Woche 07 – Nehammers Flucht aus der Verantwortung

Russlands Krieg geht in seiner 51. Woche mit verstärkten Angriffen auf breiter Front und verlustreichen Kämpfen rund um Vuhledar und Bakhmut, mit erneutem Raketenbeschuss ziviler und kritischer Infrastruktur in der Ukraine einher. Den Vorwurf, 6.000 ukrainische Kinder in Umerziehungslager nach Russland deportiert zu haben, weist die Regierung in Moskau zurück. Im Rahmen eines Putin-Interviews dankt eine Journalistin ihrem Präsidenten für die Möglichkeit, einen 15jährigen aus Mariupol adoptiert haben zu können. In russischen TV-Shows erstrecken sich die Ambitionen mittlerweile weit gen Westen, die DDR solle als eine Art russischen Territoriums wiederhergestellt werden. Unterdessen sind dort im Westen Exponenten von ganz rechts und ganz links unverdrossen von den lauteren Absichten Putins überzeugt und fordern also sofortige Verhandlungen ein.

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Um Versöhnung müht sich auch Österreichs Kanzler Nehammer. Konkret um die Aufarbeitung der Covidjahre. Versöhnen will er, Verletzungen heilen, die Lager wieder zusammenführen. Darin wohl sieht er seine Rolle bis zu den Wahlen im Jahr 2024. Man darf davon ausgehen, dass es ihm damit auch ernst ist.

Weswegen es gilt, dem Kanzler ganz genau zuzuhören, wenn er davon spricht, dass im Zuge dieses Prozesses die Experten sich und ihre Entscheidungen erklären müssten. Wobei Nehammer das nicht im Konjunktiv formuliert, er setzt den Indikativ ein. Er gibt in bemerkenswerter Offenheit die Linie vor, wer seines Erachtens ursächlich an den Verwerfungen in der Gesellschaft Schuld hat und dafür Verantwortung trägt: Es sind die Experten, die Mediziner, Gesundheitsmanager, Komplexitätsforscher, es ist die Wissenschaft.

Die Politik, die Regierung, insbesondere der große Koalitionspartner trägt dafür keine Verantwortung. Folgt man der Aussage des Kanzlers, haben sie nur getreulich getan, was ihnen gesagt, um nicht zu sagen, aufgetragen wurde.

Das ist nichts weniger als die Bankrotterklärung eines Regierungschefs und Politikers.

Politik, die sich als nicht verantwortlich sieht, die davor zurückschreckt, für ihre Handlungen einzustehen, die das noch dazu mit der tiefsitzenden österreichischen Abneigung gegen alles, was aus dem Umkreis der universitären Forschung kommt, garniert, nimmt sich aus dem demokratischen Spiel. Mehr noch, sie diskreditiert nicht nur die Wissenschaft und beschädigt in einem Aufwaschen alle anderen politischen Akteure – sie legt Axt an die tragenden Säulen der Republik.

Nehammer steht damit nicht alleine. Die Flucht aus der Verantwortung ist bei vielen Vertretern der politischen Klasse Österreichs zu beobachten. Sie geben sich als von missgünstigen Umständen getrieben, bevormundet und ihres wichtigsten Daseinsgrundes, den Menschen Freude zu bereiten und sie vor den Fährnissen des Alltags und allen Zumutungen zu bewahren, beraubt. Von Experten oder Brüssel oder was es der extern waltenden Kräfte noch geben mag. Sie geben sich als ohnmächtige Opfer der herrschenden Umstände. Aktiv zu gestalten, kommt ihnen nicht in den Sinn.

Nach Gestaltung aber verlangt die Demokratie. Sie baut auf gesellschaftlicher Teilhabe auf und darauf, dass gewählte Vertreter über einen bestimmten Zeitraum Verantwortung übernehmen. Sie bedarf der Akteure, die sich, ihre Arbeit, ihr Streben, ihre Ziele, ihr Handeln und Tun den Menschen erklären, die dafür einstehen, bereit sind dafür zu streiten und die zu überzeugen suchen, die nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Und – die auch irren können.

Das alles macht die Demokratie bisweilen anstrengend und anspruchsvoll. Das macht sie gleichzeitig lebendig und einzigartig. Sie ist das einzige politische System, das den Irrtum als Faktor beherrschbar macht, da er im Zuge von Wahlen korrigiert werden kann. Sie ist ein lernendes System. Wenn man denn zu lernen bereit ist. Aus Entwicklungen, aus Erfolgen wie aus Fehlern.

Das freilich setzt Verantwortungsbewusstsein voraus. Sowie die Bereitschaft, Verantwortung tatsächlich zu übernehmen.

Suggerieren hingegen Politiker, zumal Regierungspolitiker, sie wären innerhalb eines demokratischen Systems nicht verantwortlich, so entziehen sie ihm sein wesentliches Element der Möglichkeit der Korrektur in Form der Abwahl der Verantwortungsträger. Sie stellen das demokratische System damit in letzter Konsequenz in Frage.

Daraus folgt ein schleichend anschwellender Vertrauensverlust der Wähler. Wo sie sich ihres Rechts, Verantwortung zuzuteilen und damit an der politischen Gestaltung teilzuhaben, beraubt sehen, ziehen sie für sich Schlüsse. Manche, indem sie sich zurückziehen und an den demokratischen Prozessen nicht mehr teilnehmen. Andere, indem sie sich den Rändern des politischen Spektrums zuwenden, jenen, die versprechen, dass mit ihnen alles anders wird, zumal das System. Denn, dieser Umstand ist dokumentiert, auch und gerade in der Demokratie erwarten die Menschen Führungsqualitäten.

Mithin nicht die Klage über die obwaltenden Umstände, nicht das Abschieben von Entscheidungen an andere, nicht das schlichte Verwalten und Organisieren des Staates und der Republik. Die Menschen wollen Antworten, auch solche, denen man nicht zustimmt, über die man diskutieren, streiten kann. Sie erwarten Eindeutigkeit, Klarheit, Kompetenz und – Verantwortungsbewusstsein.

Bezeichnet Nehammer nun sich und seine Regierungskollegen als „hörig“ gegenüber Experten und delegiert die Aufarbeitung an eine Kommission, anstatt das Parlament und die Öffentlichkeit aktiv darin einzubinden, so befeuert er die Entfremdung, der er doch eigentlich entgegentreten will. Dazu braucht es aber auch deutlich mehr als eine Rede über die Zukunft und etwas Marketing. Es braucht konkrete Handlungen und Tun, die Bereitschaft zu reden, zu argumentieren, sich der Kritik zu stellen, es braucht klare Positionen. Und es verlangt nach gelebter Verantwortung.

