Friede

Woche 06 – Ein Manifest und Abschiedsgruß

Woche 50 des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Die Wucht der Angriffe auf die ukrainischen Stellungen und Städte nimmt zu. Alles deutet darauf hin, dass die lang erwartete Offensive Russlands begonnen hat. Nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums sind die russischen Verluste mit mehr als 800 Mann pro Tag derzeit so hoch wie nie seit dem Überfall. Wie hoch jene der ukrainischen Seite sind, darüber liegen weder Zahlen noch Schätzungen vor. Söldnerführer Prigoschin betont unterdessen gebetsmühlenartig die Bedeutung der „Menschenmühle Bakhmut“ um die Ukraine „ausbluten“ zu lassen. Russland scheint bereit, dafür jeden Preis auch an eigenen Menschenleben zu zahlen. Unterdessen beginnt in Deutschland die Ausbildung ukrainischer Soldaten am Leoparden, die britische Regierung sichert der Ukraine die Lieferung neuer und reichweitenstärkerer Raketensysteme zu und mittels Videobotschaft rufen Frau Wagenknecht und Frau Schwarzer dazu auf, ihr neues Manifest zu unterzeichnen. Sie befürchten eine Rutschbahn in einen Atomkrieg, fordern Kanzler Scholz auf, den Frieden zu verhandeln und die Panzerlieferungen an die Ukraine zu stoppen.

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Es ist nicht das erste Manifest aus deutschen Landen. Und es ist auch nicht das erste, an dem Frau Schwarzer maßgeblich Anteil hat. Es sind diese Manifeste ein recht deutsche Angelegenheit.

In keinem anderen Land wird der Krieg in der Ukraine so intensiv diskutiert wie in Deutschland. Kaum ein Abend, an dem nicht irgendein Sender das Thema behandelt. Kaum ein Tag, an dem keine Kommentare zum Thema erscheinen. Wo immer Kanzler Scholz auftritt, den Schatten des Krieges wird er nicht los, so wenig wie Außenministerin Baerbock oder Verteidigungsminister Pistorius. Auf jeden Schritt, den Deutschland setzt, folgt sogleich die bange Frage, ob die Bundesrepublik damit direkt und unmittelbar Kriegspartei würde.

Alles das ist, aus der deutschen Geschichte heraus, durchaus zu verstehen (dass diese Debatte in Österreich so gar nicht stattfindet ist in gewisser Weise mindestens so irritierend). Es geht im Kern um die Interpretation der Aussage und des Versprechens „Nie wieder!“.

Bedeutet dieser Schluss, dass Deutschland sich niemals wieder in Kriege involvieren soll? Weder mit Soldaten noch mit Waffenlieferungen? Oder ist in dieser Aussage vielmehr die Aufforderung an Deutschland enthalten, alles zu unternehmen, damit es niemals mehr zur Herrschaft des Unrechts kommt? Mit allen Mitteln?

Seit mehr als 30 Jahren begleitet diese Auseinandersetzung die Berliner Republik. 1999 begründete der damalige Außenminister Fischer den umstrittenen Kosovoeinsatz der Bundeswehr eingedenk der Massaker von Srebrenica und Tuzla (1995) in Bosnien mit eben dieser Verpflichtung aus der deutschen Geschichte. Und gerade dieser Einsatz, der völkerrechtlich durch die Vereinten Nationen nicht gedeckt war, hätte wesentlich zur Klärung beitragen können. Dieses Momentum wurde nicht genutzt. Noch zu Zeiten der Regierung Schröder-Fischer wurde das Thema nicht mehr aufgegriffen, so wenig wie in den langen 16 Jahren der Kanzlerinnenschaft Merkels.

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Feburar 2022 aber steht die Frage wieder unübersehbar im Raum und sorgt für Streit nicht nur in deutschen Wohnzimmern und an deutschen Stammtischen. Den Offenen Briefen und Manifesten kommt dabei als Mittel der Kommunkation und Standortvergewisserung eine wichtige, eine zentrale Rolle zu.

Wenn Schwarzer und Wagenknecht hier nun Verhandlungen und einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine fordern, verweisen sie auf eine drohende Eskalation. Das ist das wiederkehrende Thema in Deutschland. Die Angst, dass Russland darin schon einen kriegerischen Akt sieht, auf den es mit Mitteln des Krieges reagiert. Mit Bomben auf Berlin, so wie sie in russischen TV-Shows immer wieder gefordert werden.

