Deutschland

Woche 08 – Russlands Krieg, Europas Neubeginn

Woche 52. US-Präsident Biden besucht Kiyv. Putin besucht ein Stadion in Moskau. In Wien beruft Neos zum Jahrestag Russlands Invasion eine Sondersitzung des Nationalrats ein. In Berlin demonstrieren 15.000 mit Wagenknecht und Schwarzer vor dem Brandenburger Tor gegen Waffenlieferungen an die Verteidiger der freien Ukraine. Eine Woche zuvor hat Ungarns Premier Orban in seiner Rede an die Nation Wagenknecht und Schwarzer inhaltlich vorweggenommen.

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Der 24. Februar 2022 bezeichnet ein einschneidendes Datum in der europäischen Geschichte. Das, wovor man die Augen geschlossen hat, wovon man hoffte, es würde einfach nicht eintreten, ist Realität geworden: Krieg mitten in Europa. Krieg zu Wiedererrichtung eines Imperiums. Krieg gegen die internationale Rechtsordnung, gegen die europäische Friedensordnung, gegen das Völkerrecht.

In der Ukraine bedeutet das ganz konkret Vergewaltigungen, Massaker, Folter und Brandschatzung durch russische Soldaten, den organisierten Raub von Kindern, Getreide und Kulturgütern, die Zerstörung aller Hinweise auf ukrainisches Geistesleben. Es ist ein Vernichtungskrieg, der da vor den Augen der Weltöffentlichkeit gegen die Ukraine geführt wird.

Es ist aber auch die Weltöffentlichkeit, die nicht so reagiert, wie die russische Führung rund um Putin das gedacht haben muss. Der Angriff am 24. Februar und der erfolgreiche Widerstand der Ukrainer bedingt ein Umdenken. Von einer Zeitenwende spricht Deutschlands Kanzler Scholz wenige Tage nach Beginn der Invasion. Inzwischen ist Deutschland nach den USA und Großbritannien der drittgrößte Lieferant von Waffen und Waffensystemen an die ukrainische Armee. Wobei fast jeder Lieferung, jeder Festlegung eine schmerzhaft lange Debatte in Deutschland vorausgeht. Die Zeitenwende ist ein langwieriger Prozess, mit einem klaren Ost-West-Gefälle.

Da sind Estland, Lettland und Litauen sowie Polen, die seit Jahr und Tag vor russischen Expansionsgelüsten gewarnt haben – und vom Rest der Europäer im besten Fall als etwas lästig empfunden wurden. Da sind die Länder ganz im Westen wie Frankreich, Spanien und Portugal, denen der Krieg immer noch ferner erscheint als ihren östlichen Nachbarn. Und da sind dann auch noch Länder die Länder in der Mitte, etwa Deutschland, Österreich und Ungarn, die jedes für sich eine spezielle Rolle spielen, die jedes auf seine Art tiefer in diesen Krieg verstrickt sind als gemeinhin sichtbar.

Zum Beispiel Deutschland. Die geopolitische Verflechtung mit Russland reicht weit zurück. Vor genau 101 Jahren führt die Rolle beider Staaten als Außenseiter im europäischen Konzert zum Pakt von Rapallo, der auf wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit hin abzielt. Die junge Sowjetunion wird zum Handelspartner Europas potenziell stärkster Volkswirtschaft. Deutschland wiederum kann im Osten, fernab der Augen Frankreichs und Großbritanniens, seine Truppen ausbilden und mit Waffensystemen vertraut machen, die ihm verboten sind. Nur 17 Jahre später schließen Hitlerdeutschland und Stalinrussland jenen Pakt, der den Zweiten Weltkrieg einläutet, Polen einmal mehr teilt und der Vernichtung durch beide Regime freigibt. Bis Nazideutschland die Sowjetunion überfällt und das heutige Belarus, das Baltikum, die Ukraine sowie die westlichen Regionen Russlands in europäische Killing Fields verwandelt. Wobei die Kumpanei der beiden Regime bis zum Schluss über ihre Gegnerschaft triumphiert. Den Warschauer Aufstand 1944 schlägt die Wehrmacht ungestört von der Roten Armee nieder, die nur kurz vor der polnischen Hauptstadt haltgemacht hat – und darauf wartet, dass die Deutschen ihr Geschäft besorgen, die Vernichtung des polnischen Widerstands. Partner in crime.