Die aber flieht der Kanzler. In aller Konsequenz. (fksk, 19.02.23)

Woche 06 – Ein Manifest und Abschiedsgruß

Woche 50 des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Die Wucht der Angriffe auf die ukrainischen Stellungen und Städte nimmt zu. Alles deutet darauf hin, dass die lang erwartete Offensive Russlands begonnen hat. Nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums sind die russischen Verluste mit mehr als 800 Mann pro Tag derzeit so hoch wie nie seit dem Überfall. Wie hoch jene der ukrainischen Seite sind, darüber liegen weder Zahlen noch Schätzungen vor. Söldnerführer Prigoschin betont unterdessen gebetsmühlenartig die Bedeutung der „Menschenmühle Bakhmut“ um die Ukraine „ausbluten“ zu lassen. Russland scheint bereit, dafür jeden Preis auch an eigenen Menschenleben zu zahlen. Unterdessen beginnt in Deutschland die Ausbildung ukrainischer Soldaten am Leoparden, die britische Regierung sichert der Ukraine die Lieferung neuer und reichweitenstärkerer Raketensysteme zu und mittels Videobotschaft rufen Frau Wagenknecht und Frau Schwarzer dazu auf, ihr neues Manifest zu unterzeichnen. Sie befürchten eine Rutschbahn in einen Atomkrieg, fordern Kanzler Scholz auf, den Frieden zu verhandeln und die Panzerlieferungen an die Ukraine zu stoppen.

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Es ist nicht das erste Manifest aus deutschen Landen. Und es ist auch nicht das erste, an dem Frau Schwarzer maßgeblich Anteil hat. Es sind diese Manifeste ein recht deutsche Angelegenheit.

In keinem anderen Land wird der Krieg in der Ukraine so intensiv diskutiert wie in Deutschland. Kaum ein Abend, an dem nicht irgendein Sender das Thema behandelt. Kaum ein Tag, an dem keine Kommentare zum Thema erscheinen. Wo immer Kanzler Scholz auftritt, den Schatten des Krieges wird er nicht los, so wenig wie Außenministerin Baerbock oder Verteidigungsminister Pistorius. Auf jeden Schritt, den Deutschland setzt, folgt sogleich die bange Frage, ob die Bundesrepublik damit direkt und unmittelbar Kriegspartei würde.

Alles das ist, aus der deutschen Geschichte heraus, durchaus zu verstehen (dass diese Debatte in Österreich so gar nicht stattfindet ist in gewisser Weise mindestens so irritierend). Es geht im Kern um die Interpretation der Aussage und des Versprechens „Nie wieder!“.

Bedeutet dieser Schluss, dass Deutschland sich niemals wieder in Kriege involvieren soll? Weder mit Soldaten noch mit Waffenlieferungen? Oder ist in dieser Aussage vielmehr die Aufforderung an Deutschland enthalten, alles zu unternehmen, damit es niemals mehr zur Herrschaft des Unrechts kommt? Mit allen Mitteln?

Seit mehr als 30 Jahren begleitet diese Auseinandersetzung die Berliner Republik. 1999 begründete der damalige Außenminister Fischer den umstrittenen Kosovoeinsatz der Bundeswehr eingedenk der Massaker von Srebrenica und Tuzla (1995) in Bosnien mit eben dieser Verpflichtung aus der deutschen Geschichte. Und gerade dieser Einsatz, der völkerrechtlich durch die Vereinten Nationen nicht gedeckt war, hätte wesentlich zur Klärung beitragen können. Dieses Momentum wurde nicht genutzt. Noch zu Zeiten der Regierung Schröder-Fischer wurde das Thema nicht mehr aufgegriffen, so wenig wie in den langen 16 Jahren der Kanzlerinnenschaft Merkels.

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Feburar 2022 aber steht die Frage wieder unübersehbar im Raum und sorgt für Streit nicht nur in deutschen Wohnzimmern und an deutschen Stammtischen. Den Offenen Briefen und Manifesten kommt dabei als Mittel der Kommunkation und Standortvergewisserung eine wichtige, eine zentrale Rolle zu.

Wenn Schwarzer und Wagenknecht hier nun Verhandlungen und einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine fordern, verweisen sie auf eine drohende Eskalation. Das ist das wiederkehrende Thema in Deutschland. Die Angst, dass Russland darin schon einen kriegerischen Akt sieht, auf den es mit Mitteln des Krieges reagiert. Mit Bomben auf Berlin, so wie sie in russischen TV-Shows immer wieder gefordert werden.

Im Verständnis von Schwarzer und Wagenknecht geht es darum, dem Aggressor keinen Widerstand entgegenzusetzen, oder wenigstens den Widerstand nicht zu unterstützen. Denn, so die beiden Damen, der Aggressor verfolge mit seiner Aggression legitime Ziele. Er stille sein Sicherheitsbedürfnis. Das habe die Ukraine zu akzeptieren und in Form von Territorialverlusten sowie dem Verlust ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit hinzunehmen. Es ist aus ihrer Sicht ein Friede, dessen Last die Ukraine zu tragen habe, besser als ein Andauern des Krieges. Nicht weil daraus ein tragfähiger Frieden entstünde, als einzig und allein des Endes der Kampfhandlungen wegen.

Weil dann der Krieg aus den Wohnzimmern der Deutschen verschwindet. Und mit ihm die tägliche Anklage gegen einen imperialistischen Aggressor namens Russland. Weil damit auch die Frage, wie man es mit dem „Nie wieder“ denn hält, verschwindet.

Es stellt dieser Krieg recht eigentlich die Welt auf den Kopf. Imperialismus, das ist etwas, was – zumal in Deutschland – über Jahrzehnte einzig den USA vorgeworfen wurde. Das Bild der Vereinigten Staaten als perfide Macht, die im Hintergrund die Fäden zieht, die friedliebenden Völker der Welt zu knechten, das sitzt tief in deutschen Landen und Gemütern. Das wurzelt in der NS-Zeit, das wurde in der DDR in Bausch und Bogen übernommen, das wurde in der westdeutschen Friedensbewegung mit Inbrunst vorgetragen.

Und nun ist es Russland, welches das Völkerrecht bricht und missachtet, dessen Soldaten und Söldner raubend, vergewaltigend, mordend und folternd einen Vernichtungskrieg führen und im Auftrag Putins das russische Imperium wiederzuerrichten versuchen. Die Antwort des Westens ist, bei allem Zögern, eindeutig. Es darf dieser Akt der Willkür und Gewalt nicht von Erfolg gekrönt sein.

Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen. Es muss ihn verlieren.