Im Verständnis von Schwarzer und Wagenknecht geht es darum, dem Aggressor keinen Widerstand entgegenzusetzen, oder wenigstens den Widerstand nicht zu unterstützen. Denn, so die beiden Damen, der Aggressor verfolge mit seiner Aggression legitime Ziele. Er stille sein Sicherheitsbedürfnis. Das habe die Ukraine zu akzeptieren und in Form von Territorialverlusten sowie dem Verlust ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit hinzunehmen. Es ist aus ihrer Sicht ein Friede, dessen Last die Ukraine zu tragen habe, besser als ein Andauern des Krieges. Nicht weil daraus ein tragfähiger Frieden entstünde, als einzig und allein des Endes der Kampfhandlungen wegen.

Weil dann der Krieg aus den Wohnzimmern der Deutschen verschwindet. Und mit ihm die tägliche Anklage gegen einen imperialistischen Aggressor namens Russland. Weil damit auch die Frage, wie man es mit dem „Nie wieder“ denn hält, verschwindet.

Es stellt dieser Krieg recht eigentlich die Welt auf den Kopf. Imperialismus, das ist etwas, was – zumal in Deutschland – über Jahrzehnte einzig den USA vorgeworfen wurde. Das Bild der Vereinigten Staaten als perfide Macht, die im Hintergrund die Fäden zieht, die friedliebenden Völker der Welt zu knechten, das sitzt tief in deutschen Landen und Gemütern. Das wurzelt in der NS-Zeit, das wurde in der DDR in Bausch und Bogen übernommen, das wurde in der westdeutschen Friedensbewegung mit Inbrunst vorgetragen.

Und nun ist es Russland, welches das Völkerrecht bricht und missachtet, dessen Soldaten und Söldner raubend, vergewaltigend, mordend und folternd einen Vernichtungskrieg führen und im Auftrag Putins das russische Imperium wiederzuerrichten versuchen. Die Antwort des Westens ist, bei allem Zögern, eindeutig. Es darf dieser Akt der Willkür und Gewalt nicht von Erfolg gekrönt sein.

Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen. Es muss ihn verlieren.

Hier nun kommt die Interpretation Fischers zum „Nie wieder“ zum Tragen. Zusehen und nichts zu tun, ist für Deutschland, ist für den Westen, keine vertretbare Alternative. Dafür stehen in der Bundesrepublik Außenministerin Baerbock, Wirtschaftsminister Habeck, die FDP-Abgeordnete Strack-Zimmermann, Verteidigungsminister Pistorius, der SPD-Abgeordnete Roth und der CDU-Mann Röttgen, um nur einige aus der politischen Klasse zu nennen. Und auch Kanzler Scholz.

Was sie neben ihrer Haltung ebenfalls auszeichnet, ist der Umstand, dass sie durch die Bank jünger sind als Frau Schwarzer. Sieht man von Frau Wagenknecht ab, so sind die Erstunterzeichner durchwegs ältere Jahrgänge. Jene, die von eben dieser Friedensbewegung geprägt wurden, die im Bonner Hofgarten demonstrierten, die US-Stützpunkte mit Sitzblockaden stillzulegen versuchten, die sich mit aller Kraft und aus tiefster Überzeugung gegen den Nato-Doppelbeschluss stellten (den der sozialdemokratische Kanzler Schmidt ersonnen und auf Schiene gesetzt hatte).

Mit diesem Manifest verteidigen sie einmal noch ihr Lebenswerk, ihre BRD-Welt und ihre Sicherheiten. So kann man ihn denn auch lesen, diesen Aufruf, als den verzweifelten Versuch der Alten sich in einer Welt, die sich neu sortiert, zu behaupten. Mit den Ansichten und den Rezepten von gestern. Es ist dieses Manifest ein Abschiedsgruß der Bonner Republik. Direkt aus dem Herzen der miefig-piefigen westdeutschen Provinz. (fksk, 12.02.23)

Woche 46 – Den Frieden denken

Bald neun Monate dauert der Krieg in der Ukraine bereits an. Kherson ist befreit, die russischen Truppen sind auf breiter Front zurückgedrängt und Russland sucht Sündenböcke für den anhaltenden Misserfolg. Unterdessen gehen täglich Raketenhagel auf ukrainische Städte und Infrastruktur nieder, werden in den besetzten Regionen Menschen entführt, gefoltert und ermordet, werden Kinder geraubt, Museen geplündert, Städte und Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Sollte sich nur die Hälfte der Berichte über die Kriegsverbrechen der russischen Truppen bewahrheiten, so schreit alles nach einem internationalen Tribunal, wenn der Krieg vorüber ist.