Nein, das ist nicht die Basis, auf der das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau heute maßgeblich aufbaut. Aber diese unausgesprochene, subkutane Ebene spielt immer noch in das besondere Verhältnis zwischen Deutschland und Russland hinein und erklärt wenigstens zum Teil das deutsche Streben, die russischen Bedürfnisse und Befindlichkeiten über jene seiner östlichen Nachbarn zu stellen. Ziehen Wagenknecht und Schwarzer mit dem ehemaligen General Vad und dem einstigen Star der deutschen Sozialdemokratie, Lafontaine, vor das Brandenburger Tor, dann manifestiert sich in ihnen dieses Element, das niemals gegen, dafür immer mit Russland arbeiten will. Eine krude Mischung aus rückwärtsgewandtem Romantizismus und Verehrung brutal zur Schau gestellter Macht.

Zum Beispiel Österreich. Bei jenem demaskierenden Auftritt der Herren Fischer und Leitl mit Putin im Festsaal der Wiener Wirtschaftskammer 2014, ist es Leitl der mit Blick auf die Ukraine darauf hinweist, dass 100 Jahre zuvor Lemberg/Lviv als Teil des Kronlandes Galizien eine altösterreichische Metropole war. Putin gluckst und meint, er fürchte sich, vor dem was da nun kommen mag, woraufhin Fischer ihm lachend die Schultern streichelt – unter uns alten Imperien, so kann die Geste gelesen werden, ist ein wenig Spaß erlaubt. Verständnis für imperiale Nostalgie aber ist garantiert.

Denn es verbindet die kleine Republik ein seltsames Verhältnis zur dem einstigen habsburgischen Österreich. Gerne schmückt man sich mit allerlei k.k-Glitter, mit Lipizzanern, Sisi-Kitsch und monarchischem Gepränge. Dem Rest schenkt man weniger Aufmerksamkeit, dem vielsprachigen Reichsrat, der multinationalen Armee, dem Bemühen, das europäische Vielvölkerreich entgegen aller seiner internen Konflikte in das 20. Jahrhundert zu führen (ein Versuch, der damals an Borniertheit und althergebrachten Ehrvorstellungen scheiterte). Nichts schmeichelt der Seele Kleinösterreichs mehr, als wenn man ihr imperiale Größe und Weltgeltung bescheinigt. In der Musik. Im Theater. In Kunst, Kultur und Skifahren. Es kennt die kleine Republik den Phantomschmerz eines verschwundenen Imperiums. Und es war wieder und wieder Putins Russland, das es verstanden hat, diesen speziellen Ton zu treffen, der österreichische Kanzler (als die einzigen EU-Vertreter) zum Wirtschaftsforum in St. Petersburg lockt; der österreichische Außenministerinnen tanzen und knicksen lässt; der das Land einen Hauch einstiger Größe wahrnehmen lässt. Glanz und Gloria in Zuckerguss. Und üppige Geschäfte dazu.

