Misha Glenny

Woche 20 – Deutschland. Oder: Das, was fehlt

Woche zwölf. Mariupol ist gefallen und in der russischen Staatsduma wollen Abgeordnete den ukrainischen Kriegsgefangenen den Prozess machen. Die „Admiral Makarov“ ist nicht gesunken, noch wurde sie beschädigt. Es ist nach wie vor schwer, Meldungen rasch und unabhängig auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen zu können. Russland setzt zu einer Offensive im Donbass an, die britischen Dienste indes zweifeln an der Offensivkraft der russischen Truppen. Und in Wien findet am 20. Mai der „Time to Decide Europe Summit“ statt – eine eintägige Konferenz, die sich mit den vielen Dilemmata befasst, die dieser Krieg in Europa für Europa mit sich bringt.

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Mithin Fragen, die dringend zu verhandeln sind, als der Krieg in der Ukraine nicht allein die Ukraine und Russland betrifft, vielmehr Europa als Gesamtes und darüber hinaus die ganze Welt. Allein das macht diese Zusammenkunft schon interessant.

Bemerkenswert ist die Dynamik, die sich während dieser Konferenz entfaltet. Als das Thema der Ukraine und ihrer Zukunft besprochen wird, herrschen Empathie und Zuversicht. Die Zukunft Russlands findet in Moll statt. Zwischen diesen beiden Polen werden der Balkan, Zentraleuropa und die Europäische Union diskutiert, analysiert und auch in Frage gestellt. Vor allem Deutschland wird in Frage gestellt, als führende Macht innerhalb der Union, als gestaltendes, initiatives Mitglied der Staatengemeinschaft. Tatsächlich wird an diesem Tag der Rolle Deutschlands in Europa und im Besonderen in seinem Verhältnis zu den ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Staaten mindestens so viel Augenmerk gewidmet, wie der Ukraine und Russland, weil Deutschland fehlt. Da mischt sich ein Hauch von Bitterkeit in die Debatte.

Es ist ein ein erlesenes Podium, welches Boris Marte (Erste Foundation) und Ivan Vejvoda (Institut für die Wissenschaften vom Menschen) da binnen kürzester Zeit organisiert haben und welches nun in einer Halle am Rande des Dritten Wiener Gemeindebezirks zusammenkommt: Ivan Krastev, Heather Grabbe, Florence Gaub, Gerald Knaus, Misha Glenny, Nathalie Tocci, Susanne Scholl, Nikola Dimitrov, Olivia Lazard (von der gesondert noch zu lesen sein wird) und viele mehr. Es ist ein Podium, das aus seiner Expertise und seinen Persönlichkeiten heraus mehrheitlich den ostmitteleuropäischen, südosteuropäischen Blickwinkel repräsentiert.

Die Bitterkeit ist bald schon zu verspüren, als Nikola Dimitrov und Misha Glenny, mit Esprit moderiert von Ivana Dragicevic, die Lehren für den Balkan diskutieren, die da sind, der Europäischen Union jetzt klarzumachen, dass sie diesen geopolitisch ungemein wichtigen Raum nicht länger vernachlässigen darf. Vielmehr mit der Erweiterung Nägel mit Köpfen machen muss.

Der Westbalkan, sagt Misha Glenny, ist der „weiche Bauch Europas“, jene Region, in der Russland ebenso wie China Fuß zu fassen trachten und Fuß fassen. Es ist jene Region, mit der sich die Union schwer tut. Der Konflikte wegen, der langen Kriege wegen, der verworrenen Zustände, und ja, auch das sei so gesagt, der Korruption und mafiösen Verhältnisse ebendort. Dabei, erinnert sich Dimitrov, der als Außenminister und Vizeregierungschef Nordmazedoniens wenigstens eine Zeitlang die Geschicke des Raum mitgestaltete, übt die Union immer noch große Anziehungskraft aus, eine „soft power“, die zur Transformation der westbalkanischen Gesellschaften beiträgt, beitragen kann, beigetragen hat.

Vor allem letzteres, denn die EU tritt auf der Stelle. Aus durchaus eigensüchtigen, aus innenpolitischen Gründen, weil in Frankreich Kommunalwahlen anstehen, weil in Griechenland wie in Bulgarien mittels Nordmazedoniens um Wählerstimmen gebuhlt wird, weil die Union mit ihren „neuen“ Mitgliedern Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien wieder und wieder Rechtsstaats- und Korruptionsprobleme hat, weil man sich das in Brüssel wie in Paris und Berlin, in Den Haag und Luxemburg dann doch gerne ersparen will.