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Wenn erst wieder Friede herrscht.

Das ist der Punkt. Wann ist zwischen der Ukraine und Russland Friede möglich und denkbar? Manchen im Westen kann es nicht schnell genug gehen. Sie ventilieren Verhandlungen, urgieren diplomatische Lösungen, drängen zu Kompromissen, fordern Frieden um jeden Preis.

Womit sie Frieden eindimensional denken, als die Abwesenheit unmittelbarer, kriegerischer Gewalt. Allein, Friede ist mehr, weswegen es tatsächlich hoch an der Zeit ist, ihn zu denken, seine Voraussetzungen, vor allem aber seine Gestalt, seine Ausgestaltung zu debattieren.

2022 feiert das Austrian Center für Peace, einst bekannt als Österreichisches Friedenszentrum in Schlaining, seinen 40. Geburtstag. Ein seltsam passendes Jahr für das Jubiläum einer Institution, die sich der Forschung und Förderung des Friedens verschrieben hat. Einer Institution, die sich aus dem Kalten Krieg in unsere Tage herübergerettet hat und seit geraumer Zeit schon den Blick geweitet hat, um globale Entwicklungen zu behandeln, erfassen und zu analysieren. Und damit wieder Teil des öffentlichen Diskurses zu werden.

Tatsächlich ist es höchst an der Zeit über Frieden zwischen der Ukraine und Russland zu sprechen. Darüber, was seine Fundamente sein können oder auch sein müssen, worin seine Perspektiven liegen und wie er sich in eine neue europäische Friedensordnung einbetten lässt. Wie er sie überhaupt erst definiert. Friede ist keine einfache Angelegenheit. Das scheint bei manchen in Vergessenheit geraten zu sein. Friede bedingt ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen, an Verstehen und an der Bereitschaft zu kooperieren. Nicht nur in technischen Fragen, vielmehr in grundsätzlichen Angelegenheiten. Eine Friedensordnung, so sie vital und attraktiv sein will, muss robust sein, bereit auch zur Konfrontation, dazu, für Werte einzustehen, sie, wenn es notwendig sein sollte, mit allen Mitteln zu verteidigen. Auch mit militärischen.

Friede ist ein Versprechen, das in der Geschichte stets eine zentrale Rolle gespielt hat. Der Erfolg des Römischen Imperiums beruht auf seinem Versprechen einer umfassenden Friedensordnung, der pax romana, die letztlich den Gebieten vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer, von Britannien bis Ägypten über Jahrhunderte ein hohes Maß an Stabilität, ein reiches kulturelles Leben, ökonomischen Austausch und – eine allgemein gültige Rechtsordnung garantiert hat.

Natürlich gibt es gänzlich unterschiedliche Ausprägungen von Friedensordnungen. Sie können unterdrückend sein, erdrückend, alle Freiheit verneinend. Sie können sich auf einfache Tauschgeschäfte beziehen, auf die Abwesenheit von Gewalt gegen entsprechende Tribute. Sie können demütigend sein.

Wenn etwa der Gedanke der Revanche vorherrscht. In den Jahren des Ersten Weltkriegs  als an der Westfront, am Isonzo, in Serbien, im Baltikum, Belarus und der Ukraine gekämpft und millionenfach gestorben wurde, wurden in Paris und Berlin, in London und Wien und in anderen Hauptstädten Überlegungen zu einer künftigen Friedensordung angestellt. Durchaus divergierende. Da planten deutsche Denker die Einverleibung Belgiens und die ewige Demütigung Frankreichs. Da sahen sich manche Habsburger schon auf neuen Thronen im Osten sitzen, Italien die Adria fest in italienischer Hand und Frankreich Deutschland in langandauernder Schuldknechtschaft. Es gab auch andere Vorstellungen, solche, die Kooperation zum Inhalt hatten, die auf die Revanche dezitiert verzichteten, die eine neue internationale Ordnung schaffen wollten. 1919 scheiterten sie.

Ein Scheitern, aus dem Franklin D. Roosevelt später seine Schlüsse für die Friedensordung nach dem Zweiten Weltkrieg zog. Erfolgreich, indem 1945 und in den Folgejahren eine regelbasierte, durch internationale Organisationen geprägte globale Ordnung geschaffen wurde, die, bei allen ihren Schwächen, nicht genug geschätzt werden kann.