Hier nun kommt die Interpretation Fischers zum „Nie wieder“ zum Tragen. Zusehen und nichts zu tun, ist für Deutschland, ist für den Westen, keine vertretbare Alternative. Dafür stehen in der Bundesrepublik Außenministerin Baerbock, Wirtschaftsminister Habeck, die FDP-Abgeordnete Strack-Zimmermann, Verteidigungsminister Pistorius, der SPD-Abgeordnete Roth und der CDU-Mann Röttgen, um nur einige aus der politischen Klasse zu nennen. Und auch Kanzler Scholz.

Was sie neben ihrer Haltung ebenfalls auszeichnet, ist der Umstand, dass sie durch die Bank jünger sind als Frau Schwarzer. Sieht man von Frau Wagenknecht ab, so sind die Erstunterzeichner durchwegs ältere Jahrgänge. Jene, die von eben dieser Friedensbewegung geprägt wurden, die im Bonner Hofgarten demonstrierten, die US-Stützpunkte mit Sitzblockaden stillzulegen versuchten, die sich mit aller Kraft und aus tiefster Überzeugung gegen den Nato-Doppelbeschluss stellten (den der sozialdemokratische Kanzler Schmidt ersonnen und auf Schiene gesetzt hatte).

Mit diesem Manifest verteidigen sie einmal noch ihr Lebenswerk, ihre BRD-Welt und ihre Sicherheiten. So kann man ihn denn auch lesen, diesen Aufruf, als den verzweifelten Versuch der Alten sich in einer Welt, die sich neu sortiert, zu behaupten. Mit den Ansichten und den Rezepten von gestern. Es ist dieses Manifest ein Abschiedsgruß der Bonner Republik. Direkt aus dem Herzen der miefig-piefigen westdeutschen Provinz. (fksk, 12.02.23)

Woche 05 – Waldhäuslheimat

Woche 49 des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Während Putin in Wolgo- vulgo Stalingrad die Feier zum Sieg über das Ende der 6. deutschen Armee vor 80 Jahren nutzt, um Deutschland wegen seiner Panzerlieferungen zu drohen, tobt in und um Bakhmut unvermindert eine Schlacht, bei der die russische Seite Soldaten und Söldner Welle auf Welle gegen die ukrainischen Stellungen wirft und dabei horrende eigene Verluste an Menschenleben billigend in Kauf nimmt. Nach vorsichtigen Schätzungen aus den USA und Großbritannien hat die russische Armee mitsamt ihren Söldnertruppen bereits rund 200.000 Mann verloren. Weitere 300.000 Mann stehen in den besetzten Gebieten bereit, eine neue Offensive gegen die Ukraine durchzuführen, um Putins Traum vom wiedergewonnenen Imperium neuen Schwung zu verleihen.

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Währenddessen macht sich in Österreich ein Herr Waldhäusl Luft und erklärt Wiener Schülerinnen mit Migrationshintergrund vor laufenden TV-Kameras, wären sie nicht in Wien, wäre Wien wieder Wien. Herr Waldhäusl ist dank des Proporzes  „Asyllandesrat“ in Niederösterreich, FPÖ-Politiker, macht laut Landeshauptfrau Mikl-Leitner einen „ordentlichen Job“ und stammt aus dem nördlichen Zipfel des Waldviertels, von wo die Menschen abwandern. Nach Wien. Zum Beispiel.

Die Schülerinnen erfahren nun Solidarität von EU- und Verfassungsministerin Edtstadler über den Wiener Bürgermeister Ludwig bis hin zur liberalen Nationalratsabgeordneten Krisper, Nichtregierungsorganisationen und Medien. Es ist einer jener inzwischen rar gewordenen Momente, in denen jenseits der Rechtsaußen agierenden Freiheitlichen parteiübergreifend Konsens herrscht.

Es ist einer jener Momente, die die Republik seit 1986 gefühlt tausendmal er- und durchlebt hat, die einem eigenen Rhythmus und einer eigenen Struktur folgen, die ein Ritual darstellen, letztlich aber nichts ändern. Es sehen sich nur beide Seiten, die Waldhäusels dieses Landes und alle anderen, sich in ihrer Haltung bestätigt.

Dabei ist gerade diese Aussage, wonach Wien nicht mehr Wien sei, ein guter Ansatzpunkt, eine wichtige, eine überfällige Diskussion zu starten. Nicht nur über Wien, sondern über Österreich.

Die Frage ist, was ist Österreich? Jenes des Herrn aus dem nördlichen Niederösterreich? Oder jenes zum Beispiel der Wiener Nationalratsabgeordneten Krisper? Was ist, worin gründet die Identität der Republik und ihrer Menschen, was zeichnet sie aus?

Die gängigen Antworten von der Nation der Skifahrer über die Kulturgroßmacht bis hin zum Brückenbauer zwischen Ost und West beziehen sich auf ein Land und eine Gesellschaft, die beide heute so nicht mehr existieren. Sie waren, mit Einschränkungen, einmal durchaus richtig. In den 60er und 70er Jahren, mithin in einer Zeit, nach deren retrospektiver Übersichtlichkeit sich viele zurücksehnen.

Der Fall des Eisernen Vorhangs und der Beitritt zur Europäischen Union aber zeitigten massive Auswirkungen, als Österreich von einer Randlage, von der Sackgasse wieder in ein lebendiges Zentrum des Kontinents geriet. Mit allen Konsequenzen.

Allein, schon zur Volksabstimmung über den Beitritt zur EU wurde dem Wahlvolk ein ums andere Mal versichert, dass sich eigentlich und im Grunde gar nichts ändern würde. Das Schnitzel bliebe das Schnitzel, der Erdäpfelsalat Erdäpfelsalat und die Marmelade Marmelade. Oder so ähnlich. Schmecks.

Österreich hat sich in den letzten 30 Jahren grundlegend verändert. Die Republik von heute gleicht in vielen, zumal in wesentlichen Aspekten nicht mehr jener von damals. Wien ist zu einer wachsenden europäischen Metropole geworden, Oberösterreich zu einem Standort zukunftsorientierter Industrien, selbst das Agrarland Niederösterreich definiert sich heute mehr über Industrie und Gewerbe, über Forschung und Entwicklung denn über die Hektarerträge an Getreide. Österreich ist ein Einwanderungsland geworden. Allein in Wien werden mehr als 100 Sprachen als Muttersprachen gesprochen. In kaum einen anderen Land der Union leben mehr Menschen mit anderer Staatsangehörigkeit. Selbst wenn es immer wieder Probleme mit, vor allem jungen männlichen, Zuwanderern gibt, gelingt die Integration so schlecht nicht. Es gibt, grosso modo, keine No-go-Areas, keine Zustände wie in den Banlieues von Paris, keine Viertel, in die Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte sich nicht mehr trauen, wie es aus Berlin berichtet wird. Das ist eine Leistung der alteingesessenen Bevölkerung ebenso wie der hinzugekommenen. Eigentlich eine Erfolgsgeschichte.

