrieben und sich ihres Hab und Guts bemächtigten, dass uralte jüdische Gemeinden in Bagdad, Damaskus, in Kairo und Tunis gleichsam über Nacht aufhörten zu existieren – das wird ignoriert.

Dass die arabischen Staaten die palästinensischen Flüchtlinge nicht integrierten, ihnen niemals irgendeine Perspektive, als jene der Rückkehr in das angestammte Land in irgendeiner fernen Zukunft, zugestanden – das spielt keine Rolle.

Dass bessere Lebensumstände der Palästinenser wesentlich an der tiefsitzenden Korruption der palästinensischen Autonomiebehörde scheitern – das wird nicht einmal ignoriert.

Und dass die Terrorbande Hamas als regierende Gewalt in Gaza ausnahmslos gegen alle Pflichten zum Schutz der eigenen Bevölkerung verstößt, sie ignoriert und bewusst verletzt – das wird als Schuld Israel zugewiesen.

Das aber alles ist Kontext. Ist jener Kontext, ist jener Hintergrund, der zu wissen notwendig ist, um die Dimensionen des israelisch-arabischen Konflikts auch nur in Umrissen zu erahnen. So, wie es unerlässlich ist, die Rolle der Siedlerbewegung, ihre andauernden Übergriffe gegen die arabische Bevölkerung im Westjordanland einzuordnen, die Rechtsradikalen Israels, die Jichzak Rabin ermordeten, die heute in der Regierung vertreten sind und Israels Demokratie zu demontieren suchen. Auch das sind Facetten, die zu wissen not tut. Und an Facetten mangelt es hier nicht. An ihnen mangelt es nie, an keinem Ort der Welt, zu keiner Zeit und in keiner Situation.

In einer Welt, reich an Komplexität, suggerieren Dogmen Sicherheit. Es sind nicht allein die Unterstützer der Palästinenser und der Hamas, die nach ahistorischer Sicherheit gieren und sie sich auf die Fahnen heften. Die Sicherheit auf Basis eines dichotomischen Geschichtsverständnisses ist weit verbreitet. Auch und gerade in Angelegenheiten gerechter Anliegen.

Es steht außer Frage, dass Europa gut daran tut, sich mit seiner kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen und sich dabei auf andere Sichtweisen einzulassen. Auf jene des Kongo etwa, wo im späten 19. Jahrhundert ein Verbrechen stattfand, das in seiner Grausamkeit, Menschenverachtung und gnadenlosen Exekution der Shoa den Weg bereitet hat und insofern zu Recht mit der Shoa, dem Holodomor, den Killing Fields von Kambodscha und der chinesischen Kulturrevolution in einem Atemzug genannt werden kann. Genannt werden muss.

Aus Geschichtskenntnis erwächst Verantwortung.

Die Propagandisten des dogmatischen Postkolonialismus indes interessiert Geschichte nicht. Für sie existiert allein der Kontext europäischer Schuld, aus dem es für den Westen und alle, die mit ihm gleichgesetzt werden, kein Entrinnen gibt. Es sei denn um den Preis der Selbstaufgabe.

Das ist die Klaviatur, die von den Terroristen der Hamas über alle ihre Propagandakanäle hinweg virtuos bedient wird, in harmonischem Zusammenspiel mit Russlands Putin, mit dem klerikalfaschistischem Regime des Iran und ihren Sympathisanten aus Politik, Kultur und Wissenschaft des Westens. Gemeinsam bündeln sie ihre Kräfte gegen den Westen und alles, was ihn definiert. Seine universellen Werte, seine Idee einer demokratischen Gesellschaft, einer allgemein gültigen Rechtsordnung, seiner Fähigkeit, Widerspruch und Gegensätze als Notwendigkeit einer liberalen, offenen Gesellschaft zu begreifen und daraus neue Perspektiven zu gewinnen.

