Woche 46 – Es geht um viel. Es geht um alles

Es geht um die Existenz. Um jene Israels und der Ukraine als demokratische Staaten und Gesellschaften, frei von äußerer Bedrohung. Der 7. Oktober 23 und der 24. Februar 22 markieren zwei Einschnitte, die tiefer und schmerzvoller nicht sein könnten. Zuallererst für Israel und die Ukraine, für die es in letzter Konsequenz um Sein oder Nichtsein geht. Es geht aber auch, und das ist wesentlich, um die Existenz des Westens, insbesondere Europas, als wertebasierter Kultur.

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Russlands Krieg, der im Februar 22 nach dem Osten der Ukraine und der Krim nun auch Kyiv und das ganze Land zum Ziel hatte, war und ist auch ein Vernichtungsfeldzug gegen die europäische Friedensordnung, die europäische Einigung, das internationale Völkerrecht und gegen die Prinzipien des Universalismus. Der Pogrom der Hamas war und ist auch eine Attacke auf liberale, offene, der Menschenwürde verpflichtete Gesellschaften, wie sie der Westen zu leben anstrebt.

An Angriffen auf westliche Prinzipien, gegen die Idee des Westens hat es im Laufe der Geschichte nicht gefehlt. Trotzdem unterscheidet sich aktuelle Lage grundlegend von allen Herausforderungen seit 1945. Es geht darum, ob die westlichen Gesellschaften in aller Konsequenz bereit sind, für ihre Grundwerte einzustehen, dafür Konflikten nicht aus dem Weg zu gehen und gegenüber autoritären Regimen und totalitären Ideologien klare Grenzen zu benennen. Oder, ob sie versuchen, sich des lieben Friedens und der guten Geschäfte wegen und auch weil man sich gegenüber der Welt schuldig gemacht hat, mit Kompromissen Zeit zu erkaufen. Um letztlich doch klein beizugeben.

Es geht bei dieser notwendigen Standortbestimmung um mehr als um Waffenlieferungen, wohlfeile Solidaritätsadressen und freundliche Worte in Essays, auf Symposien und Demonstrationen. Es geht um des Westens Wesenskern.

Es müssen die Grundlagen wieder definiert werden, die notwendig für den gesellschaftlichen Aufbau und Zusammenhalt sind. Es muss Konsens darüber bestehen, was die westlichen Gesellschaften ausmacht, was sie von anderen, von totalitären, autoritären, faschistischen, kommunistischen Regimen und sogenannten illiberalen Demokratien glasklar unterscheidet.

Dieser Prozess ist schon im Gange. Er hat im Grunde noch vor Russlands grünen Männchen auf der Krim im Jahr 2014 begonnen, wenngleich zaghaft nur und gleichsam subkutan.

Der Februar 22 indes markiert eine tektonische Verschiebung, die nicht mehr ignoriert werden kann. Selbst wenn die Debatte zäh vonstatten geht, wenn sie lahmt und bisweilen lähmt, wenn sie teilweise in eine Generalanklage gegen den Westen mündet, der seine Vorherrschaft mit allen Mitteln zu sichern trachte, worunter der Globale Süden leide (zu dem dann auch China und Russland gezählt werden), diese Debatte ist mitsamt ihren Nebensträngen und regionalen Ausprägungen nicht mehr aus der Welt zu schaffen.

Was lange schwelt wird jetzt akut. Der Oktober 23 markiert eine weitere tektonische Erschütterung, als es nun dringend um die Frage geht, wie die Menschen in einer westlich geprägten, demokratisch verfassten Gesellschaft zusammenleben wollen, was diese Gesellschaften ausmacht – von den Rechten der Frauen bis hin zu jenen ethnischer, religiöser und sexueller Minderheiten. Und wie mit jenen zu verfahren ist, die die Prinzipien der offenen Gesellschaft zugunsten einer anderen, ihrer Ordnung bekämpfen, mit jenen, die ein Kalifat in Deutschland fordern und mit jenen, die sich am Kampf gegen vermeintlich verschworene Eliten und das System berauschen.

Es müssen der Westen und Europa, zu einer klaren, unmissverständlichen Sprache finden. Selbst wenn das bedeutet, dass es schmerzt. Und das wird es.

Denn nun muss benannt werden, was zu lange vage nur und nach Möglichkeit freundlich, keinesfalls verletzend umschrieben wurde. Wer etwa in Europa Asyl sucht oder auch nur eine neue Heimat, die Perspektiven bietet, muss die Prinzipien und die Herausforderungen einer offenen und pluralen Gesellschaft akzeptieren, kann sich und seine Ansichten und Glaubenssachen nicht über das Gesetz stellen. So wenig wie sich jeder andere über die Rechtsordnung stellen kann. Vor dem Gesetz sind alle Bürger gleich. Dieser Grundsatz gilt uneingeschränkt und ausnahmslos.

Lange, viel zu lange war der Westen der Überzeugung, dass sich alle Welt letztlich nach seinem Vorbild formen werde. Dass auf Handel notwendigerweise Wandel folgen werde. Dass Konfrontation durch Kooperation ersetzt und diese bunte, freundliche Weltzivilisation sich einfach ohne weiteres Zutun ergeben werde. Dass es keiner intellektuell anstrengenden Argumentationen mehr bedürfe als vielmehr gelungenem Marketings.

Welch ein Irrtum. Längst schon werden Grundwerte des Westens gegen ihn ins Feld geführt, wird der Universalismus als (post)koloniales Projekt verleumdet, wird eine regelbasierte globale Ordnung als perfides Instrument westlicher Vorherrschaft gebrandmarkt, wird die parlamentarische Demokratie als abgehobenes Elitenprojekt dargestellt. Und alles das wird nicht etwa nur von außen in den Westen hineingetragen, es kommt auch aus seinem Innersten. Von links bis rechts wird die westliche Zivilisation nicht nur radikal in Frage gestellt, sie wird zusehend von einer absurd scheinenden Koalition, die von Corbyn und Melenchon über Orban und Kickl bis hin zu Trump reicht, bis aufs Äußerste bekämpft.

Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine und dem – anhaltenden – Terror der Hamas gegen Israel erfährt diese Entwicklung nun eine Beschleunigung. Innerhalb der westlichen Gesellschaften brechen bislang undenkbare, in ihrer Vehemenz unerwartet heftige Konflikte auf. Einerlei, ob es die Liebe und Treue der extremen Rechten (und vieler Linker) zur Herrschaft Putins oder die Liebe und Treue der extremen Linken (und vieler Rechter) zur islamistischen Hamas ist, beides wendet sich explizit und unumwunden gegen den Westen, gegen Europa.

Dem gilt es sich zu stellen und die Chance mit Lust und Verve und Lebensfreude zu nutzen, Werte, Prinzipien und Ziele der westlichen Zivilisation zu beleben, zu leben, sie wo immer notwendig weiterzuentwickeln und zu stärken und auch damit Israel und der Ukraine tatkräftig zur Seite zu stehen. Konsequent und robust. Es geht um viel. Es geht um alles. (fksk, 19.11.23)

Woche 43 – Politik ohne Grundlage

Es soll, so Estlands Premierministerin Kaja Kallas in einem Interview, der österreichische Kanzler Karl Nehammer ihr gegenüber festgehalten haben, dass Russland seine Verpflichtungen gegenüber Österreich stets eingehalten hätte. Nun gibt es Verpflichtungen und Verpflichtungen, solche, die bilateral abgeschlossen werden und solche, auf denen etwa eine internationale Ordnung beruht, die mithin eine Vielzahl an Partnern umfasst, die dadurch den Einzelstaat in ein größeres Ganzes einbettet.

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Die europäische Nachkriegsordnung sowie die Ordnung nach 1989, von der Schlussakte von Helsinki 1977 bis hin zum Budapester Memorandum 1994 sind allumfassende Vertragswerke. Das Memorandum, in dem die Ukraine ihr Atomwaffenarsenal gegen die Zusicherung sicherer Grenzen abgibt, ist eines, das in seiner Bedeutung weit über die Signatarstaaten hinausgreift und damit auch ein Land wie Österreich wenigstens mittelbar betrifft. Umso mehr, wenn das Abkommen, das Papier nicht wert ist, auf dem es geschrieben steht.

Spätestens mit dem 24. Februar 2022 hat Russland unverholen gezeigt, was es von der europäischen Ordnung, von ihren Prinzipien und Übereinkünften hält: nichts. Insofern hat Russland sehr wohl und massiv gegen grundlegende Verträge, an denen Österreich als Vertragspartner höchstes Interesse hat, gebrochen. Dieser Umstand sollte dem Kanzler sehr wohl bewusst sein. Er sollte ihn in Worte und in Politik fassen können.

Stattdessen gewinnt man den Eindruck, die Regierung in Wien hoffe nach wie vor, dass der russische Krieg gegen die Ukraine sich irgendwie auflösen ließe, wenn schon nicht in Wohlgefallen dann wenigstens in einem wie auch immer gearteten Zustand des Nichtkrieges, der es Österreich und anderen ermöglicht, zur Vorkriegspolitik zurückzukehren.

Allein, ein Zurück ist nicht möglich. Der 24. Februar 2022, die Massaker von Butscha und Irpin, die Folter, die Vergewaltigungen, die Entführungen, der nackte Terror, den die russische Kriegsführung gegen die ukrainische Zivilbevölkerung von der Leine gelassen hat, die Großmachtbestrebungen des Moskauer Regimes, seine glasklare Absage an die Kultur und die Werte des Westens, seine offen demonstrierte Kumpanei mit diktatorischen Regimen wie Nordkorea, sein freundlicher Empfang der Gesandten der Terrororganisation Hamas, seine gemeinsamen Interessen mit dem fundamentalistischen Mullah Regime in Iran, das alles ist ein Bruch aller Vereinbarungen und Verpflichtungen, die Russland je mit den Ländern des Westens, insbesondere Europas, eingegangen ist. Also auch mit Österreich. Dieser Bruch ändert alles.

Dass diese Einsicht in Österreich nicht wohlgelitten ist, ist kein Geheimnis. Eine wahrhaft große Koalition von ehemaligen bis hin zu aktiven Politikern, von Sozialdemokraten, Volkspartei und Freiheitlichen in Bund und Ländern will alles, nur den Bruch nicht wahrnehmen. Und wenn, dann bitte als einen Bruch zwischen zwei Systemen, den man – wie weiland Kreisky – überbrücken müsse (die Wahrnehmung Kreiskys als genialer Weltpolitiker ist ein weiteres Mysterium Österreichs).

Die österreichische Lösung liegt mithin nicht in einer auf Gegenwart und Zukunft ausgerichteten Politik, sie liegt in der Besinnung auf eine Vergangenheit, deren Rahmenbedingungen Putin indes gezielt, gewaltsam und aus freien Stücken zerstört hat. Es wird in Wiens politischen Kreisen also konsequent Politik gedacht, die jeder realen Grundlage entbehrt. So erklärt sich denn auch Nehammers Kommentar gegenüber Kallas. Zuversichtlich stimmt das nicht. (fksk, 29.10.23)

Woche 25 – Ein Rubikonmoment

Er ist kein Julius Cäsar, der Herr Prigoschin. Der Feldherr setzte im Jahr 49 v. Chr. alles auf eine Karte, er wusste um die Unumkehrbarkeit seines Handelns, sowie er mit seinen Soldaten den Rubikon in Richtung Rom überschritten hatte. Von da an gab es nur noch Sieg oder Niederlage. Nichts dazwischen. Cäsar triumphierte.

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Prigoschin lässt seinen Trupp – es waren gerade einmal 5.000 seiner Söldner – rund 250 Kilometer vor Moskau umkehren. Er überschreitet die finale Grenze, die, nach der es eben nur noch Sieg oder Niederlage gibt, nicht. Stattdessen begibt er sich ins Exil nach Belarus, lässt seine Männer sowie wohl auch den Krieg gegen die Ukraine fürs Erste hinter sich und lässt die Welt rätseln, was das war an diesem letzten Juniwochenende des Jahres 2023.

Es war wohl eine Ouvertüre, ein Vorspiel, eine Ahnung dessen, was in Russland noch alles möglich ist, wenn der Krieg gegen die Ukraine weiterhin erfolglos bleibt, die Unzufriedenheit wächst und Glücksritter ihre Zeit gekommen sehen.

