Shoura Hashemi

Woche 01 – Was wir nicht sehen

Bereits über zehneinhalb Monate und unvermindert geht der Krieg in der Ukraine, seit Wochen und ohne Unterlass tobt die Schlacht um Bakhmut. Der ukrainische Geheimdienst will erfahren haben, dass Russland im Frühjahr zusätzlich 500.000 Mann mobilisieren wird. Noch mehr Menschen, die gegen die ukrainischen Linien und in den Tod geschickt werden. Auf Menschenmaterial kann die Ukraine nicht zurückgreifen, sie wird, nach langem Drängen, nun von den USA, Frankreich und Deutschland endlich mit leichten Panzern unterstützt. Um den russischen Nachschub an Drohnen zu erschweren, verhängen die Vereinigten Staaten zudem zusätzliche Sanktionen gegen Iran. Dort macht sich das Regime daran, mehr und mehr Todesurteile gegen Oppositionelle zu vollstrecken. Die Revolution hält an.

© Mostafa Meraji/unsplash.com

In Wien, genauer von Wien aus, informiert Shoura Hashemi die deutschsprachige Twitterwelt seit Beginn der Proteste und Demonstrationen in Iran über die Lage im Land. Sie nennt die Namen der Opfer, sie nennt die Namen der Täter, sie erklärt Zusammenhänge, sie erklärt, wo man wie helfen und unterstützen kann, sie sorgt gemeinsam mit anderen – etwa den Journalistinnen Gilda Sahebi, Natalie Amiri und Düzen Tekkal – dafür, dass die iranische Revolution vom Krieg in der Ukraine nicht gänzlich verdrängt wird. Oder von europäischer Realpolitik, die immer noch auf ein neues oder wiederbelebtes Atomabkommen mit dem Regime in Teheran hofft, die also immer noch zögert und zaudert in ihrer Haltung gegenüber der Herrschaft der Mullahs. Während manche Stimmen hinter den ungebrochenen Protesten wiederum nur US-amerikanisches Ränkespiel wähnen und um Verständnis und Wertschätzung für die Kultur der iranischen Ayatollahs werben.

Woher, so fragte Shoura Hashemi vor kurzem in einem Tweet, woher rühren die laufenden Fehleinschätzungen, das Nichtwissen in Sachen Iran? Wie kann es sein, dass in Funk, Fernsehen und Print immer noch regimenahe Proponenten als Experten zu ihrer Einschätzung der Lage gefragt werden? Warum nur weiß man in Europa so gar nichts über die Islamische Republik, über die Verhältnisse, ihre Verfasstheit? Es mangelt, meint Hashemi, am prinzipiellen Verständnis des Landes, es mangelt an Sprachkenntnissen, es mangelt an Informationsquellen, die nicht vom Regime aufgebaut und etabliert wurden.

Es mangelt an all dem, es mangelt auch und vor allem an versierten Auslandskorrespondenten.

Die mediale Berichterstattung über die Revolution in Iran steht exemplarisch für den Blick Europas auf die Welt, der ein höchst eingetrübter, zusehends oberflächlicher Blick wird, geworden ist; sie steht exemplarisch für die tiefe Krise, in der sich die Medienlandschaft nicht nur Europas gegenwärtig befindet. Ausgerechnet in einer Zeit, in der dank der Digitalisierung und der immer engeren Verflechtung der Welt prinzipiell mehr Wissen denn je zur Verfügung steht, sehen sich Zeitungen und Magazine ebenso wie Radio- und Fernsehstationen einem Kampf um ihre Relevanz gegenüber.

Um die Verhältnisse und das Geschehen in anderen Ländern zu erklären, dazu braucht es Korrespondenten vor Ort. Menschen, die über Jahre in einer Region leben, die Geschichte, Verhältnisse, Bündnisse, Proponenten und Kultur und Alltagsleben kennen. Und die auf dieser Basis in der Lage sind, ihrem Publikum fundiert das Geschehen in eben dieser Region zu erklären. Korrespondenten wie Karim El-Gawhary, der von Kairo aus für Die Presse ebenso wie für den ORF, die taz oder die Hannoversche Allgemeine Zeitung arbeitet. Eine Seltenheit, mittlerweile.