So wie sich Westeuropa anschickte, seine Grenzen zu überwinden und über den Weg der Integration eine dauerhafte Friedensordnung zu schaffen. Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt. Nichts weniger als das.

Nur ist sie uns, ganz wie der Frieden, den wir seit Jahrzehnten erleben, eine Selbstverständlichkeit geworden, über deren tieferes Wesen und Urgrund wir in Europa nur selten, wenn überhaupt, nachzudenken bereit sind. Dabei entfaltet die Union gerade in ihrer Gestalt einer Friedensordnung, die auf Kooperation und Kollaboration aufbaut, Anziehungskraft und Attraktion. Die sogenannte „soft power“ der EU in Form von Rechtssicherheit wirkt tatsächlich weit über ihre Grenzen.

Mit den imperialen Bestrebungen und der Aggression Russlands, mit dem Dominanzstreben Chinas, mit den sich wegen des Klimawandels abzeichnenden politischen Verwerfungen stößt sie indes auch an ihre Grenzen.

Der Krieg in der Ukraine ist der dringende Anlass, die europäische Friedensordnung neu zu debattieren, sie neu zu denken, über die Grenzen des Kontinents hinaus. Nicht als koloniales Projekt, vielmehr als eine Einladung auf der Basis gemeinsamer Werte neue und zukunftsgerichtete Wege der Zusammenarbeit zu definieren. Und daraus ein politisches Projekt erstehen zu lassen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat erst kürzlich Überlegungen in diese Richtung angestellt. Deutschlands Kanzler Scholz hingegen will lieber – ganz oder gar nicht – Mitgliedschaften nach althergebrachter Art und Weise.

Olivia Lazard, Fellow der Carnegiestiftung mit dem Schwerpunkt Klimapolitik, legt Widerspruch ein. Sie ist, gemeinsam mit 13 anderen Forscherinnen und Forschern, in den neu gegründeten Beirat des ACP berufen worden. Gemeinsam sollen sie die Arbeit des Zentrums erweitern und fokussieren zugleich. Lazard nun steht für den weiten Blick. Ihre Schlüsse sind indes präzise und pointiert. Friede, der Bestand haben soll und Perspektiven, muss weit ausgreifen. Bis in die Wirtschaftsbeziehungen hinein. Wo ist Russland mit den Söldnern der Gruppe Wagner aktiv?, fragt sie. In afrikanischen Ländern, deren Rohstoffe für die Energiewende essentill sind, hält sie fest. So, wie sie das bereits im Mai während des „Time to decide“-Summit festgehalten hat.

Nun aber ergänzt sie ihre Feststellung. Europa hat zu wenig auf die Bedürfnisse seine Partner im Süden Rücksicht genommen. Europa wird eben nicht als Partner wahrgenommen, zudem weder als ehrlich noch als zuverlässig. Anstatt sich abzuschotten, überlegt Lazard, müsste Europa sich eben öffnen, neue, echte Partnerschaften entwerfen, anbieten und in eine neue, größere Friedensordung gießen. In eine, die so attraktiv ist, dass sie die russische oder auch die chinesische Erzählung aussticht. Die Diskussionen auf Burg Schlaining versprechen lebendig und interessant zu werden.

Dieser Ansatz könnte, er muss nachgerade zum Ausgangspunkt einer gesamteuropäischen Debatte werden, die den Frieden in allen seinen Dimensionen und Herausforderungen weiterdenkt, die zur Ausgestaltung einer neuen, umfassenderen sowie militärisch robusten europäischen Friedensordnung zu gelangen.

Der Krieg in der Ukraine beweist, wie dringend diese Auseinandersetzung ist. Auch um mit falschen Vorstellungen vom Frieden aufzuräumen, mit der Vorstellung, ein eingefrorener Konflikt, ein kalter Friede sei besser und erstrebenswerter, weil schneller erreichbar als fundierter Friede. Es ist die Ukraine, die seit Monaten unter größten Opfern die europäische Friedensordnung verteidigt. Europa, die Union, tut gut daran, das Land nach Kräften und in allen Belangen tatkräftig und mit allen Mitteln zu unterstützen. Die Fundamente einer neuen, erfolgreichen, einer umfangreicheren und zukunftsorientierten europäischen Friedensordnung liegen im militärischen Erfolg der Ukraine. (fksk, 20.11.22)