Von einem Zerfall Russlands ist seit mehr als einem Jahr immer wieder die Rede. Davon, dass, wenn das Zentrum zu schwach wird, einzelne Regionen nach der Selbstständigkeit und Unabhängigkeit streben könnten. Oder dass untereinander verfeindete Fraktionen den Kampf gegeneinander aufnehmen und Russland in einen Bürgerkrieg versinkt (das ist denn hörbar auch Putins Angst).

Diesmal hat das Zentrum der Macht die Oberhand behalten. Wenn es denn, worüber man nur spekulieren kann, Prigoschins Erwartung war, dass sich sich Einheiten der regulären Armee und der Sicherheitskräfte seinem Marsch auf Moskau anschließen würden, dann wurde er bitter enttäuscht. Der Trupp kam beeindruckend schnell voran, um Moskau zu nehmen aber war er zu klein. Genau betrachtet geriet er mit jedem Kilometer, den er in Richtung der Hauptstadt zurücklegte, mehr und mehr zu einem Selbstmordkommando.

An der Konsequenz konnten weder Putin noch Prigoschin irgendwelches Interesse haben. Nicht an einem Gemetzel mitten im heiligen Russland der eine, nicht am Abschlachten der eigenen Männer der andere. Also wählten sie via Lukaschenko einen Ausweg. Fürs erste.

Es ist zu erwarten, dass Putin innerhalb Russlands Armee und Sicherheitskräfte nach Sympathisanten Prigoschins durchkämmen lassen und eine Säuberungswelle initiieren wird. Die Zentralmacht wird danach streben, die Söldnertrupps an die Kandare zu nehmen und totale Kontrolle auszuüben. Das trifft sich mit Putins großer Erzählung, wonach sich Russland in einem ewigen Krieg gegen die Außenwelt befindet. So weit, so erwartbar.

Welche Rolle Prigoschin in Zukunft spielen wird, ob er überhaupt eine spielen wird, bleibt abzuwarten. Fürs erste hat er seine Haut gerettet. Ungeachtet dessen aber bleiben die Ineffizienzen in der russischen Planung und Umsetzung des Kriegs gegen die Ukraine bestehen. Sei es, dass es an Ausbildung mangelt, an Ausrüstung, an Unterstützung oder an guter Behandlung. Im Verein mit ausbleibenden Erfolgen gegen die Ukraine sorgt das auch innerhalb der regulären Armee für ein wachsendes Maß an Unzufriedenheit.

Insofern hat Prigoschin den Rubikon doch auch überschritten, er hat demonstriert, dass es möglich ist, zu rebellieren, den Konflikt mit Putin zu suchen. Und das mit wenigstens teilweise offener Unterstützung der zivilen Bevölkerung in Rostow am Don. Putins Albtraum, Bürgerkrieg und Untergang, ist an diesem Juniwochenende realistischer geworden.

Darauf muss sich auch Europa einstellen. (fksk, 26.06.23)

Woche 12 – Der Lüge langer Schatten

Am Anfang steht eine Lüge. Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen und arbeite an nuklearen, chemischen sowie biologischen Waffen, das behauptet die US-Regierung George W. Bushs 2003. Inspektionen der Atomenergiebehörde IAEA führen indes zu keinen Ergebnissen. Das Weiße Haus beharrt auf seiner Darstellung. Am 5. Februar 2003 präsentiert US-Außenminister Colin Powell dem UN-Weltsicherheitsrat Beweise der US-Geheimdienste. Belege, von denen alle Welt weiß, dass sie fabriziert sind. Es sind Deutschlands Außenminister Joschka Fischer und sein französischer Amtskollege Dominique de Villepin, die die amerikanische Beweisführung in Frage stellen und ihrer Konsequenz, dem Krieg gegen Irak, vehement widersprechen. Vergebens. Einen Monat später startet der US-Angriff auf Irak. Die Folgen sind bekannt. Und desaströs.

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Dass eine Großmacht sich über alle Regeln und das Völkerrecht hinwegsetzt und dafür keine Konsequenzen zu gewärtigen hat, das kann man als Realpolitik sehen und als den großen Schwachpunkt sowohl der Vereinten Nationen wie der internationalen Ordnung. Man kann aber auch zusätzliche Lehren daraus ziehen.

Etwa, dass der offene Bruch völkerrechtlicher Normen und Verträge folgenlos bleibt, so man nur selber groß und stark genug ist. Und eine entsprechende Geschichte auf Lager hat. Russlands Präsident Putin ist 2003 noch nicht lange im Amt, aber die Machtdemonstration der USA wird er aufmerksam verfolgt und daraus weitreichende Schlüsse gezogen haben. Nicht nur er.

Die Lüge des Jahres 2003 und der aus ihr hervorgehende Krieg dienen seither als Paradebeispiel westlicher Arroganz. Zusammen laden sie zur weiteren Aushöhlung und Demontage des internationalen Systems ein. Und, sie werden angeführt, um laufende Verstöße zu rechtfertigen. Schließlich muss, was Washington erlaubt war, auch Moskau, Peking und anderen erlaubt sein. Georgien 2008, Hongkong 2019/2020 und die Ukraine seit 2014 sind die unmittelbar Leidtragenden dieser Argumentation.

Das ist eine der vielen Eigenschaften der Lüge, selbst wenn sie erkannt worden ist: Sie relativiert. Oder, genauer, sie lädt dazu ein, zu relativieren, zu verzerren, sie als Kern einer neuen Wahrheit zu betrachten und einzusetzen. Sie ermächtigt.

Die Lüge des Jahres 2003 trägt seither dazu bei, immer neues Unrecht zu erklären und unter Hinweis auf sie zu rechtfertigen. Sie hat in gewisser Weise neue Maßstäbe gesetzt (als ob es ausgerechnet diese Maßstäbe gebraucht hätte). Denn sie war ja tatsächlich als Lüge a priori erkennbar, als eine zu einem einzigen Zweck konstruierte Sichtweise, die in eklatanten Widerspruch zu allen verfügbaren und überprüfbaren, mithin validen Fakten stand. In Vorwegnahme Donald Trumps arbeitete die Regierung Bush ungeniert mit „alternativen Fakten“.

Es ist an dieser Stelle ein „was wäre, wenn?“ angebracht. Was wäre, hätten die US-Wähler diese Lüge ihres Präsidenten bei den folgenden Wahlen sanktioniert – und Bush abgewählt? Was wäre, wäre George W. Bush seiner Lügen wegen gemeinsam mit Rumsfeld und Cheney und des damit verbundenen Kriegs, angeklagt worden? Vor einem US-Gericht.