Zum Beispiel Ungarn. Nun wäre Ungarn eigentlich jenes Land, welches historisch am wenigsten mit Russland verbindet, wenigstens nicht im Positiven. Da bittet der junge Kaiser seinen Partner den Zaren vor 175 Jahren um Truppen, die ungarische Revolution niederzuschlagen. Da kommen die russischen Truppen 1956 wieder und schlagen wieder eine Revolution nieder. Bis sie ein junger Mann 1989 in einer aufsehenerregenden Rede auffordert, das Land endlich zu verlassen. Der Abzug der Roten Armee ist auch ein Erfolg des jungen Orban, der damit seine politische Karriere startet. Doch wo die Österreicher mit zuckerglasierter Nostalgie auf die Habsburgermonarchie zurückblicken, fühlt Orban den Schmerz des Verlusts. Der Friedensvertrag von Trianon, 1920 nach den Verträgen von Versailles und St. Germain oktroyiert und nicht verhandelt, reduziert Ungarn auf seinen ethnisch homogenen Kern. Dass in allen seinen Nachbarländern ungarische Minderheiten leben, empfindet ein großer Teil der Ungarn bis heute als ungerecht. Die Karten, auf denen Ungarn in den Grenzen von 1918 dargestellt wird, sind weit verbreitet. Sie sind ein politisches Statement. Es ist der Schmerz um die einstige Dominanz, das Gefühl, vom Westen, von aller Welt betrogen worden zu sein und im Grunde genommen alleine zu stehen. Darin versteht Orban Putin und fühlt sich ihm mehr verbunden als den westlichen Werten, die aus seiner Sicht das wahre Ungarn bedrohen. Eine Partnerschaft in Ablehnung.

Es sind indes immer wieder Schockereignisse, die alte Bindungen und Einstellungen in Frage stellen, in ihrer Wirkmacht abschleifen und langsam verschwinden lassen. Der russische Angriff auf die Ukraine bewirkt genau das. In Deutschland, wo der Russlandromantizismus der Realität nicht mehr standhält und die Politik der letzten 20 Jahre gegenüber Moskau einer kritischen Revision unterzogen wird. Wagenknecht und Schwarzer sind nicht die Mehrheit, selbst wenn sie es zu sein behaupten.

In Österreich wiederum ist die Debatte über das Selbstverständnis der Republik und ihrer Neutralität nicht mehr einzufangen, wenngleich Kanzler Nehammer, artig assistiert von der Sozialdemokratin Rendi-Wagner, das versucht. Es sind die liberalen Neos und, etwas zurückhaltender, die Grünen, die unterstützt und begleitet von Initiativen wie unseresicherheit.org und immer vernehmbareren Stimmen aus der Gesellschaft die Ausrichtung der Republik hinterfragen und diskutieren. Das ist tatsächlich neu und im Grunde überfällig.

Indem Russland mit seiner Invasion die geltende Friedensordnung in Europa zu zerstören sucht, hat es eine Dynamik angestoßen, die seine Instrumentarien der subtilen Macht, den Romantizismus, die Nostalgie nach imperialen Glanz, zusehends stumpf werden lässt. Eine Dynamik, die nicht nur in Deutschland und Österreich (über kurz oder lang auch in Ungarn) zu gravierenden Veränderungen im Selbstbild führen wird, die zudem eine geopolitische Neuausrichtung der gesamten Union zur Folge haben wird.

Das war nicht Putins Intention. (fksk. 26.02.23)

Woche 06 – Ein Manifest und Abschiedsgruß

Woche 50 des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Die Wucht der Angriffe auf die ukrainischen Stellungen und Städte nimmt zu. Alles deutet darauf hin, dass die lang erwartete Offensive Russlands begonnen hat. Nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums sind die russischen Verluste mit mehr als 800 Mann pro Tag derzeit so hoch wie nie seit dem Überfall. Wie hoch jene der ukrainischen Seite sind, darüber liegen weder Zahlen noch Schätzungen vor. Söldnerführer Prigoschin betont unterdessen gebetsmühlenartig die Bedeutung der „Menschenmühle Bakhmut“ um die Ukraine „ausbluten“ zu lassen. Russland scheint bereit, dafür jeden Preis auch an eigenen Menschenleben zu zahlen. Unterdessen beginnt in Deutschland die Ausbildung ukrainischer Soldaten am Leoparden, die britische Regierung sichert der Ukraine die Lieferung neuer und reichweitenstärkerer Raketensysteme zu und mittels Videobotschaft rufen Frau Wagenknecht und Frau Schwarzer dazu auf, ihr neues Manifest zu unterzeichnen. Sie befürchten eine Rutschbahn in einen Atomkrieg, fordern Kanzler Scholz auf, den Frieden zu verhandeln und die Panzerlieferungen an die Ukraine zu stoppen.