Alles das ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was sich in knapp 30 Jahren verändert hat. Es hat sich viel verändert.

Sprechen Österreicher von und über Österreich, dann haben sie tendenziell immer das Land von vor mehr als 30 Jahren vor Augen.

Nicht nur weil die Waldhäusls sich nach einer Vergangenheit sehnen, die es selbst damals so nicht gegeben hat, sondern weil auch die Vertreter der anderen wesentlichen politischen Bewegungen lieber mit althergebrachten Versatzstücken liebäugeln, als den Änderungen und den damit verbundenen Konsequenzen ins Auge zu blicken.

Das aber ist hoch an der Zeit, es ist überfällig, längst überfällig. Denn der Wandel, die Veränderungen, sie sind manifest. Sie sind nicht zu übersehen und sie sind schon gar nicht rückgängig zu machen. Sie wirken sich auf alle, ausnahmslos alle Bereiche und Belange der Republik und ihrer Menschen aus. Diese Änderungen beim Namen zu nennen, etwa Österreich endlich als das anzuerkennen, was es ist, ein Einwanderungsland und damit eine Einwanderungsgesellschaft, fällt indes vielen Menschen, zumal Politikern, schwer. So wie auch Österreich als gestaltenden Teil, als initiatives Subjekt der Europäischen Union zu begreifen oder seine aktive Teilnahme einer europäischen und globalen Sicherheitsarchitektur (was Österreich allein schon durch seine Bundesheerkontingente vor allem in Bosnien-Herzegowina und in Kosovo unter Beweis stellt) unter Hinweis auf die trügerische Sicherheit der Neutralität nicht einmal diskutieren zu wollen.

Für all dieses beharrliche Negieren, zur Seite schauen, nicht einmal ignorieren, daran trägt nicht Waldhäusls Partei alleine Schuld, daran haben samt und sonders alle politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Kräfte Teil. Aus Bequemlichkeit.

Nur, bequem wird es nicht mehr. Die Debatte über die facettenreiche Identität Österreichs und was sie bedeutet, ist überfällig. Dann und erst dann wird es möglich, das Ritual zu durchbrechen. (fksk, 05.02.23)

Woche 04 – Heinz Fischer oder: Die Welt von Gestern

Vier Wochen noch bis zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine. Deutschland gibt den Leopard frei, die USA sichern Kyiv Abrams M1 Panzer zu, Polen liefert zusätzlich ältere Modelle der sowjetischen T-Serie. Die Schlacht um Bakhmut hält unvermindert an, Kyiv spricht von einer schwierigen Lage, in der die ukrainischen Soldaten ihre Stellungen halten. Unterdessen gehen die russischen Raketen- und Bombenangriffe auf zivile Infrastruktur in der Ukraine weiter, in den westlichen Medien gerinnen sie langsam zu Alltagsmeldungen und verschwinden aus den Schlagzeilen. In der Nacht von Samstag auf Sonntag werden in Iran offenbar Angriffe auf militärische Einrichtungen und Drohnen-Fabriken durchgeführt. Das Regime meint, es sei kein Schaden entstanden. Die Opposition hingegen geht von größeren Schäden aus. Wer hinter den Angriffen steckt und sie durchführt, ist unklar.

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In Österreich gibt derweil Altbundespräsident Heinz Fischer dem SPÖ-Online-Magazin kontrast.at ein Interview. Darin spricht er über die Entwicklung des österreichischen Parlaments seit den 60er Jahren, über das Vertrauen der Menschen in die Politik und er spricht über den Krieg in der Ukraine sowie über die Neutralität Österreichs. Es sind vor allem diese Passagen, die dieses Gespräch zwischen Patricia Huber und dem großen alten Mann der österreichischen Sozialdemokratie so lesenswert machen. Sie legen ein Denken frei, welches das Weltbild der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts vollständig konserviert hat und – nebenbei bemerkt –, mit einer etwas fragwürdige Wahrnehmung der Position Österreichs im internationalen Geschehen verbindet.

Also spricht Fischer: „Die Neutralität ist generell für Außen- und Friedenspolitik wichtig, nicht nur für eine sozialdemokratische. [...] In der Zeit der großen Blöcke – Ost und West – war die Neutralität für Österreich wirklich eine sehr gute Lösung, die sich mit der Zeit immer fester im Bewusstsein der Bevölkerung verankert hat – so ähnlich wie das auch in der Schweiz schon viel länger und viel früher der Fall war. Es nützt ganz einfach der Friedenspolitik, wenn nicht alle Länder in Nato oder Warschauer Pakt, in Ost oder West eingeteilt sind.“

Nun mag man Fischer zugestehen, dass er die prägenden Jahre seiner politischen Karriere in den 70er und 80er Jahren erlebt hat, dass er indes vom Warschauer Pakt immer noch im Präsens spricht, mutet seltsam an. Der Konflikt des Westens mit Russland ist eben kein Ost-West-Konflikt mehr, als von Estland, Lettland, Litauen und Polen über Tschechien, die Slowakei, Ungarn bis hin zu Rumänien und Bulgarien der europäische Osten Teil der EU und der Nato geworden ist. Freiwillig, aus eigenen Stücken, und aus dem Bestreben heraus, sich als Nationen gegen Russland und seine imperialen Ambitionen rückzuversichern. Hört man Fischer zu, dann hört man – dem Präsens sei Dank – sein Verständnis für Russlands Klage von der Nato „eingekreist“ zu werden. Dann spricht daraus Verständnis dafür, dass Russland Anspruch auf die Wahrung seiner traditionellen, sprich sowjetischen, Einflusssphäre erhebt.

Fischer hat Putin einmal schon öffentlichkeitswirksam und wortwörtlich den Rücken gestärkt, er tut es auch in diesem Interview, wenn er über die Ursache der russischen Aggression sinniert: „Kriege haben immer einen langen Vorlauf und die Situation zwischen Russland und der Ukraine war schon Jahrzehnte lang eine sehr schwierige und spannungsgeladene. In der Ukraine hat es einen russischen Flügel und einen pro-westlichen Flügel gegeben, die haben sich bekämpft. Sie haben sich am Maidan gegenseitig beschossen. Österreich zählt nicht in eine Gruppe solcher Staaten, die so umstritten und so umkämpft sind. Ich glaube, dass der Westen sich freut, dass Österreich ihm keine Sorgen macht und ich glaube, dass der frühere Osten froh ist, dass Österreich keine Probleme macht.“

Die Ukraine hat seit ihrer Unabhängigkeit, das ist Tatsache, einen bewegten und konfliktbeladenen Weg hin zu einer demokratisch verfassten Gesellschaft durchlaufen (und sie durchläuft ihn immer noch). Umso mehr gilt es anzuerkennen, dass in der Ukraine Regierungen und Präsidenten gewählt und abgewählt wurden (und werden). Dass der demokratische Machtwechsel funktioniert. Diesen Umstand schlicht zu ignorieren und einen Bürgerkrieg in der Ukraine zu insinuieren, so wie Fischer das hier tut, ist schlicht unlauter und intellektuell unredlich.