Vielleicht hätte der Siegeszug der „alternativen Wahrheiten“, den gerade die westliche Gesellschaft in den letzten Jahren erlebt hat und nach wie vor erlebt, gebremst werden können. Vielleicht hätten QAnon, „Querdenker“, „besorgte Bürger“, Verschwörungsmystiker und Konsorten niemals jene gesellschaftspolitische Wucht entwickelt, die sie nach wie vor demonstrieren. Und wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich, würde der Westen in seiner Gesamtheit von anderen Ländern nicht so sehr als verlogen und scheinheilig wahrgenommen. Dazu ist es mittlerweile zu spät. Selbst wenn heute noch ein Gerichtsverfahren eröffnet würde, die Auswirkungen dieser Lüge und die ihrer sich rasant mehrenden  Nachkommenschaft ließen sich damit nicht mehr eindämmen oder gar einfangen.

Die Lüge von 2003 war nicht die erste ihrer Art. Aber sie markiert einen wesentlichen Punkt. Jenen, an dem wider besseren Wissens und allen Fakten das Gegenteil behauptet wird – mit aller Macht. Diesen Punkt gilt es zu revidieren. Indem Fakten wieder anerkannt, Wahrheit und Lüge unterschieden und benannt werden. Es wird ein langer Weg. (26.03.23, fksk)

 

Post Scriptum: Colin Powell gestand später ein, von der eigenen Regierung getäuscht worden zu sein. Seinen Auftritt vor dem UN-Sicherheitsrat bedauerte er ebenso, wie er den Angriff auf Irak 2003 als Fehler brandmarkte. Und als George W. Bush zu dem Krieg meinte, er schlafe wie ein Baby, entgegnete Powell, er schlafe ebenfalls wie ein Baby. Alle zwei Stunden wache er schreiend auf.

 

Woche 11 – Verdrängte Revolution, vergessenes Parlament

Viel Zeit sollte den 383 Abgeordneten nicht vergönnt sein, als sie am 22. Juli 1848 zum ersten Mal zusammentreffen. Nur acht Monate später wird der Reichstag, das erste, aus Wahlen hervorgegangene Parlament Österreichs, schon wieder aufgelöst. Man könnte meinen, es handle sich damit also nur um eine Episode der Revolution vor 175 Jahren, um eine Randnotiz, nicht weiter der Erwähnung wert. Und doch ist gerade dieser Reichstag ein Ereignis von geradezu europäischer Dimension.

Erste, vorberatende Sitzung im Reichstag zu Wien (bei Bach: Geschichte der Wiener Revolution von 1848) © Gemeinfrei/British Library

Ist im Zusammenhang mit der Revolution von 1848 von einem Parlament die Rede, dann fast ausschließlich von der deutschen Paulskirchenversammlung in Frankfurt am Main. Langlebig war auch sie nicht, in der Erinnerung, zumal in der deutschen, lebt sie fort. Als der mögliche Ausgangspunkt einer potenziell anderen deutschen Geschichte, einer besseren Geschichte. Vor allem aber wird der Paulskirche als der ersten gewählten Volksvertretung Deutschlands gedacht und damit einer demokratischen Tradition, die aus Eigenem heraus entstand.

Der 383 Abgeordneten, die in der zum Plenarsaal umgewandelten Winterreitschule der Wiener Hofburg zusammentreten, wird 175 Jahre später nicht gedacht. Dabei ist dieser Österreichische Reichstag ein mindestens so spannendes Ereignis wie die Paulskirche, es ist zudem eines von europäischer Dimension. Denn die Parlamentarier kommen aus allen Kronländern der Monarchie (mit Ausnahme Ungarns, Venetiens und der Lombardei), sie vertreten Menschen aus acht verschiedenen Sprachgebieten, unter ihnen sind jüdische ebenso wie orthodoxe Geistliche, sie stammen aus Gebieten, die heute in Italien, Österreich, Slowenien, Kroatien, der Tschechischen Republik, Polen und der Ukraine liegen. Es ist, im Gegensatz zur nationalen Paulskirche, ein multinationales europäisches Protoparlament.

Diesen Wert beschreibt der tschechische Abgeordnete Frantisek Palacky mit der – bis heute gerne, wenn auch verkürzt wiedergegebenen – Aussage: „Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen.“ In dem Umstand, dass in diesem Staat keine Volksgruppe von ihrer Größe her die anderen dominieren kann, sieht Palacky* den großen und schützenswerten Vorteil gegenüber dem national orientierten Deutschland. Er und seine Mitstreiter wollen das übernationale Österreich zum Schutz seiner Völker bewahren und zu einem demokratisch geprägten Gebilde wandeln.

Sichtbarster Ausdruck dafür ist die als „Kremsierer Entwurf“ bekannte Verfassung für das Kaisertum Österreich, die neben dem Monarchen das Volk als Träger der Staatsgewalt beschreibt, die Rechte und Aufgaben des Kaisers definiert, die den Föderalismus durch eine zweite Parlamentskammer institutionell verankert und damit die Gleichberechtigung der verschiedenen Völker sichert. Elemente, die dem neoabsolutistischen Charakter des jungen Kaiser Franz Joseph (der mit tatkräftiger Unterstützung russischer Truppen den Freiheitskampf der Ungarn niederschlagen konnte) zuwiderlaufen. Weswegen er im März 1849 den Reichstag auflöst, und eine eigene Verfassung oktroyiert.

Ein Gesetz, welches der Reichstag als eines der ersten verabschiedet hat (und welches noch von Kaiser Ferdinand unterzeichnet wurde), hebt indes auch Franz Joseph nicht auf. Es ist das Gesetz zur Bauernbefreiung, das auf Initiative und Drängen des schlesischen Abgeordneten Hans Kudlich im September 1848 eine Mehrheit fand. Dass es vom Parlament beschlossen wurde, ist in der öffentlichen Erinnerung heute freilich nicht mehr präsent. So wenig wie Kudlich, der nach der Auflösung des Reichstags fliehen muss, in der Schweiz Medizin studiert und letztlich als einer der „48er“ in die USA emigriert, wo er sich später für Abraham Lincoln engagiert und 1917 hochbetragt in Hoboken, New York stirbt. Wenigstens Franz Joseph hat er überlebt.