Allein, Verlage und Medienhäuser verfolgen seit Jahren einen Sparkurs. Redaktionen werden tendenziell kleiner, immer mehr Aufgaben werden auf immer weniger Redakteure verteilt, immer mehr Aufgaben werden an (günstigere) Freie ausgelagert, produziert wird, was man sich leisten kann. Die intensive Auslandsberichterstattung zählt nicht dazu. Allenfalls greift man anlassbezogen auf rasch eingeflogene Sonderkorrespondenten zurück. Seit Jahren geht die Zahl der fest angestellten Korrespondenten zurück. Und seit Jahren geht die Zahl der Korrespondenten in den Städten und Regionen abseits der großen Themen zurück. New York, Washington, London, Moskau und Bejing werden nach wie vor besetzt. Kampala, Lagos, Bogota und La Paz werden im besten Fall von irgendwo her mitbetreut. Im Jänner 2022 präsentierte die deutsche Otto Brenner Stiftung dazu ein Arbeitspapier von Marc Engelhardt mit dem Titel „Das Verblassen der Welt“. Darin legt der freiberufliche Korrespondent und Mitglied des Netzwerks „weltreporter“ anhand der Beispiele Afghanistan, Syrien, Mali und der Wahl von Donald Trump dar, wie eingeengt unsere Wahrnehmung inzwischen ist. Und welche Missverständnisse, welche fatalen Fehlkalkulationen daraus erwachsen.

Das iranische Regime wurde und wird nach wie vor als potenzieller Partner betrachtet. Als ein Regime, in dem einander moderate Reformer und Konservative gegenüberstehen und um Einfluss ringen. Das klingt, in europäischen Ohren und aus der Distanz, hinnehmbar, nicht weiter schlimm. Das klingt umso weniger schlimm, als es in Iran an versierten Korrespondenten fehlt, die – geschützt und gestützt durch den Einfluss ihrer Auftraggeber – recherchieren und berichten können. Also assoziiert man mit den Wahlen zum Parlament der Islamischen Republik einen irgendwie latent demokratischen Vorgang. Dass dabei nur vom Wächterrat ausgewählte Kandidaten antreten dürfen, wird als lokale, kulturelle, religiös motivierte Eigenart hingenommen, tolerierbar, da es doch die Reformer gibt, die dem Westen ihr freundliches Gesicht zeigen.

Das geht, weil man nicht weiß, was hinter dem freundlichen Gesicht passiert. Weil man vielleicht auch gar nicht wissen will, was sich hinter dem freundlichen Gesicht verbirgt. Weil man es, mangels Korrespondenten, auch gar nicht wissen kann. Und wer nichts weiß, muss alles glauben.

Das ist bisweilen höchst bequem.

Auf lange Sicht ist es fatal und fast ausnahmslos mit einem bösen Erwachen – „Wer hätte das gedacht!“ – verbunden.

Marc Engelhardt stellt in seinem Arbeitspapier nicht die eine, große Lösung vor, die unseren Blick rasch und vor allem fundiert wieder weitet. Er stellt aber einige Überlegungen an, wie mithilfe von Netzwerken, einem Bewusstsein für die Bedeutung der Auslandsberichterstattung, ihrer gezielten Förderung und dem unbedingten Einstehen der europäischen Regierungen für Pressefreiheit der Horizont wieder erweitert werden kann. Damit wäre zudem eine Basis geschaffen, der Krise der traditionellen Medien entgegenzuwirken.

Einstweilen sorgen Shoura Hashemi, Gilda Sahebi, Natalie Amiri und Düzen Tekkal täglich dafür, unseren Blick zu schärfen. (fksk, 08.01.23)