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Es ist nicht das erste Manifest aus deutschen Landen. Und es ist auch nicht das erste, an dem Frau Schwarzer maßgeblich Anteil hat. Es sind diese Manifeste ein recht deutsche Angelegenheit.

In keinem anderen Land wird der Krieg in der Ukraine so intensiv diskutiert wie in Deutschland. Kaum ein Abend, an dem nicht irgendein Sender das Thema behandelt. Kaum ein Tag, an dem keine Kommentare zum Thema erscheinen. Wo immer Kanzler Scholz auftritt, den Schatten des Krieges wird er nicht los, so wenig wie Außenministerin Baerbock oder Verteidigungsminister Pistorius. Auf jeden Schritt, den Deutschland setzt, folgt sogleich die bange Frage, ob die Bundesrepublik damit direkt und unmittelbar Kriegspartei würde.

Alles das ist, aus der deutschen Geschichte heraus, durchaus zu verstehen (dass diese Debatte in Österreich so gar nicht stattfindet ist in gewisser Weise mindestens so irritierend). Es geht im Kern um die Interpretation der Aussage und des Versprechens „Nie wieder!“.

Bedeutet dieser Schluss, dass Deutschland sich niemals wieder in Kriege involvieren soll? Weder mit Soldaten noch mit Waffenlieferungen? Oder ist in dieser Aussage vielmehr die Aufforderung an Deutschland enthalten, alles zu unternehmen, damit es niemals mehr zur Herrschaft des Unrechts kommt? Mit allen Mitteln?

Seit mehr als 30 Jahren begleitet diese Auseinandersetzung die Berliner Republik. 1999 begründete der damalige Außenminister Fischer den umstrittenen Kosovoeinsatz der Bundeswehr eingedenk der Massaker von Srebrenica und Tuzla (1995) in Bosnien mit eben dieser Verpflichtung aus der deutschen Geschichte. Und gerade dieser Einsatz, der völkerrechtlich durch die Vereinten Nationen nicht gedeckt war, hätte wesentlich zur Klärung beitragen können. Dieses Momentum wurde nicht genutzt. Noch zu Zeiten der Regierung Schröder-Fischer wurde das Thema nicht mehr aufgegriffen, so wenig wie in den langen 16 Jahren der Kanzlerinnenschaft Merkels.

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Feburar 2022 aber steht die Frage wieder unübersehbar im Raum und sorgt für Streit nicht nur in deutschen Wohnzimmern und an deutschen Stammtischen. Den Offenen Briefen und Manifesten kommt dabei als Mittel der Kommunkation und Standortvergewisserung eine wichtige, eine zentrale Rolle zu.

Wenn Schwarzer und Wagenknecht hier nun Verhandlungen und einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine fordern, verweisen sie auf eine drohende Eskalation. Das ist das wiederkehrende Thema in Deutschland. Die Angst, dass Russland darin schon einen kriegerischen Akt sieht, auf den es mit Mitteln des Krieges reagiert. Mit Bomben auf Berlin, so wie sie in russischen TV-Shows immer wieder gefordert werden.

Im Verständnis von Schwarzer und Wagenknecht geht es darum, dem Aggressor keinen Widerstand entgegenzusetzen, oder wenigstens den Widerstand nicht zu unterstützen. Denn, so die beiden Damen, der Aggressor verfolge mit seiner Aggression legitime Ziele. Er stille sein Sicherheitsbedürfnis. Das habe die Ukraine zu akzeptieren und in Form von Territorialverlusten sowie dem Verlust ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit hinzunehmen. Es ist aus ihrer Sicht ein Friede, dessen Last die Ukraine zu tragen habe, besser als ein Andauern des Krieges. Nicht weil daraus ein tragfähiger Frieden entstünde, als einzig und allein des Endes der Kampfhandlungen wegen.

Weil dann der Krieg aus den Wohnzimmern der Deutschen verschwindet. Und mit ihm die tägliche Anklage gegen einen imperialistischen Aggressor namens Russland. Weil damit auch die Frage, wie man es mit dem „Nie wieder“ denn hält, verschwindet.