Das alles steht in absolutem Widerspruch zu den autoritären und totalitären Modellen, die sich als die Vertreter des geknechteten Globalen Südens ausgeben. Die in ihren haltungsbesoffenen, dogmatischen europäischen und amerikanischen Sympathisanten geschichtsaverse und daher umso so nützlichere Idioten und Verbündete finden. Insofern ist den drei Präsidentinnen für ihren Auftritt zu danken. Er war demaskierend. (fksk, 10.12.23)

Woche 48 – Weckruf für die Mitte

Nun also die Niederlande. Ein politischer Erdrutsch und Mijnheer Wilders steht vor dem Einzug ins Catshuis in Den Haag. Frohlocken Rechtsaußen. Und Appetit auf mehr, auf Thüringen, auf Sachsen, auf Österreich, Frankreich und bald ganz Deutschland. Katzenjammer und Verzagen derweilen unter Sozialdemokraten, Christdemokraten, Grünen und Liberalen, also in der Mitte, die schmächtiger und schmächtiger wird und mit den Wählern hadert, die den Rattenfängern der radikalen Ränder folgen.

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Vor allem aber Unverständnis. Wie, bei allem Änderungsdruck, bei allen Sorgen, die manifest und nicht nur gefühlt sind, ausgerechnet jenen Stimmen zufliegen, die alles, was doch erreicht wurde, in Frage stellen. Die zurück wollen in die Fünfzigerjahre oder die Dreißiger, die von Festungen reden und von einer heilen, homogenen Welt, ohne diese Ziele denn je erreichen zu könne. Davon könnte Frau Meloni in Rom durchaus ein Lied singen. Das könnten auch die Freiheitlichen in Österreich, die bislang bei jeder ihrer Regierungsbeteiligungen seit 2000 krachend gescheitert sind. Die dennoch an das Tor des Palais am Ballhausplatz klopfen, die feixend den kommenden Volkskanzler aus ihren Reihen proklamieren.

Und wirft man einen Blick in die Kommentarspalten, hört man Stimmen aus der Politik, dann scheint es, als hätte man sich damit denn auch schon abgefunden. So schlimm, ist da zu hören, würde es wohl nicht werden. Es bräuchten die Rechtsrechten doch einen Koalitionspartner, der sie zügeln würde und zähmen. Andernorts spricht man ihnen bereits nach dem Mund, da waldhäuselt die Landeshauptfrau von Niederösterreich ungeniert, während ihr Salzburger Pendant sich lieber in hochnotpeinliches Schweigen hüllt und der Amtskollege aus Oberösterreich seinen freiheitlichen Partner lobt, derweilen der Medien, Kunst und Kultur ausrichtet, dass sich bald schon der Wind drehen werde im Land. Und dass es dann ungemütlich werde.

Das ist deutlich.

Die Mitte der demokratischen Gesellschaft, mithin die große Mehrheit der Menschen dieser Republik und auch der Union, hofft unterdessen. Hofft, dass es sich bei den nächsten Wahlen doch noch einmal ausgehen werde, dass sich Mehrheiten welcher Art auch immer finden werden lassen, die eines nur zusammenführt, eben die Rechtsrechten zu verhindern.

Dieses Wechselspiel aus Hoffen und Bangen geht in Österreich so lange schon wie in keinem anderen europäischen Land. Seit 1986 treibt die extreme Rechte die demokratische Mitte vor sich her, legt Axt an die Institutionen der Republik, höhnt, schmäht und untergräbt die Fundamente der offenen Gesellschaft. Und die Mitte weiß nicht darauf zu reagieren.

Sie ist gefangen im ewigen Zustand des Verteidigens.

Bisweilen hat es den Anschein, sie habe es sich darin wohnlich eingerichtet.

Dabei ließe sich von den Rändern durchaus lernen. Letztlich wollen die Menschen etwas gewinnen. Zukunftsperspektiven zum Beispiel. Die Gewissheit, dass es jemand ernst mit ihnen meint und sich nicht in Floskeln verliert. Klarheit über das, was kommt, was damit verbunden ist, und wie sich das Ergebnis gestalten lässt. Im Grunde wollen die Menschen doch gestalten, mitgestalten, am Gestalten teilhaben können.

Etwas, was die demokratische Mitte, die so sehr damit beschäftigt ist, gegen den rechtsrechten Rand anzustehen, ihnen nicht bietet. Oder, wenn sie es bietet, es nicht offen ausspricht, keine Akzente setzt.

Darum aber geht es. Es geht um Programme, um Ideen und Positionen und es geht darum, sie akzentuiert, pointiert und dann und wann auch lautstark zu vertreten. Es geht darum, den öffentlichen Raum der gesellschaftlichen und politischen Debatte zu besetzen und den radikalen Recken streitig zu machen.