Das heutige Österreich hat alles das, wenn schon nicht vergessen, so doch so erfolgreich an den Rand gedrängt, dass 1848 schlicht keine Rolle spielt. Der kurze Moment, in dem eine demokratische, liberale Revolution den Lauf der Geschichte hätte ändern können; der Reichstag, der, wenn auch aus heutiger Sicht wegen des eingeschränkten Wahlrechts keine vollwertige, aber eben doch eine gewählte Volksversammlung war; die liberalen Ideen, die in den späteren Jahrzehnten noch gewirkt haben, weit über das heutige Österreich hinaus, dazu schweigt die Republik. Es ist die FPÖ, die einen ehemaligen schlagenden Burschenschafter zu 175 Jahren bürgerlicher Revolution reden lässt und damit einmal mehr sich in die Tradition des Jahres 1848 zu stellen vorgibt. Womit es den liberalen Neos als einziger Parlamentspartei vorbehalten bleibt, der Revolution, ihren Ideen, ihrer Wirkmacht in einem ganzen Reigen an Veranstaltungen bis in den Oktober 2023 nachzugehen. Um sie endlich in die Gegenwart der Republik zu holen.

Ansonsten herrscht Schweigen. Keine Festsitzung im Parlament. Keine Einladung an die Parlamente jener europäischen Länder, aus denen einst Abgeordnete nach Wien und Kremsier/Kromeriz entsandt wurden, zu einem gemeinsamen Festakt, keine europäische Initiative, dieses ersten, im besten Sinne europäischen Parlaments zu gedenken.

Ein wenig versteckt befindet sich in der Reitschulgasse, dort wo Tag für Tag die Lipizzaner von der Stallburg in die Winterreitschule queren, eine Gedenktafel zum 150. Jahrestag der konstituierenden Sitzung. Gewidmet vom Präsidium des Österreichischen Nationalrats. Das muss genügen. (fksk, 19.03.23)

* Palacky wird diese Aussage später zurücknehmen. Der Ausgleich mit Ungarn 1867, bei dem die Interessen der slawischen Völker von Habsburg übergangen werden, lässt ihn zum Panslawisten werden.

Woche 10 – Europäische Standortbestimmung

Es ist ein Bild, das man nicht so leicht vergisst. Unter all den tausenden Demonstranten, die in Tiflis gegen das „Fremde Agenten“-Gesetz auf die Straße gehen, ist diese eine Frau, die das Sternenbanner der EU schwenkt. Bis der Strahl des Wasserwerfers sie trifft und zurückdrängt. Aber sie bleibt nicht alleine, ein Mann stärkt ihr den Rücken, gemeinsam stemmen sie sich gegen den nächsten Strahl, werden abermals zurückgedrängt, bis immer mehr Menschen sich um die Frau mit dem Sternenbanner scharen und gemeinsam vordrängen.

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Die Regierung in Georgien hat den Gesetzesentwurf, der sich am russischen Vorbild orientierte, zurückgezogen. Das Regime in Moskau klagt, der Westen inszeniere in der Ukraine die nächste Farbenrevolution. Begleitet wird der Vorwurf von der kaum verhohlenen Drohung einer Intervention.

Währenddessen hört der Widerstand gegen das Mullah Regime in Iran nicht und nicht auf. Es gibt Demonstrationen, es gibt tausende Akte des Ungehorsams, es schaffen die Kleriker und ihre Schergen es nicht, das Land in Friedhofsruhe zu stürzen. Und in der Ukraine wird immer noch um Bakhmut gekämpft. Was als Demonstration russischer Macht gedacht war und binnen Tagen hätte erledigt sein sollen, ist dank des ukrainischen Widerstands zu einem Krieg geworden, der sogar das Auseinanderbrechen Russlands in den Bereich des Möglichen rückt.

Das alles sorgt für Nervosität. In Russland wie auch andernorts. Es treffen, auf Initiative Chinas, einander saudi-arabische und iranische Unterhändler, sie reden miteinander, sie entdecken gemeinsame Interessen. Im Angesicht einer möglichen demokratischen Revolution in Iran finden sunnitische und schiitische Hardliner schnell zu einer gemeinsamen Basis. Kein Wunder. China wiederum versichert Russland seiner Solidarität und wirft den USA vor, eine aggressive Politik zu verfolgen.

Es ist bemerkenswert. Vor drei Jahren erst wurden die Stärken der autoritären und diktatorischen Regime im Vergleich zu den demokratischen Gesellschaften hervorgehoben, besprochen, von manchen offensiv bewundert und als Auftakt des unweigerlichen Niedergangs des Westens interpretiert. Und jetzt das. Da nehmen ein Land und seine Menschen einen Krieg auf sich, um ihre mühsam erworbenen demokratischen Errungenschaften gegen einen Aggressor zu verteidigen. Da gehen in Iran Hunderttausende wieder und wieder und wieder auf die Straße, um für Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung und Menschenwürde einzustehen, auch mit ihren Leben und ihrer Gesundheit. Da strömen Tausende in Georgien auf die Plätze und Straßen der Hauptstadt, um einen Angriff auf ihr demokratisches System abzuwehren. Und in Belarus ringen immer noch Menschen allen Verfolgungen und Strafen zum Trotz darum, ein demokratisches Gemeinwesen zu erlangen.

Der Siegeszug des autoritären Staates, er kommt doch nicht so recht in Schwung. Im Gegenteil. Eine freie Ukraine stärkt die Opposition in Belarus und strahlt als Gegenentwurf zum Moskauer Modell bis tief nach Russland. Ein gefestigt demokratisches Georgien macht Russland als Ordnungsmacht im Kaukasus obsolet. Und ein demokratischer Iran stellt die Verhältnisse im Nahen Osten auf den Kopf, als die Religion als Machtfaktor entfiele. Im Grunde also müssten allen voran die europäischen Staaten und die Union alles tun, diese Bewegungen zu unterstützen. Und sei es nur, dass ihnen mehr Öffentlichkeit in Europa und damit in der Welt zuteil wird.

Hier nun hakt es. Europa unterstützt die Ukraine mit Waffensystemen, Munition und Ausbildung, mit humanitärer Hilfe und mit Geld. Vor allem aber steht Europa geeint gegen die russische Aggression. Das darf nicht gering geschätzt werden.