Es stellt dieser Krieg recht eigentlich die Welt auf den Kopf. Imperialismus, das ist etwas, was – zumal in Deutschland – über Jahrzehnte einzig den USA vorgeworfen wurde. Das Bild der Vereinigten Staaten als perfide Macht, die im Hintergrund die Fäden zieht, die friedliebenden Völker der Welt zu knechten, das sitzt tief in deutschen Landen und Gemütern. Das wurzelt in der NS-Zeit, das wurde in der DDR in Bausch und Bogen übernommen, das wurde in der westdeutschen Friedensbewegung mit Inbrunst vorgetragen.

Und nun ist es Russland, welches das Völkerrecht bricht und missachtet, dessen Soldaten und Söldner raubend, vergewaltigend, mordend und folternd einen Vernichtungskrieg führen und im Auftrag Putins das russische Imperium wiederzuerrichten versuchen. Die Antwort des Westens ist, bei allem Zögern, eindeutig. Es darf dieser Akt der Willkür und Gewalt nicht von Erfolg gekrönt sein.

Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen. Es muss ihn verlieren.

Hier nun kommt die Interpretation Fischers zum „Nie wieder“ zum Tragen. Zusehen und nichts zu tun, ist für Deutschland, ist für den Westen, keine vertretbare Alternative. Dafür stehen in der Bundesrepublik Außenministerin Baerbock, Wirtschaftsminister Habeck, die FDP-Abgeordnete Strack-Zimmermann, Verteidigungsminister Pistorius, der SPD-Abgeordnete Roth und der CDU-Mann Röttgen, um nur einige aus der politischen Klasse zu nennen. Und auch Kanzler Scholz.

Was sie neben ihrer Haltung ebenfalls auszeichnet, ist der Umstand, dass sie durch die Bank jünger sind als Frau Schwarzer. Sieht man von Frau Wagenknecht ab, so sind die Erstunterzeichner durchwegs ältere Jahrgänge. Jene, die von eben dieser Friedensbewegung geprägt wurden, die im Bonner Hofgarten demonstrierten, die US-Stützpunkte mit Sitzblockaden stillzulegen versuchten, die sich mit aller Kraft und aus tiefster Überzeugung gegen den Nato-Doppelbeschluss stellten (den der sozialdemokratische Kanzler Schmidt ersonnen und auf Schiene gesetzt hatte).

Mit diesem Manifest verteidigen sie einmal noch ihr Lebenswerk, ihre BRD-Welt und ihre Sicherheiten. So kann man ihn denn auch lesen, diesen Aufruf, als den verzweifelten Versuch der Alten sich in einer Welt, die sich neu sortiert, zu behaupten. Mit den Ansichten und den Rezepten von gestern. Es ist dieses Manifest ein Abschiedsgruß der Bonner Republik. Direkt aus dem Herzen der miefig-piefigen westdeutschen Provinz. (fksk, 12.02.23)

Woche 20 – Deutschland. Oder: Das, was fehlt

Woche zwölf. Mariupol ist gefallen und in der russischen Staatsduma wollen Abgeordnete den ukrainischen Kriegsgefangenen den Prozess machen. Die „Admiral Makarov“ ist nicht gesunken, noch wurde sie beschädigt. Es ist nach wie vor schwer, Meldungen rasch und unabhängig auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen zu können. Russland setzt zu einer Offensive im Donbass an, die britischen Dienste indes zweifeln an der Offensivkraft der russischen Truppen. Und in Wien findet am 20. Mai der „Time to Decide Europe Summit“ statt – eine eintägige Konferenz, die sich mit den vielen Dilemmata befasst, die dieser Krieg in Europa für Europa mit sich bringt.

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Mithin Fragen, die dringend zu verhandeln sind, als der Krieg in der Ukraine nicht allein die Ukraine und Russland betrifft, vielmehr Europa als Gesamtes und darüber hinaus die ganze Welt. Allein das macht diese Zusammenkunft schon interessant.