Man kann sagen, das ist Konsens am Podium, dass die Ukraine unbedingt vermeiden muss, mit der „Beitrittsperspektive“ und freundlichen Worten, wonach sie, die Ukraine, zur „europäischen Familie zählt“, abgespeist zu werden.

In Berlin, so Gerald Knaus, gingen die Überlegungen fatal in diese Richtung, um Zeit zu gewinnen. Zeit, wofür auch immer.

Damit betritt Deutschland die Konferenz, als die abwesende Macht, als die abweisende Macht, als die sich ihre Macht nicht bewussten Macht, als verständnislos, desinteressiert am Südosten wie am Osten, gefangen in der eigenen Geschichte, die zugleich als Schutzschild vor den Zumutungen der Gegenwart dienen soll. Die Bundesrepublik als Leerstelle, zögernd, zaudernd, zagend.

Dieses Thema zieht sich durch die folgenden Debatten zu Mitteleuropa und zur Europäischen Union. Beides ist ohne Deutschland nicht denkbar, beiden fehlt Deutschland.

Denn Deutschland muss sich selbst erst finden.

Das ist so banal wie wahr.

Es hat Kanzler Scholz die Zeitenwende proklamiert, mit Leben und Inhalt suchen sie Außenministerin Baerbock und Wirtschaftsminister Habeck zu füllen, vorsichtig sekundiert von Finanzminister Lindner. Der Rest der Republik verwaltet die Zeitenwende nach allen Regeln bürokratischer Kunst zu Tode.

Damit ist Deutschland lange Zeit gut gefahren. Zumal nach der Wiedervereinigung, in der manche, allen voran Frau Thatcher die Wiederkehr des deutschen Problems sah. Wo immer möglich schrieb die deutsche Regierung Schecks aus. Wo es anders nicht mehr ging, wurde und wird die Bundeswehr in Gang gesetzt. Still und leise, verhalten und bitte zivil. Längst schon fordern Polen, die baltischen Republiken, Paris, Rom und Washington Gestaltungswillen in Berlin und auch entsprechendes Engagement, doch Deutschland windet sich.

Wegen der Vergangenheit.

Aber auch der Bequemlichkeit wegen. Und aus Sorge, das, was seit 45 geschaffen und errungen wurde, in Frage zu stellen, ein gerüttelt Maß an Wohlstand und Sympathie in der Welt, Exportmacht und gute Geschäfte. 16 Jahre moderiert Frau Merkel die deutsche und europäische Politik, auf Ausgleich bedacht und darauf, nur kein böses Blut zu wecken, niemanden vor den Kopf zu stoßen, zu allen und jedem Kontakt zu halten, selbst unter schwersten Voraussetzungen. Darin ist sie erfolgreich. Darin wächst sie in der Außenwahrnehmung zu einer dominanten Persönlichkeit der Weltpolitik heran und mit ihr Deutschland.

Dabei umgeht Deutschland damit nur die Frage, wo denn wirklich seine Position im Weltgeschehen ist. Die Antwort darauf ist überfällig. Nicht nur für 80 Millionen Bundesbürger, auch für alle anderen. Herr Scholz schweigt.

Und das Podium in Wien zeigt sich gereizt. Denn wenngleich Deutschland gar nicht Thema ist, so kristallisiert sich rasch heraus, dass alle Initiative, aller Wagemut oder auch alles Kleinbeigeben an Deutschland als der größten Wirtschaftsmacht und, auch wenn Berlin das nicht gerne hören will, politischen Führungsmacht innerhalb der Union hängt.

Dass die Union den Ländern des Westbalkan nach wie vor und nach über 20 Jahren keine reale Beitrittsperspektive bietet – hängt an Deutschland.

Dass unklar ist, ob die Ukrainer in der EU das Privileg der vier Freiheiten behalten werden – hängt an Deutschland.

Dass es an einer konsequent harten, kompromisslosen Sanktionspolitik gegenüber Russland mangelt – hängt an Deutschland.

Dass die Ukraine nach wie vor schwere Waffen entbehrt – hängt an Deutschland.

Dabei wird das alles nicht als Vorwurf formuliert. Es wird als Verlust erlebt. Als Verlust der Möglichkeit, eine starke, gemeinsame europäische Position zu formulieren und zu beziehen. Eine Position, die nicht von amerikanischer Unterstützung abhängt, sondern in sich selbst bestehen kann.

Dazu, als gestaltendes, initiatives Element braucht es in Europa Deutschland. Das Podium in Wien hofft. (fksk, 22.05.22)