Geht es hingegen um Belarus, um Georgien, um Iran wird Europa leise. Sehr leise und wendet sich anderen Themen zu. Ganz so, als wüsste Europa mit all der Veränderung in seiner unmittelbaren Nachbarschaft nichts anzufangen.

Es braucht keine Intervention der EU, es braucht auch keine gutgemeinten Ratschläge, keine Bevormundung, kein Besserwissen, das von Europa aus an die Menschen in Iran, Georgien, Belarus und der Ukraine gerichtet wird. Aber es braucht die Aufmerksamkeit, die Rezeption dessen, was geschieht. Zu wissen, dass man nicht alleine gegen ein Regime steht, dass vielmehr die Augen der Welt auf eine Bewegung und ihre Menschen gerichtet sind, dass ihr Tun und Handeln ebenso gesehen und registriert werden wie das der Regime, gegen die sie sich wenden, ist essenziell.

Es bedarf dazu einer europäischen Standortbestimmung und klarer, unmissverständlicher Positionen gegenüber autoritären Regimen. Bei aller Diplomatie, bei aller Bereitschaft, strittige Punkte in Gesprächen zu behandeln, ist Eindeutigkeit unverzichtbar. Europa kann und darf seine Grundwerte der Menschenrechte und Menschenwürde nicht länger je nach Opportunität situationselastisch interpretieren. Das höhlt sie aus, entwertet sie und macht sie zur billigen Verhandlungsmasse.

Der Europäischen Union öffnet sich ein Fenster, sich selbst und ihre Beziehungen zu ihren Nachbarn substanziell neu zu definieren. Nach außen, indem die Union und ihre Mitgliedstaaten unmissverständlich für Grundrechte und -werte einstehen. Auch wenn das manchen Geschäftsbeziehungen nicht unbedingt zuträglich ist. Vor allem aber nach innen, indem Demokratie und die Werte der demokratischen Gesellschaften bewusst in aller Konsequenz gelebt werden. Das ist nicht immer einfach. Aber es ist grundnotwendig – auch gegenüber den Menschen in Iran, Georgien, Belarus und der Ukraine, die dafür ihre Leben einsetzen. (fksk, 12.03.23)

Woche 09 – Ein endloser Krieg

Russlands Krieg in der Ukraine geht in sein zweites Jahr. Während alle Welt überlegt und diskutiert, wann, wie und unter welchen Bedingungen ein Ende dieses Kriegs möglich sei, formuliert der russische Soziologe und Philosoph Grigory Yudin in einem Medzua-Interview, dass Putin einen „ewigen“ Krieg kämpft, präziser gesagt, kämpfen lässt: „Dieser Krieg ist jetzt für immer. Er hat keine Ziele, die erreicht werden können und die zu seinem Ende führen. Er dauert an, weil (in Putins Vorstellungswelt) sie die Feinde sind, die uns und die wir töten wollen. Für Putin ist das ein existenzieller Zusammenstoß mit einem Feind, der ihn zerstören will.“

©Anton Maksimov/unsplash.com

Er fährt fort: „Man darf sich keine Illusionen machen: Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg nicht enden. Er wird vielmehr ausgeweitet. Die Masse der russischen Armee wächst, die Wirtschaft wird auf die Rüstungsproduktion ausgerichtet und Bildung wird zu einem Werkzeug der Propaganda und Kriegsvorbereitung. Sie bereiten das Land auf einen langen und schwierigen Krieg vor.“

Yudin belässt es nicht mit dieser einen Feststellung. In dem Gespräch mit Margarita Liutova, geht er tiefer. Es sind nicht nur Putin und sein unmittelbares Umfeld, die Russland in einem dauernden Konflikt mit dem Rest der Welt und hier in erster Linie mit den USA und dem Westen wähnen, es ist tatsächlich ein Gutteil der russischen Bevölkerung, die ebendieses Sentiment teilt.

In seinen Aussagen trifft sich Yugin mit Timothy Snyder, der in seinem Buch „Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika“ Putin als Vertreter der „Ewigkeitspolitik“ beschreibt. Wobei der Ewigkeitspolitiker „die Nation ins Zentrum des Narrativs eines immer wiederkehrenden Opfers“ rückt. Snyder fährt fort: „Es gibt keine Zeitlinie mehr, die in die Zukunft führt, sondern einen Kreis, der endlos dieselben Bedrohungen der Vergangenheit wiederholt“(1). Am 23. Jänner 2012 publiziert Putin einen Artikel, in dem er, fasst Snyder zusammen, „Russland nicht als Staat, sondern als spirituellen Zustand“ beschreibt. Damit wird Russland gleichsam grenzenlos, womit sich Putin das Recht nimmt, alle Menschen, die „Teil der russischen Zivilisation“ – die Putin definiert – sind, für Russland zu beanspruchen. Zum Beispiel die Ukrainer (2).

Yugin bestätigt Snyder: „Sein [Putins] Weltbild kennt keine Grenzen. Diese Devise ist praktisch zur offiziellen Linie geworden: Russland endet nirgendwo. Das ist die Standarddefinition eines Imperiums, als ein Imperium keine Grenzen anerkennt.“ In aller Konsequenz.

Damit nicht genug. Was immer passiert, zumal an Rückschlägen, fügt sich in dieses Weltbild des ewigen Kampfs. Die Ukraine widersteht und der Westen unterstützt sie? Ein Beleg dafür, dass die Behauptung, die Ukraine sei nichts anderes als ein antirussisches Konstrukt der Nato, stimme. Der Westen verhängt Sanktionen? Ein Beweis dafür, dass Russland wirtschaftlich zerstört werden soll. In der Vollversammlung der Vereinten Nationen stimmen 141 Staaten für den Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine? Das Zeugnis dafür, dass alle Welt sich gegen Russland und seine einzigartige Zivilisation verschworen hat; dafür, dass es sich um einen existenziellen Konflikt handelt.

Einen, der keinen Kompromiss kennt. Nur Sieg oder Niederlage.