Nicht, indem man immer nur auf ihre Themen eingeht. Sondern indem man die essenziellen Themen selber setzt.

Deren gibt es genug. So, wie es genügend Wissen, Expertise, Modelle und Möglichkeiten gibt, selbst große und größte Herausforderungen anzugehen. Das stimmt für den Klimawandel, für künstliche Intelligenz und Digitalisierung, das gilt für Migration, Integration und Arbeitswelten ebenso wie für Sicherheit und Zusammenarbeit. In allen diesen Bereichen und in noch viel mehr lassen sich Wissen, Erfahrung, Technik, Technologie, Verhaltensökonomie und was der Instrumentarien unserer an Instrumenten reichen Gesellschaft und Zeit noch mehr sind, aktiv einsetzen. Als Gelegenheit, etwas zu tun. Subjekt zu sein, nicht nur Objekt.

Demokratie ist das Versprechen, mitgestalten zu können, ist die Garantie, Entwicklungen und Entscheidungen nicht passiv über sich ergehen lassen zu müssen, als vielmehr daran teilzuhaben. Dieses Wissen, die Sprache dazu und auch das Instrumentarium muss die demokratische Mitte den Menschen anbieten. Gepaart mit Leidenschaft, mit klaren Worten, verständlichen Botschaften. Nicht schönfärberisch, aber begründet zuversichtlich.

Es muss die Mitte ihre Ecken und Kanten finden, ihre unterschiedlichen Facetten, sie muss erkennbar und unterscheidbar werden, damit sie wahr- und ernstgenommen wird. Als Bündelung jener gesellschaftlichen und politischen Kräfte, die zukunftszugewandt sind, die mit- und untereinander um die Gestaltung debattieren, die nicht in der Vergangenheit oder deren Versatzstücken, nicht in Nostalgie und Rückwärtsgewandtheit Sicherheit wähnt.

Eindämmen lassen sich Wilders, Le Pen und Konsorten längst nicht mehr. Es geht darum, ihnen mit aller Kraft den Boden zu entziehen. Mit mutiger, konfliktfreudiger, akzentuierter Politik, mit Zukunftskonzepten und – klaren Worten. Aus der Mitte der Gesellschaft. (fksk, 3.12.23)

Woche 47 – Oh,oh, die Leitkultur

Sie haben es wieder getan. In München warf dieser Tage die CSU den Begriff der Leitkultur in die aktuelle bundesrepublikanische Auseinandersetzung um Migration, Integration und Antisemitismus. Es scheint, als wäre es gestern erst gewesen und ist doch schon 15 Jahre her, dass sich um eben diesen Begriff heftige Debatten entzündet hatten. Hohn, Spott und Faschismusverdacht inklusive.

© Lawrence Chismorie/unsplash.com

Wobei, so falsch ist die Idee einer Leitkultur nicht.

Was eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält, das ist ihre Geschichte. Womit nicht allein ihre Historie gemeint ist, als vielmehr auch ihr Narrativ. Also, auf welchen Erzählungen, welchem gemeinschaftlichen Erleben, auf welcher über die Jahrzehnte, Jahrhunderte gemeinsam geteilten Wahrnehmungen und auf welcher Übereinkunft sie beruht.

Zum Beispiel Österreich, dessen maria-theresianisch-josephinisch aufgeklärter Beamtenstaat, der, vor rund 250 Jahren etabliert, bis heute existiert und sich im Denken, Fühlen, im alltäglichen Leben der Menschen dieses Landes nachdrücklich manifestiert. Die penible Verwaltung allen Seins, die mit einem bisweilen barock verspieltem Element absurden Unernstes einhergeht, ist unbedingt eine prägende Konstante, deren Wirkung bis tief in die Alltagskultur der Gegenwart reicht.

Oder die Kultur an und für sich.

Schon zu Zeiten der Ersten Republik wurden die einstige Hof- und nunmehrige Staatsoper mitsamt ihrem Orchester, aus dem sich die Wiener Philharmoniker rekrutieren, als identitätsstiftendes Element erkannt und identitätspolitisch eingesetzt. Gleichsam als Präludium zur Strategie, unmittelbar nach Kriegsende 1945 Österreichs beschwingt barocke Kultur in Gegensatz zum stur-starren preußischen Militarismus zu setzen und damit vor allem in den USA Sympathien zu gewinnen. Erfolgreich übrigens.

