Ewigkeitspolitik

Woche 09 – Ein endloser Krieg

Russlands Krieg in der Ukraine geht in sein zweites Jahr. Während alle Welt überlegt und diskutiert, wann, wie und unter welchen Bedingungen ein Ende dieses Kriegs möglich sei, formuliert der russische Soziologe und Philosoph Grigory Yudin in einem Medzua-Interview, dass Putin einen „ewigen“ Krieg kämpft, präziser gesagt, kämpfen lässt: „Dieser Krieg ist jetzt für immer. Er hat keine Ziele, die erreicht werden können und die zu seinem Ende führen. Er dauert an, weil (in Putins Vorstellungswelt) sie die Feinde sind, die uns und die wir töten wollen. Für Putin ist das ein existenzieller Zusammenstoß mit einem Feind, der ihn zerstören will.“

©Anton Maksimov/unsplash.com

Er fährt fort: „Man darf sich keine Illusionen machen: Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg nicht enden. Er wird vielmehr ausgeweitet. Die Masse der russischen Armee wächst, die Wirtschaft wird auf die Rüstungsproduktion ausgerichtet und Bildung wird zu einem Werkzeug der Propaganda und Kriegsvorbereitung. Sie bereiten das Land auf einen langen und schwierigen Krieg vor.“

Yudin belässt es nicht mit dieser einen Feststellung. In dem Gespräch mit Margarita Liutova, geht er tiefer. Es sind nicht nur Putin und sein unmittelbares Umfeld, die Russland in einem dauernden Konflikt mit dem Rest der Welt und hier in erster Linie mit den USA und dem Westen wähnen, es ist tatsächlich ein Gutteil der russischen Bevölkerung, die ebendieses Sentiment teilt.

In seinen Aussagen trifft sich Yugin mit Timothy Snyder, der in seinem Buch „Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika“ Putin als Vertreter der „Ewigkeitspolitik“ beschreibt. Wobei der Ewigkeitspolitiker „die Nation ins Zentrum des Narrativs eines immer wiederkehrenden Opfers“ rückt. Snyder fährt fort: „Es gibt keine Zeitlinie mehr, die in die Zukunft führt, sondern einen Kreis, der endlos dieselben Bedrohungen der Vergangenheit wiederholt“(1). Am 23. Jänner 2012 publiziert Putin einen Artikel, in dem er, fasst Snyder zusammen, „Russland nicht als Staat, sondern als spirituellen Zustand“ beschreibt. Damit wird Russland gleichsam grenzenlos, womit sich Putin das Recht nimmt, alle Menschen, die „Teil der russischen Zivilisation“ – die Putin definiert – sind, für Russland zu beanspruchen. Zum Beispiel die Ukrainer (2).

Yugin bestätigt Snyder: „Sein [Putins] Weltbild kennt keine Grenzen. Diese Devise ist praktisch zur offiziellen Linie geworden: Russland endet nirgendwo. Das ist die Standarddefinition eines Imperiums, als ein Imperium keine Grenzen anerkennt.“ In aller Konsequenz.

Damit nicht genug. Was immer passiert, zumal an Rückschlägen, fügt sich in dieses Weltbild des ewigen Kampfs. Die Ukraine widersteht und der Westen unterstützt sie? Ein Beleg dafür, dass die Behauptung, die Ukraine sei nichts anderes als ein antirussisches Konstrukt der Nato, stimme. Der Westen verhängt Sanktionen? Ein Beweis dafür, dass Russland wirtschaftlich zerstört werden soll. In der Vollversammlung der Vereinten Nationen stimmen 141 Staaten für den Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine? Das Zeugnis dafür, dass alle Welt sich gegen Russland und seine einzigartige Zivilisation verschworen hat; dafür, dass es sich um einen existenziellen Konflikt handelt.

Einen, der keinen Kompromiss kennt. Nur Sieg oder Niederlage.

Für den Westen bedeutet das, die innere Logik und Rationalität des Putinschen Weltbilds endlich anzuerkennen und sie in das eigene strategische Denken als reale und effektive Größen einfließen zu lassen. Zu lange haben die Hoffnung und der Glaube, Putin werde letztlich so logisch und rational handeln, wie der Westen denkt, dominiert. Teils dominiert die Hoffnung immer noch, wenn die Berücksichtigung russischer Sicherheitsansprüche eingefordert wird, um einer Übereinkunft den Boden zu bereiten. Für das russische Regime in seiner aktuellen Verfasstheit wäre dies nichts weiter als ein Etappensieg, um sofort den nächsten Konflikt vorzubereiten, die nächsten territorialen und imperialen Ansprüche anzumelden und einzufordern. So, wie das spätestens seit dem russischen Angriff auf die territoriale Integrität Georgiens im August 2008 Usus ist. Das meint nun nicht, dass der Westen die Ewigkeitspolitik für sich übernimmt, und schon gar nicht, dass man sich ihrer Logik beugt, wohl aber, dass man sich ihrer Mechanismen und ihrer Auswirkungen bewusst wird; dass man ihrer Realität ins Auge blickt.

Das ist das Fundament, eine stringente Strategie und konsequente Politik zu formulieren, die Russlands „ewigem Krieg“ entgegenwirkt und ihn in aller Konsequenz scheitern lässt. Essentiell ist es dafür, dass allen voran die Europäische Union daran arbeitet, eine robuste europäische Friedensordnung und Sicherheitsstruktur für die Zeit danach zu entwickeln. Darin liegt mittel- und langfristig die Stärke der Union: Indem sie ein Zukunftsbild entwerfen kann, an dem sie arbeitet, das greifbar und in seinen Auswirkungen für die Menschen spürbar wird, verfügt sie über einen realen und erstrebenswerten Vorteil gegenüber dem ununterbrochen wiederkehrenden Opfergang von Putins Krieg.

Der lässt sich nur durch Konsequenz, nicht durch Kompromisse beenden. (fksk, 05.03.23)

 

(1) Snyder: „Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika“, CH Beck, 2018, Seite 16

(2) ebenda Seite 69