Für den Westen bedeutet das, die innere Logik und Rationalität des Putinschen Weltbilds endlich anzuerkennen und sie in das eigene strategische Denken als reale und effektive Größen einfließen zu lassen. Zu lange haben die Hoffnung und der Glaube, Putin werde letztlich so logisch und rational handeln, wie der Westen denkt, dominiert. Teils dominiert die Hoffnung immer noch, wenn die Berücksichtigung russischer Sicherheitsansprüche eingefordert wird, um einer Übereinkunft den Boden zu bereiten. Für das russische Regime in seiner aktuellen Verfasstheit wäre dies nichts weiter als ein Etappensieg, um sofort den nächsten Konflikt vorzubereiten, die nächsten territorialen und imperialen Ansprüche anzumelden und einzufordern. So, wie das spätestens seit dem russischen Angriff auf die territoriale Integrität Georgiens im August 2008 Usus ist. Das meint nun nicht, dass der Westen die Ewigkeitspolitik für sich übernimmt, und schon gar nicht, dass man sich ihrer Logik beugt, wohl aber, dass man sich ihrer Mechanismen und ihrer Auswirkungen bewusst wird; dass man ihrer Realität ins Auge blickt.

Das ist das Fundament, eine stringente Strategie und konsequente Politik zu formulieren, die Russlands „ewigem Krieg“ entgegenwirkt und ihn in aller Konsequenz scheitern lässt. Essentiell ist es dafür, dass allen voran die Europäische Union daran arbeitet, eine robuste europäische Friedensordnung und Sicherheitsstruktur für die Zeit danach zu entwickeln. Darin liegt mittel- und langfristig die Stärke der Union: Indem sie ein Zukunftsbild entwerfen kann, an dem sie arbeitet, das greifbar und in seinen Auswirkungen für die Menschen spürbar wird, verfügt sie über einen realen und erstrebenswerten Vorteil gegenüber dem ununterbrochen wiederkehrenden Opfergang von Putins Krieg.

Der lässt sich nur durch Konsequenz, nicht durch Kompromisse beenden. (fksk, 05.03.23)

 

(1) Snyder: „Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika“, CH Beck, 2018, Seite 16

(2) ebenda Seite 69

Woche 08 – Russlands Krieg, Europas Neubeginn

Woche 52. US-Präsident Biden besucht Kiyv. Putin besucht ein Stadion in Moskau. In Wien beruft Neos zum Jahrestag Russlands Invasion eine Sondersitzung des Nationalrats ein. In Berlin demonstrieren 15.000 mit Wagenknecht und Schwarzer vor dem Brandenburger Tor gegen Waffenlieferungen an die Verteidiger der freien Ukraine. Eine Woche zuvor hat Ungarns Premier Orban in seiner Rede an die Nation Wagenknecht und Schwarzer inhaltlich vorweggenommen.

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Der 24. Februar 2022 bezeichnet ein einschneidendes Datum in der europäischen Geschichte. Das, wovor man die Augen geschlossen hat, wovon man hoffte, es würde einfach nicht eintreten, ist Realität geworden: Krieg mitten in Europa. Krieg zu Wiedererrichtung eines Imperiums. Krieg gegen die internationale Rechtsordnung, gegen die europäische Friedensordnung, gegen das Völkerrecht.

In der Ukraine bedeutet das ganz konkret Vergewaltigungen, Massaker, Folter und Brandschatzung durch russische Soldaten, den organisierten Raub von Kindern, Getreide und Kulturgütern, die Zerstörung aller Hinweise auf ukrainisches Geistesleben. Es ist ein Vernichtungskrieg, der da vor den Augen der Weltöffentlichkeit gegen die Ukraine geführt wird.

Es ist aber auch die Weltöffentlichkeit, die nicht so reagiert, wie die russische Führung rund um Putin das gedacht haben muss. Der Angriff am 24. Februar und der erfolgreiche Widerstand der Ukrainer bedingt ein Umdenken. Von einer Zeitenwende spricht Deutschlands Kanzler Scholz wenige Tage nach Beginn der Invasion. Inzwischen ist Deutschland nach den USA und Großbritannien der drittgrößte Lieferant von Waffen und Waffensystemen an die ukrainische Armee. Wobei fast jeder Lieferung, jeder Festlegung eine schmerzhaft lange Debatte in Deutschland vorausgeht. Die Zeitenwende ist ein langwieriger Prozess, mit einem klaren Ost-West-Gefälle.

Da sind Estland, Lettland und Litauen sowie Polen, die seit Jahr und Tag vor russischen Expansionsgelüsten gewarnt haben – und vom Rest der Europäer im besten Fall als etwas lästig empfunden wurden. Da sind die Länder ganz im Westen wie Frankreich, Spanien und Portugal, denen der Krieg immer noch ferner erscheint als ihren östlichen Nachbarn. Und da sind dann auch noch Länder die Länder in der Mitte, etwa Deutschland, Österreich und Ungarn, die jedes für sich eine spezielle Rolle spielen, die jedes auf seine Art tiefer in diesen Krieg verstrickt sind als gemeinhin sichtbar.

Zum Beispiel Deutschland. Die geopolitische Verflechtung mit Russland reicht weit zurück. Vor genau 101 Jahren führt die Rolle beider Staaten als Außenseiter im europäischen Konzert zum Pakt von Rapallo, der auf wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit hin abzielt. Die junge Sowjetunion wird zum Handelspartner Europas potenziell stärkster Volkswirtschaft. Deutschland wiederum kann im Osten, fernab der Augen Frankreichs und Großbritanniens, seine Truppen ausbilden und mit Waffensystemen vertraut machen, die ihm verboten sind. Nur 17 Jahre später schließen Hitlerdeutschland und Stalinrussland jenen Pakt, der den Zweiten Weltkrieg einläutet, Polen einmal mehr teilt und der Vernichtung durch beide Regime freigibt. Bis Nazideutschland die Sowjetunion überfällt und das heutige Belarus, das Baltikum, die Ukraine sowie die westlichen Regionen Russlands in europäische Killing Fields verwandelt. Wobei die Kumpanei der beiden Regime bis zum Schluss über ihre Gegnerschaft triumphiert. Den Warschauer Aufstand 1944 schlägt die Wehrmacht ungestört von der Roten Armee nieder, die nur kurz vor der polnischen Hauptstadt haltgemacht hat – und darauf wartet, dass die Deutschen ihr Geschäft besorgen, die Vernichtung des polnischen Widerstands. Partner in crime.