So erfolgreich, dass Burg und Oper im österreichischen Alltag Positionen einnehmen, von denen Kulturinstitutionen anderer Länder nur träumen können. Im Zuge eines Gesprächs erinnerte sich einmal Gert Voss, wie aufregend es für die Bochumer Schauspieler rund um Claus Peymann gewesen war, 1986 in ein Land zu kommen, das nicht nur einen eigenen Kulturminister hatte, sondern in dem die Entwicklungen am, im und rund um das Burgtheater als schlagzeilenwürdig erachtet und auch von Menschen, die weder Burg noch Oper je besuchten, kommentiert wurden. Die Frage, wer den Jedermann und wer die Buhlschaft in Salzburg spielt, ist hierzulande nach wie vor ebenso gewichtig wie die Frage, wer die Fußballnationalmannschaft trainiert.

Deren Sieg im argentinischen Cordoba anno 78 ist im österreichischen Bewusstsein wiederum so prominent abgespeichert, dass selbst jüngere Erfolge gegen den Erzrivalen aus Deutschland davon überlagert werden. Und das „I wer narrisch“ des Edi Finger hat sich im akustischen Gedächtnis der Österreicher so sehr festgesetzt wie John F. Kennedys „Isch bin ain Bärliner“ in jenem Deutschlands.

Und doch sind das alles nur Komponenten und Momentaufnahmen eines großen Ganzen, einer mächtigen Tiefenströmung, die sich unablässig weiterentwickelt, hier etwas aufnimmt, inkorporiert, dort etwas dem Vergessen anheim fallen lässt, die dann und wann an der Oberfläche etwas glitzern, flirren und sich kräuseln lässt, die Strudel der Moden eben. Wesentlich ist, dass grundlegende Parameter über lange Zeit ihre Gültigkeit behalten, dass sie zur Ausgestaltung einer gemeinsamen Identität beitragen. Leitkultur verbindet.

Das ist ihr Wesen.

Sie ermöglicht das Lesen einer Gesellschaft und ihrer vielen verschiedenen Codes, mithin das Verstehen und damit wiederum aktive Teilhabe. Sie ist in Textur und Tonalität etwa der Sprache wahrnehmbar, sie ist im Umgang unter- und miteinander ebenso sichtbar wie sie in Gefühlswallungen und Verhaltensweisen manifest ist. Sie äußert sich auch darin, wie mit öffentlichem Raum, mit Landschaft, Natur, Stadt und Architektur verfahren wird. In ihr drücken sich Selbstbewusstsein, Eigenwahrnehmung und Standpunkte aus.

Sie bietet, dank ihrer Breite und Tiefe, Orientierung.

Das ist der Punkt.

Daran fehlt es zurzeit.

Was macht die Identität Europas aus? Was jene Österreichs? Darüber besteht aktuell kaum noch Konsens. Das mag mit dazu beitragen, dass die Gesellschaft als in sich gespalten wahrgenommen wird, dass Emotionen überborden und politisch extreme Ränder – die Orientierung versprechen – an Zulauf gewinnen und daraus postwendend den Anspruch erheben, die einzig wahre Identität des Landes zu repräsentieren.

Also spricht alles dafür, dass die Mitte der Gesellschaft die Diskussion nicht länger meidet, sondern sie aus sich heraus mit aller Kraft reklamiert und vorantreibt, keine Scheu zeigt, Tabus anzusprechen, Prinzipien abzuklopfen und zu formulieren, Limitationen zu benennen, kulturelle Entwicklungs- ebenso wie Bruchlinien zu beschreiben, um im Zuge all dieser Auseinandersetzung eine gemeinsame, verbindende Basis zu formulieren und – den radikalen Krakeelern an den Rändern nachhaltig Boden zu entziehen. Mehr noch aber, um allen anderen Orientierung zu bieten, das Lesen und Verstehen der Gesellschaft zu ermöglichen. Genauso wie die Teilhabe, die Leitkultur immer wieder zu debattieren und an ihrer Fortschreibung mitzuwirken. (fksk, 26.11.23)