Bemerkenswert ist die Dynamik, die sich während dieser Konferenz entfaltet. Als das Thema der Ukraine und ihrer Zukunft besprochen wird, herrschen Empathie und Zuversicht. Die Zukunft Russlands findet in Moll statt. Zwischen diesen beiden Polen werden der Balkan, Zentraleuropa und die Europäische Union diskutiert, analysiert und auch in Frage gestellt. Vor allem Deutschland wird in Frage gestellt, als führende Macht innerhalb der Union, als gestaltendes, initiatives Mitglied der Staatengemeinschaft. Tatsächlich wird an diesem Tag der Rolle Deutschlands in Europa und im Besonderen in seinem Verhältnis zu den ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Staaten mindestens so viel Augenmerk gewidmet, wie der Ukraine und Russland, weil Deutschland fehlt. Da mischt sich ein Hauch von Bitterkeit in die Debatte.

Es ist ein ein erlesenes Podium, welches Boris Marte (Erste Foundation) und Ivan Vejvoda (Institut für die Wissenschaften vom Menschen) da binnen kürzester Zeit organisiert haben und welches nun in einer Halle am Rande des Dritten Wiener Gemeindebezirks zusammenkommt: Ivan Krastev, Heather Grabbe, Florence Gaub, Gerald Knaus, Misha Glenny, Nathalie Tocci, Susanne Scholl, Nikola Dimitrov, Olivia Lazard (von der gesondert noch zu lesen sein wird) und viele mehr. Es ist ein Podium, das aus seiner Expertise und seinen Persönlichkeiten heraus mehrheitlich den ostmitteleuropäischen, südosteuropäischen Blickwinkel repräsentiert.

Die Bitterkeit ist bald schon zu verspüren, als Nikola Dimitrov und Misha Glenny, mit Esprit moderiert von Ivana Dragicevic, die Lehren für den Balkan diskutieren, die da sind, der Europäischen Union jetzt klarzumachen, dass sie diesen geopolitisch ungemein wichtigen Raum nicht länger vernachlässigen darf. Vielmehr mit der Erweiterung Nägel mit Köpfen machen muss.

Der Westbalkan, sagt Misha Glenny, ist der „weiche Bauch Europas“, jene Region, in der Russland ebenso wie China Fuß zu fassen trachten und Fuß fassen. Es ist jene Region, mit der sich die Union schwer tut. Der Konflikte wegen, der langen Kriege wegen, der verworrenen Zustände, und ja, auch das sei so gesagt, der Korruption und mafiösen Verhältnisse ebendort. Dabei, erinnert sich Dimitrov, der als Außenminister und Vizeregierungschef Nordmazedoniens wenigstens eine Zeitlang die Geschicke des Raum mitgestaltete, übt die Union immer noch große Anziehungskraft aus, eine „soft power“, die zur Transformation der westbalkanischen Gesellschaften beiträgt, beitragen kann, beigetragen hat.

Vor allem letzteres, denn die EU tritt auf der Stelle. Aus durchaus eigensüchtigen, aus innenpolitischen Gründen, weil in Frankreich Kommunalwahlen anstehen, weil in Griechenland wie in Bulgarien mittels Nordmazedoniens um Wählerstimmen gebuhlt wird, weil die Union mit ihren „neuen“ Mitgliedern Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien wieder und wieder Rechtsstaats- und Korruptionsprobleme hat, weil man sich das in Brüssel wie in Paris und Berlin, in Den Haag und Luxemburg dann doch gerne ersparen will.

Man kann sagen, das ist Konsens am Podium, dass die Ukraine unbedingt vermeiden muss, mit der „Beitrittsperspektive“ und freundlichen Worten, wonach sie, die Ukraine, zur „europäischen Familie zählt“, abgespeist zu werden.

In Berlin, so Gerald Knaus, gingen die Überlegungen fatal in diese Richtung, um Zeit zu gewinnen. Zeit, wofür auch immer.