Freilich, pflegt man ein Österreichbild, so wie es der Altbundespräsident hier offenherzig darlegt, dann darf die Schlichtheit nicht weiter wundern. Es spricht das ehemalige Staatsoberhaupt von Österreich wie von einem Kind, das eben keine „Sorgen“ und „Probleme“ macht. Nicht dem Westen, nicht dem Osten, die sich darüber wahlweise freuen oder darüber froh sind. Österreich als eine Insel der Seligen inmitten der Stürme der Gegenwart, ein politisches Nullum. Ein Gebilde, das niemals handelt, nie Subjekt, sondern ausschließlich Objekt ist. Ein Staatswesen, das am liebsten nie und nirgendwo anecken will, überall gerne mit von der Partie aber niemals initiativ oder gar verantwortlich ist. Ein Opportunist par excellence.

So ist Österreich nicht (um den aktuellen Bundespräsidenten zu paraphrasieren). So sind vor allem die Verhältnisse nicht mehr. Der „Osten“, den Fischer im Interview als Gegensatz zum „Westen“ bemüht, ist heute ausschließlich das imperialistische Russland, wie Putin es geformt hat. Die Republik ist Mitglied der Europäischen Union und mithin in einem politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich vollkommen anders gearteten Umfeld eingebettet als sie es in den Jahren zwischen 1955 und 1989 war. Und so wie das Parlament sich geändert hat, in seiner Arbeit und seinem Selbstverständnis (auch in dieser Hinsicht ist das Gespräch mit Fischer lesenswert), so hat sich Österreich verändert und mit ihm Europa und die Welt.

Dass Fischer der Welt von gestern nachhängt, das mag seiner politischen Biographie geschuldet sein. Dass er die Rezepte von gestern zur Lösung der Probleme von heute empfiehlt, ist fragwürdig. Dass es ihm die österreichische Sozialdemokratie darin gleich tut, das ist zukunftsvergessen. Und das ist noch milde ausgedrückt. (fksk, 29.01.23)

Woche 03 – Hauptsache, stabil

Elf Monate Krieg in der Ukraine. Soledar ist gefallen. Vor Bakhmut treibt die russische Armee ihre Soldaten übers offene Feld gegen die ukrainischen Stellungen und mitten ins Feuer. Das britische Verteidigungsministerium konstatiert Stillstand an der Front. Der ehemalige russische Präsident Medvedev warnt in drastischen Worten vor den Folgen einer russischen Niederlage für Europa. In Moskau wird auf dem Dach des Verteidigungsministeriums das Pantsir-Raketenabwehrsystem installiert. In Iran verschärft das Regime sein Vorgehen gegen die Opposition und Minderheiten im Land. Das Europäische Parlament stuft die Revolutionsgarden als terroristische Organisation ein, Konsequenzen hat das keine. Es ist ein Symbol, ein Zeichen der Solidarität. Immerhin.

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In Berlin und Ramstein lädt die Regierung Scholz unterdessen zu einer einzigartigen Darbietung des rasenden Stillstands. Applaus bleibt indes ob der grotesken Verrenkungen des Kanzlers rund die Frage, wann Deutschland der Ukraine Kampfpanzer vom Typ Leopard liefert, aus. Nicht minder grotesk muten die Verrenkungen des Auswärtigen Amts unter Ministerin Baerbock an, geht es um die Frage, ob die iranischen Revolutionsgarden endlich als Terrororganisation gelistet werden.

Zumindest letzteres wundert den deutsch-iranischen Wissenschaftler Aras-Nathan Keul nicht im Geringsten: „Für das Auswärtige Amt bedeutet Diktatur Stabilität“. So formuliert er es im Gespräch mit der Informationsplattform Iran-Revolution.com und führt weiter aus: „Man hat entgegen der Faktenlage immer geglaubt, das Regime durch Dialog und Handel zu internen Reformen zu bringen. Das ist der gleiche Ansatz – und Fehler –, den man mit Russland auch gemacht hat und noch immer mit China macht.“

Keul spricht damit ein essenzielles Element an, die Politik Deutschlands, aber auch anderer, westeuropäischer, Länder zu entziffern und zu verstehen. Stabilität ist in Zeiten der Globalisierung, der Digitalisierung, der immer rascher anbrandenden Krisen und steigenden Komplexität und nicht zuletzt des Klimawandels für die Politik ein Wert für sich.

Stabilität ist, was Putin Russland nach den tumultuösen 90er Jahren unter Boris Jelzin gebracht hat.

Stabilität ist, was die Regierung in Bejing garantiert. Was Präsident Sisi in Ägypten durchsetzt, mit allen Mitteln. Stabilität ist, was das eigene Wirtschafts- und Wohlstandsmodell angesichts einer sich radikal und rasant ändernden Welt noch etwas länger bewahren lässt.

Nun spricht grundsätzlich nichts gegen stabile Verhältnisse. Im Gegenteil, sie ermöglichen Austausch, Handel, Kooperation. Sie tragen zu Rahmenbedingungen bei, die es Gesellschaften ermöglichen, nach Mehr zu streben. Sie sorgen für Berechenbarkeit. Daran ist nichts Schlechtes.

Indes, die Welt ist eine Zumutung, indem sie sich ändert und alle Stabilität immer wieder aufs Neue herausfordert. Und zwar dergestalt, dass das, was gestern die Stabilität ermöglicht hat, heute zu einem Element der Instabilität wird.

Herr Putin zum Beispiel. Für den Westen, für Deutschland und Österreich im Besonderen, hat er für stabile Verhältnisse gesorgt. Dafür hat man über das eine oder andere schon hinweggesehen, man hat es wenigstens nicht zu sehr kritisiert. Die Zerstörung von Grosny, der Überfall auf Georgien, die Ausschaltung jeglicher Opposition, der Beginn des langen Kriegs gegen die Ukraine, alles das hat der Westen hingenommen. Nicht zuletzt der Stabilität wegen. Weil, so die Annahme bis zum 24. Februar 2022, Putin berechenbar ist.

Ein folgenschwerer Irrtum.

Ähnlich verhält es sich mit Iran. Der Westen, zumal die Europäische Union hat sich mit dem klerikalen Regime arrangiert. Solange Iran in Europa nicht zündelt, sondern über sein Atomprogramm verhandelt, so lange wird er als ein Faktor internationaler Stabilität wahrgenommen und behandelt. Inzwischen hört und sieht man nichts, um sich nicht äußern zu müssen.