Nein, das ist nicht die Basis, auf der das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau heute maßgeblich aufbaut. Aber diese unausgesprochene, subkutane Ebene spielt immer noch in das besondere Verhältnis zwischen Deutschland und Russland hinein und erklärt wenigstens zum Teil das deutsche Streben, die russischen Bedürfnisse und Befindlichkeiten über jene seiner östlichen Nachbarn zu stellen. Ziehen Wagenknecht und Schwarzer mit dem ehemaligen General Vad und dem einstigen Star der deutschen Sozialdemokratie, Lafontaine, vor das Brandenburger Tor, dann manifestiert sich in ihnen dieses Element, das niemals gegen, dafür immer mit Russland arbeiten will. Eine krude Mischung aus rückwärtsgewandtem Romantizismus und Verehrung brutal zur Schau gestellter Macht.

Zum Beispiel Österreich. Bei jenem demaskierenden Auftritt der Herren Fischer und Leitl mit Putin im Festsaal der Wiener Wirtschaftskammer 2014, ist es Leitl der mit Blick auf die Ukraine darauf hinweist, dass 100 Jahre zuvor Lemberg/Lviv als Teil des Kronlandes Galizien eine altösterreichische Metropole war. Putin gluckst und meint, er fürchte sich, vor dem was da nun kommen mag, woraufhin Fischer ihm lachend die Schultern streichelt – unter uns alten Imperien, so kann die Geste gelesen werden, ist ein wenig Spaß erlaubt. Verständnis für imperiale Nostalgie aber ist garantiert.

Denn es verbindet die kleine Republik ein seltsames Verhältnis zur dem einstigen habsburgischen Österreich. Gerne schmückt man sich mit allerlei k.k-Glitter, mit Lipizzanern, Sisi-Kitsch und monarchischem Gepränge. Dem Rest schenkt man weniger Aufmerksamkeit, dem vielsprachigen Reichsrat, der multinationalen Armee, dem Bemühen, das europäische Vielvölkerreich entgegen aller seiner internen Konflikte in das 20. Jahrhundert zu führen (ein Versuch, der damals an Borniertheit und althergebrachten Ehrvorstellungen scheiterte). Nichts schmeichelt der Seele Kleinösterreichs mehr, als wenn man ihr imperiale Größe und Weltgeltung bescheinigt. In der Musik. Im Theater. In Kunst, Kultur und Skifahren. Es kennt die kleine Republik den Phantomschmerz eines verschwundenen Imperiums. Und es war wieder und wieder Putins Russland, das es verstanden hat, diesen speziellen Ton zu treffen, der österreichische Kanzler (als die einzigen EU-Vertreter) zum Wirtschaftsforum in St. Petersburg lockt; der österreichische Außenministerinnen tanzen und knicksen lässt; der das Land einen Hauch einstiger Größe wahrnehmen lässt. Glanz und Gloria in Zuckerguss. Und üppige Geschäfte dazu.

Zum Beispiel Ungarn. Nun wäre Ungarn eigentlich jenes Land, welches historisch am wenigsten mit Russland verbindet, wenigstens nicht im Positiven. Da bittet der junge Kaiser seinen Partner den Zaren vor 175 Jahren um Truppen, die ungarische Revolution niederzuschlagen. Da kommen die russischen Truppen 1956 wieder und schlagen wieder eine Revolution nieder. Bis sie ein junger Mann 1989 in einer aufsehenerregenden Rede auffordert, das Land endlich zu verlassen. Der Abzug der Roten Armee ist auch ein Erfolg des jungen Orban, der damit seine politische Karriere startet. Doch wo die Österreicher mit zuckerglasierter Nostalgie auf die Habsburgermonarchie zurückblicken, fühlt Orban den Schmerz des Verlusts. Der Friedensvertrag von Trianon, 1920 nach den Verträgen von Versailles und St. Germain oktroyiert und nicht verhandelt, reduziert Ungarn auf seinen ethnisch homogenen Kern. Dass in allen seinen Nachbarländern ungarische Minderheiten leben, empfindet ein großer Teil der Ungarn bis heute als ungerecht. Die Karten, auf denen Ungarn in den Grenzen von 1918 dargestellt wird, sind weit verbreitet. Sie sind ein politisches Statement. Es ist der Schmerz um die einstige Dominanz, das Gefühl, vom Westen, von aller Welt betrogen worden zu sein und im Grunde genommen alleine zu stehen. Darin versteht Orban Putin und fühlt sich ihm mehr verbunden als den westlichen Werten, die aus seiner Sicht das wahre Ungarn bedrohen. Eine Partnerschaft in Ablehnung.

Es sind indes immer wieder Schockereignisse, die alte Bindungen und Einstellungen in Frage stellen, in ihrer Wirkmacht abschleifen und langsam verschwinden lassen. Der russische Angriff auf die Ukraine bewirkt genau das. In Deutschland, wo der Russlandromantizismus der Realität nicht mehr standhält und die Politik der letzten 20 Jahre gegenüber Moskau einer kritischen Revision unterzogen wird. Wagenknecht und Schwarzer sind nicht die Mehrheit, selbst wenn sie es zu sein behaupten.

In Österreich wiederum ist die Debatte über das Selbstverständnis der Republik und ihrer Neutralität nicht mehr einzufangen, wenngleich Kanzler Nehammer, artig assistiert von der Sozialdemokratin Rendi-Wagner, das versucht. Es sind die liberalen Neos und, etwas zurückhaltender, die Grünen, die unterstützt und begleitet von Initiativen wie unseresicherheit.org und immer vernehmbareren Stimmen aus der Gesellschaft die Ausrichtung der Republik hinterfragen und diskutieren. Das ist tatsächlich neu und im Grunde überfällig.

Indem Russland mit seiner Invasion die geltende Friedensordnung in Europa zu zerstören sucht, hat es eine Dynamik angestoßen, die seine Instrumentarien der subtilen Macht, den Romantizismus, die Nostalgie nach imperialen Glanz, zusehends stumpf werden lässt. Eine Dynamik, die nicht nur in Deutschland und Österreich (über kurz oder lang auch in Ungarn) zu gravierenden Veränderungen im Selbstbild führen wird, die zudem eine geopolitische Neuausrichtung der gesamten Union zur Folge haben wird.

Das war nicht Putins Intention. (fksk. 26.02.23)