Damit betritt Deutschland die Konferenz, als die abwesende Macht, als die abweisende Macht, als die sich ihre Macht nicht bewussten Macht, als verständnislos, desinteressiert am Südosten wie am Osten, gefangen in der eigenen Geschichte, die zugleich als Schutzschild vor den Zumutungen der Gegenwart dienen soll. Die Bundesrepublik als Leerstelle, zögernd, zaudernd, zagend.

Dieses Thema zieht sich durch die folgenden Debatten zu Mitteleuropa und zur Europäischen Union. Beides ist ohne Deutschland nicht denkbar, beiden fehlt Deutschland.

Denn Deutschland muss sich selbst erst finden.

Das ist so banal wie wahr.

Es hat Kanzler Scholz die Zeitenwende proklamiert, mit Leben und Inhalt suchen sie Außenministerin Baerbock und Wirtschaftsminister Habeck zu füllen, vorsichtig sekundiert von Finanzminister Lindner. Der Rest der Republik verwaltet die Zeitenwende nach allen Regeln bürokratischer Kunst zu Tode.

Damit ist Deutschland lange Zeit gut gefahren. Zumal nach der Wiedervereinigung, in der manche, allen voran Frau Thatcher die Wiederkehr des deutschen Problems sah. Wo immer möglich schrieb die deutsche Regierung Schecks aus. Wo es anders nicht mehr ging, wurde und wird die Bundeswehr in Gang gesetzt. Still und leise, verhalten und bitte zivil. Längst schon fordern Polen, die baltischen Republiken, Paris, Rom und Washington Gestaltungswillen in Berlin und auch entsprechendes Engagement, doch Deutschland windet sich.

Wegen der Vergangenheit.

Aber auch der Bequemlichkeit wegen. Und aus Sorge, das, was seit 45 geschaffen und errungen wurde, in Frage zu stellen, ein gerüttelt Maß an Wohlstand und Sympathie in der Welt, Exportmacht und gute Geschäfte. 16 Jahre moderiert Frau Merkel die deutsche und europäische Politik, auf Ausgleich bedacht und darauf, nur kein böses Blut zu wecken, niemanden vor den Kopf zu stoßen, zu allen und jedem Kontakt zu halten, selbst unter schwersten Voraussetzungen. Darin ist sie erfolgreich. Darin wächst sie in der Außenwahrnehmung zu einer dominanten Persönlichkeit der Weltpolitik heran und mit ihr Deutschland.

Dabei umgeht Deutschland damit nur die Frage, wo denn wirklich seine Position im Weltgeschehen ist. Die Antwort darauf ist überfällig. Nicht nur für 80 Millionen Bundesbürger, auch für alle anderen. Herr Scholz schweigt.

Und das Podium in Wien zeigt sich gereizt. Denn wenngleich Deutschland gar nicht Thema ist, so kristallisiert sich rasch heraus, dass alle Initiative, aller Wagemut oder auch alles Kleinbeigeben an Deutschland als der größten Wirtschaftsmacht und, auch wenn Berlin das nicht gerne hören will, politischen Führungsmacht innerhalb der Union hängt.

Dass die Union den Ländern des Westbalkan nach wie vor und nach über 20 Jahren keine reale Beitrittsperspektive bietet – hängt an Deutschland.

Dass unklar ist, ob die Ukrainer in der EU das Privileg der vier Freiheiten behalten werden – hängt an Deutschland.

Dass es an einer konsequent harten, kompromisslosen Sanktionspolitik gegenüber Russland mangelt – hängt an Deutschland.

Dass die Ukraine nach wie vor schwere Waffen entbehrt – hängt an Deutschland.

Dabei wird das alles nicht als Vorwurf formuliert. Es wird als Verlust erlebt. Als Verlust der Möglichkeit, eine starke, gemeinsame europäische Position zu formulieren und zu beziehen. Eine Position, die nicht von amerikanischer Unterstützung abhängt, sondern in sich selbst bestehen kann.

Dazu, als gestaltendes, initiatives Element braucht es in Europa Deutschland. Das Podium in Wien hofft. (fksk, 22.05.22)