Hauptsache, stabil.

Nun aber bricht seit Jahren viel Sicherheit weg. Das Wohlstandsversprechen der westlichen Gesellschaften ist in Frage gestellt. Die Perspektive, sozial und gesellschaftlich durch Bildung und Arbeit aufsteigen zu können, wird zusehends verengt. Die Sicherheit, dass es künftigen Generationen besser gehen wird, ist nur noch eine Erinnerung. Indem diese Gewissheiten entfallen, brechen Konflikte auf, derer die politische Klasse nicht Herr wird. Mehr noch, offenbar gar nicht Herr werden will, um den Menschen nicht noch mehr Veränderungen zumuten zu müssen.

Politik zeigt sich dieser Tage nicht mehr als Wettbewerb der Ideen, wie die Zukunft gestaltet werden kann, als vielmehr als Wettbewerb der Verwaltung des Wandels.

Ihn aktiv zu gestalten, kommt sozialdemokratischen, christlichsozialen und christdemokratischen Parteien ebenso wenig in den Sinn, wie jenen an den linken und rechten Rändern. Alle blicken sie mit Zuversicht in die Vergangenheit und suchen dort ihr Heil. Womit das Stabilitätsversprechen der autoritären und diktatorischen Regime unerhört attraktiv wird. Es verspricht eine Prolongation des Status quo.

Die Verrenkungen des Herrn Scholz können durchaus als der Versuch verstanden werden, seine SPD zu stabilisieren. Und die veränderungsaversen Teile der deutschen Gesellschaft, die im Modell des Beiseitestehens – wie es einst Kanzler Kohl per Scheckheft praktiziert hat – die Ultima Ratio erkennen, nicht zu verschrecken. Nun führt der wilde Ausdruckstanz zur Beschwörung der Stabilität, wie ihn Scholz zum Besten gibt, nicht zum Ziel. Es gerät vielmehr immer mehr, immer schneller ins Rutschen, auf allen Ebenen und in allen Beziehungen. Es ist an der Zeit, einfürallemal zu erkennen, dass mit Putins Russland und mit Irans klerikalem Regime keine Stabilität zu erreichen ist. Selbst wenn die Erkenntnis schmerzt. (fksk, 22.01.23)

Woche 02 – Mehr Debatte wagen

Rund vier Monate schon tobt die Schlacht um Bakhmut. Die Söldnertruppe Wagner verkündet, sie hätte die Ortschaft Soledar erobert, die ukrainische Armee widerspricht. Sicher ist nur, dass die Kämpfe unvermindert anhalten und die russische Armee in dieser Region unter gewaltigem Blutzoll langsam voranrückt. Ob es dem Kreml zu langsam geht, ob General Surovikin (aka General Armageddon) zu wenig Erfolge im Sinne von Eroberungen vorzuweisen hat, aus welchen Gründen auch immer, als Befehlshaber der russischen Truppen in der Ukraine ist er abgelöst und durch General Gerassimov, den Chef des russischen Generalstabs, ersetzt worden. Russlandexperte Mangott kommentiert diesen Schritt mit den Worten, es ersetze der unfähige den fähigen General. Auf Rochaden setzt auch das klerikale Regime in Teheran und greift unter seinen Kommandanten der Polizei auf absolute Hardliner zurück und lässt selbst ehemalige Regierungsmitglieder aus dem Lager der „Moderaten“ hinrichten. Ob das die Revolution noch zu bremsen vermag, ist fraglich. Schon ist aus den Reihen des Regimes selbst die Einschätzung zu hören, dass im Lauf der kommenden drei Monate die Revolution siegreich und die Islamische Republik Geschichte sein werde.

© Parlamentsdirektion/Ulrike Wieser

Unterdessen wird in Wien das von Grund auf sanierte Parlamentsgebäude wieder bezogen und in Betrieb genommen. Anlass genug für festliche Akte, Führungen durch das Haus, offene Tage und Programmschwerpunkte des ORF. Auf seinem dritten Kanal wird der „Baumeister der Republik“ gedacht, der Herren Leopold Figl und Julius Raab, Bruno Kreisky und Franz Vranitzky sowie der Nationalratspräsidentin Barbara Prammer. Nun mag es durchaus angehen, sich mit der Geschichte der Republik und ihrer Menschen auseinanderzusetzen. Allein, diese Programmierung lässt das Fehlen zukunftszugewandter Diskussionen umso schmerzlicher missen.

Es ist das Parlament im Idealfall jener Ort, an dem die großen und kleinen Themen verhandelt werden, in dem letztlich die Standortbestimmung, die Selbstvergewisserung einer demokratischen Gesellschaft stattfindet. Das Parlament als Institution ist dazu bereit. Das spiegelt sich in seiner Öffnung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, sei es, weil es nun tatsächlich zugänglicher wird, gleichsam eingebunden in das Leben der Stadt, oder sei es, weil es seine Präsenz im Web radikal neu und bedienerfreundlich gestaltet. Es öffnet zudem seine Bibliothek, es ermöglicht den Bürgerinnen und Bürgern der Republik, von ganz oben, mit bestem Blick, den Plenarsitzungen zu folgen. Es verbindet seine Anfänge als europäisches Protoparlament, damals als Reichsrat mit mehr als 500 Abgeordeneten aus allen Kronländern, insgesamt acht Nationen, mit dem neuen Selbstbewusstsein der wiedererstandenen Republik nach 1945 bis heute, da es das Hohe Haus einer durch und durch diversen Gesellschaft ist. Es erzählt Geschichte, ohne museal zu sein. In gewisser Weise handelt es sich bei dem Gebäude um einen der zugänglichsten und gleichzeitig interessantesten Orte Österreichs. Und um einen der wesentlichsten.

Das ließe sich nutzen, Diskussionen und Debatten zu eröffnen und voranzutreiben, die die Zukunft betreffen und die das Selbstbild Österreichs zu fassen suchen. Mit Diskussionen im Parlament, im Fernsehen, im Radio, in den Medien, auf Bühnen und auf Plätzen, ja, auch auf Skipisten und natürlich „im Netz“. Also dort, wo ohnehin geredet, gesprochen, geschimpft, gestritten und polemisiert wird, jeden Tag und ununterbrochen. Zusehends aber ohne miteinander in Kontakt zu treten, als vielmehr nebeneinander den jeweils eigenen Standpunkt nachgerade dogmatisch zu vertreten und beleidigt, empört oder auch wutentbrannt alle anderen Sichtweisen als die eigene von sich zu weisen. Wir leben in einer Zeit, in der auf allen verfügbaren Kanälen so viel an Meinung geäußert wird wie selten zuvor.

Es kehren National- und Bundesrat zu einem Zeitpunkt in das Parlamentsgebäude am Ring zurück, zu dem die Serie der „Baumeister“ (vielleicht mit Ausnahme des Portraits von Barbara Prammer) nicht mehr Land und Leute spiegelt. Es sind im besten Sinne historische Rückblicke, Aufnahmen aus einem anderen Österreich, nach dem sich viel sehnen, als alles einfacher schien, übersichtlicher, nicht so komplex. Es ist wohlfeile Nostalgie.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Krieg in der Ukraine, Klimakrise überall, Migration und Identitätsdebatten. Von den Alltagsproblemen wie Inflation, Perspektivlosigkeit und dem Verlust des Gewohnten gar nicht erst zu reden. Tatsache ist, die österreichische Gesellschaft ist, wie die gesamte westeuropäische, im Kern verunsichert. Still und leise, schleichend ist der Konsens der Nachkriegsgesellschaft abhandengekommen oder wurde schlicht und einfach aufgekündigt. Weswegen es die Debatte, den Diskurs so dringend braucht wie selten zuvor.

Das wäre ein dem Wiederbezug des Parlaments würdiges Rahmenprogramm, Diskussionen, die ihren Teilnehmern vor allem abverlangen, zuzuhören und zu reflektieren. Debatten, die über die Tagespolitik hinausreichen, die von mehr Menschen geführt werden als von den üblichen Verdächtigen. Ein Diskurs, der sich als Zumutung definiert, weil er das Denken anregt, gegen die Dogmen anstürmt, die uns in unserer Gesamtheit als Gesellschaft starr haben werden lassen. Eine Auseinandersetzung, die in die Tiefe geht und bei der jene, die sie moderieren, darauf zu achten haben, dass alle Beteiligten sich an die Regeln der Debatte halten. Dabei kann, dabei soll alles verhandelt werden.

Im besten Fall gelangen Land und Leute, die Republik und ihre Menschen auf diesem Weg zu einem neuen Konsens darüber, was sie an Grundsätzen und Werten miteinander verbindet. Auch wenn sich dieses Ergebnis so schnell nicht einstellen will, kann die Debattenkultur in Österreich dadurch nur gewinnen – was für sich genommen schon ein grandioses Ergebnis wäre. (fksk, 15.01.23)

Woche 01 – Was wir nicht sehen

Bereits über zehneinhalb Monate und unvermindert geht der Krieg in der Ukraine, seit Wochen und ohne Unterlass tobt die Schlacht um Bakhmut. Der ukrainische Geheimdienst will erfahren haben, dass Russland im Frühjahr zusätzlich 500.000 Mann mobilisieren wird. Noch mehr Menschen, die gegen die ukrainischen Linien und in den Tod geschickt werden. Auf Menschenmaterial kann die Ukraine nicht zurückgreifen, sie wird, nach langem Drängen, nun von den USA, Frankreich und Deutschland endlich mit leichten Panzern unterstützt. Um den russischen Nachschub an Drohnen zu erschweren, verhängen die Vereinigten Staaten zudem zusätzliche Sanktionen gegen Iran. Dort macht sich das Regime daran, mehr und mehr Todesurteile gegen Oppositionelle zu vollstrecken. Die Revolution hält an.

© Mostafa Meraji/unsplash.com

In Wien, genauer von Wien aus, informiert Shoura Hashemi die deutschsprachige Twitterwelt seit Beginn der Proteste und Demonstrationen in Iran über die Lage im Land. Sie nennt die Namen der Opfer, sie nennt die Namen der Täter, sie erklärt Zusammenhänge, sie erklärt, wo man wie helfen und unterstützen kann, sie sorgt gemeinsam mit anderen – etwa den Journalistinnen Gilda Sahebi, Natalie Amiri und Düzen Tekkal – dafür, dass die iranische Revolution vom Krieg in der Ukraine nicht gänzlich verdrängt wird. Oder von europäischer Realpolitik, die immer noch auf ein neues oder wiederbelebtes Atomabkommen mit dem Regime in Teheran hofft, die also immer noch zögert und zaudert in ihrer Haltung gegenüber der Herrschaft der Mullahs. Während manche Stimmen hinter den ungebrochenen Protesten wiederum nur US-amerikanisches Ränkespiel wähnen und um Verständnis und Wertschätzung für die Kultur der iranischen Ayatollahs werben.

Woher, so fragte Shoura Hashemi vor kurzem in einem Tweet, woher rühren die laufenden Fehleinschätzungen, das Nichtwissen in Sachen Iran? Wie kann es sein, dass in Funk, Fernsehen und Print immer noch regimenahe Proponenten als Experten zu ihrer Einschätzung der Lage gefragt werden? Warum nur weiß man in Europa so gar nichts über die Islamische Republik, über die Verhältnisse, ihre Verfasstheit? Es mangelt, meint Hashemi, am prinzipiellen Verständnis des Landes, es mangelt an Sprachkenntnissen, es mangelt an Informationsquellen, die nicht vom Regime aufgebaut und etabliert wurden.

Es mangelt an all dem, es mangelt auch und vor allem an versierten Auslandskorrespondenten.

Die mediale Berichterstattung über die Revolution in Iran steht exemplarisch für den Blick Europas auf die Welt, der ein höchst eingetrübter, zusehends oberflächlicher Blick wird, geworden ist; sie steht exemplarisch für die tiefe Krise, in der sich die Medienlandschaft nicht nur Europas gegenwärtig befindet. Ausgerechnet in einer Zeit, in der dank der Digitalisierung und der immer engeren Verflechtung der Welt prinzipiell mehr Wissen denn je zur Verfügung steht, sehen sich Zeitungen und Magazine ebenso wie Radio- und Fernsehstationen einem Kampf um ihre Relevanz gegenüber.

Um die Verhältnisse und das Geschehen in anderen Ländern zu erklären, dazu braucht es Korrespondenten vor Ort. Menschen, die über Jahre in einer Region leben, die Geschichte, Verhältnisse, Bündnisse, Proponenten und Kultur und Alltagsleben kennen. Und die auf dieser Basis in der Lage sind, ihrem Publikum fundiert das Geschehen in eben dieser Region zu erklären. Korrespondenten wie Karim El-Gawhary, der von Kairo aus für Die Presse ebenso wie für den ORF, die taz oder die Hannoversche Allgemeine Zeitung arbeitet. Eine Seltenheit, mittlerweile.

Allein, Verlage und Medienhäuser verfolgen seit Jahren einen Sparkurs. Redaktionen werden tendenziell kleiner, immer mehr Aufgaben werden auf immer weniger Redakteure verteilt, immer mehr Aufgaben werden an (günstigere) Freie ausgelagert, produziert wird, was man sich leisten kann. Die intensive Auslandsberichterstattung zählt nicht dazu. Allenfalls greift man anlassbezogen auf rasch eingeflogene Sonderkorrespondenten zurück. Seit Jahren geht die Zahl der fest angestellten Korrespondenten zurück. Und seit Jahren geht die Zahl der Korrespondenten in den Städten und Regionen abseits der großen Themen zurück. New York, Washington, London, Moskau und Bejing werden nach wie vor besetzt. Kampala, Lagos, Bogota und La Paz werden im besten Fall von irgendwo her mitbetreut. Im Jänner 2022 präsentierte die deutsche Otto Brenner Stiftung dazu ein Arbeitspapier von Marc Engelhardt mit dem Titel „Das Verblassen der Welt“. Darin legt der freiberufliche Korrespondent und Mitglied des Netzwerks „weltreporter“ anhand der Beispiele Afghanistan, Syrien, Mali und der Wahl von Donald Trump dar, wie eingeengt unsere Wahrnehmung inzwischen ist. Und welche Missverständnisse, welche fatalen Fehlkalkulationen daraus erwachsen.

Das iranische Regime wurde und wird nach wie vor als potenzieller Partner betrachtet. Als ein Regime, in dem einander moderate Reformer und Konservative gegenüberstehen und um Einfluss ringen. Das klingt, in europäischen Ohren und aus der Distanz, hinnehmbar, nicht weiter schlimm. Das klingt umso weniger schlimm, als es in Iran an versierten Korrespondenten fehlt, die – geschützt und gestützt durch den Einfluss ihrer Auftraggeber – recherchieren und berichten können. Also assoziiert man mit den Wahlen zum Parlament der Islamischen Republik einen irgendwie latent demokratischen Vorgang. Dass dabei nur vom Wächterrat ausgewählte Kandidaten antreten dürfen, wird als lokale, kulturelle, religiös motivierte Eigenart hingenommen, tolerierbar, da es doch die Reformer gibt, die dem Westen ihr freundliches Gesicht zeigen.

Das geht, weil man nicht weiß, was hinter dem freundlichen Gesicht passiert. Weil man vielleicht auch gar nicht wissen will, was sich hinter dem freundlichen Gesicht verbirgt. Weil man es, mangels Korrespondenten, auch gar nicht wissen kann. Und wer nichts weiß, muss alles glauben.

Das ist bisweilen höchst bequem.

Auf lange Sicht ist es fatal und fast ausnahmslos mit einem bösen Erwachen – „Wer hätte das gedacht!“ – verbunden.

Marc Engelhardt stellt in seinem Arbeitspapier nicht die eine, große Lösung vor, die unseren Blick rasch und vor allem fundiert wieder weitet. Er stellt aber einige Überlegungen an, wie mithilfe von Netzwerken, einem Bewusstsein für die Bedeutung der Auslandsberichterstattung, ihrer gezielten Förderung und dem unbedingten Einstehen der europäischen Regierungen für Pressefreiheit der Horizont wieder erweitert werden kann. Damit wäre zudem eine Basis geschaffen, der Krise der traditionellen Medien entgegenzuwirken.

Einstweilen sorgen Shoura Hashemi, Gilda Sahebi, Natalie Amiri und Düzen Tekkal täglich dafür, unseren Blick zu schärfen. (fksk, 08.01.23)

Woche 52 – Resilienz, Resistenz und Revolution

Woche 46 des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, von einer Winterpause ist weit und breit nichts zu sehen. Die Schlacht um Bakhmut dauert unvermindert heftig an, Russland intensiviert seine Raketen- und Bombenangriffe auf zivile Strukturen der Ukraine und in Deutschland sinniert derweil der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel über die moralische Pflicht des Angegriffenen Verhandlungen anzustreben.

Freiheitsdenkmal in Riga, Lettland © fksk

Des Juristen Überlegungen spiegeln zwar nicht die Mehrheitsmeinung in Deutschland, gleichwohl geben sie die anhaltende Unsicherheit Deutschlands und des Westens wieder, mit der neuen Weltlage mitten in Europa umzugehen. Wenngleich man sich nach zehn Monaten des russischen Vernichtungskriegs, nach zehn Monaten dokumentierter Verschleppungen, Morde, Vergewaltigungen und Folter, nach zehn Monaten Raub von Weizen und Kunst und zehn Monaten der Drohungen mit Nuklearschlägen, nicht mehr darüber unsicher sein sollte, wer in diesem Krieg uneingeschränkte Solidarität und Unterstützung verdient. Das freilich geht dem Eingeständnis einher, dass nichts mehr so sein wird, wie es die letzten 20, 30 Jahre bequemerweise war.

2022 markiert das Ende der langen europäischen Nachkriegszeit und den Beginn einer Zeit der Konfrontation und dicht an dicht gedrängter existenzieller Herausforderungen. Dabei zeichnen sich ausgerechnet im abgelaufenen Jahr drei Entwicklungen ab, die Mut machen:

Entgegen aller Erwartung erweisen sich die europäische Gesellschaft und Wirtschaft als widerstands- und anpassungsfähig. Die Verringerung der Abhängigkeit von russischem Gas und Erdöl geht rascher und mit geringeren wirtschaftlichen Einbußen vor sich, als prognostiziert. Unter Druck ist tiefgreifender Wandel möglich.

Zu dieser grundlegenden Resilienz gesellt sich sich die erfolgreiche Resistenz der Ukraine. Entgegen aller Erwartung war und ist das Land in der Lage, der russischen Invasion militärisch und gesellschaftlich zu widerstehen. Dem Hegemoniestreben Russlands über Europa sind damit erstmals Grenzen gesetzt worden. Und, entgegen aller Erwartung lassen sich die Iranerinnen und Iraner in ihrem Widerstand gegen das klerikale Regime nicht länger einschüchtern. Nach beinahe 45 Jahren stehen das Land und seine Menschen wieder vor einer Revolution, die, wenn sie denn erfolgreich ist, die Verhältnisse im Nahen Osten und darüber hinaus zum Tanzen bringen kann.

Dem in den letzten Jahren vielfach angestimmten Abgesang auf das Modell des demokratisch verfassten Westen stehen diese drei Faktoren des Jahres 2022 – Resilienz, Resistenz und Revolution – entgegen. Wofür in Iran und in der Ukraine Menschen kämpfen und mit ihrem Leben einstehen, das sind universelle Grund- und Menschenrechte, das sind Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit, Rechtstaatlichkeit und das Grundrecht auf politische Teilhabe, sprich Demokratie. Insofern rechtfertigt ausgerechnet 2022 einen optimistischen Blick in die Zukunft – wenn Europa denn bereit ist, konsequent für seine eigenen Grundwerte und Grundrechte einzustehen, nach innen wie nach außen. (fksk, 30.12.22)