Nachkriegsordnung

Woche 46 – Den Frieden denken

Bald neun Monate dauert der Krieg in der Ukraine bereits an. Kherson ist befreit, die russischen Truppen sind auf breiter Front zurückgedrängt und Russland sucht Sündenböcke für den anhaltenden Misserfolg. Unterdessen gehen täglich Raketenhagel auf ukrainische Städte und Infrastruktur nieder, werden in den besetzten Regionen Menschen entführt, gefoltert und ermordet, werden Kinder geraubt, Museen geplündert, Städte und Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Sollte sich nur die Hälfte der Berichte über die Kriegsverbrechen der russischen Truppen bewahrheiten, so schreit alles nach einem internationalen Tribunal, wenn der Krieg vorüber ist.

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Wenn erst wieder Friede herrscht.

Das ist der Punkt. Wann ist zwischen der Ukraine und Russland Friede möglich und denkbar? Manchen im Westen kann es nicht schnell genug gehen. Sie ventilieren Verhandlungen, urgieren diplomatische Lösungen, drängen zu Kompromissen, fordern Frieden um jeden Preis.

Womit sie Frieden eindimensional denken, als die Abwesenheit unmittelbarer, kriegerischer Gewalt. Allein, Friede ist mehr, weswegen es tatsächlich hoch an der Zeit ist, ihn zu denken, seine Voraussetzungen, vor allem aber seine Gestalt, seine Ausgestaltung zu debattieren.

2022 feiert das Austrian Center für Peace, einst bekannt als Österreichisches Friedenszentrum in Schlaining, seinen 40. Geburtstag. Ein seltsam passendes Jahr für das Jubiläum einer Institution, die sich der Forschung und Förderung des Friedens verschrieben hat. Einer Institution, die sich aus dem Kalten Krieg in unsere Tage herübergerettet hat und seit geraumer Zeit schon den Blick geweitet hat, um globale Entwicklungen zu behandeln, erfassen und zu analysieren. Und damit wieder Teil des öffentlichen Diskurses zu werden.

Tatsächlich ist es höchst an der Zeit über Frieden zwischen der Ukraine und Russland zu sprechen. Darüber, was seine Fundamente sein können oder auch sein müssen, worin seine Perspektiven liegen und wie er sich in eine neue europäische Friedensordnung einbetten lässt. Wie er sie überhaupt erst definiert. Friede ist keine einfache Angelegenheit. Das scheint bei manchen in Vergessenheit geraten zu sein. Friede bedingt ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen, an Verstehen und an der Bereitschaft zu kooperieren. Nicht nur in technischen Fragen, vielmehr in grundsätzlichen Angelegenheiten. Eine Friedensordnung, so sie vital und attraktiv sein will, muss robust sein, bereit auch zur Konfrontation, dazu, für Werte einzustehen, sie, wenn es notwendig sein sollte, mit allen Mitteln zu verteidigen. Auch mit militärischen.

Friede ist ein Versprechen, das in der Geschichte stets eine zentrale Rolle gespielt hat. Der Erfolg des Römischen Imperiums beruht auf seinem Versprechen einer umfassenden Friedensordnung, der pax romana, die letztlich den Gebieten vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer, von Britannien bis Ägypten über Jahrhunderte ein hohes Maß an Stabilität, ein reiches kulturelles Leben, ökonomischen Austausch und – eine allgemein gültige Rechtsordnung garantiert hat.

Natürlich gibt es gänzlich unterschiedliche Ausprägungen von Friedensordnungen. Sie können unterdrückend sein, erdrückend, alle Freiheit verneinend. Sie können sich auf einfache Tauschgeschäfte beziehen, auf die Abwesenheit von Gewalt gegen entsprechende Tribute. Sie können demütigend sein.

Wenn etwa der Gedanke der Revanche vorherrscht. In den Jahren des Ersten Weltkriegs  als an der Westfront, am Isonzo, in Serbien, im Baltikum, Belarus und der Ukraine gekämpft und millionenfach gestorben wurde, wurden in Paris und Berlin, in London und Wien und in anderen Hauptstädten Überlegungen zu einer künftigen Friedensordung angestellt. Durchaus divergierende. Da planten deutsche Denker die Einverleibung Belgiens und die ewige Demütigung Frankreichs. Da sahen sich manche Habsburger schon auf neuen Thronen im Osten sitzen, Italien die Adria fest in italienischer Hand und Frankreich Deutschland in langandauernder Schuldknechtschaft. Es gab auch andere Vorstellungen, solche, die Kooperation zum Inhalt hatten, die auf die Revanche dezitiert verzichteten, die eine neue internationale Ordnung schaffen wollten. 1919 scheiterten sie.

Ein Scheitern, aus dem Franklin D. Roosevelt später seine Schlüsse für die Friedensordung nach dem Zweiten Weltkrieg zog. Erfolgreich, indem 1945 und in den Folgejahren eine regelbasierte, durch internationale Organisationen geprägte globale Ordnung geschaffen wurde, die, bei allen ihren Schwächen, nicht genug geschätzt werden kann.

So wie sich Westeuropa anschickte, seine Grenzen zu überwinden und über den Weg der Integration eine dauerhafte Friedensordnung zu schaffen. Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt. Nichts weniger als das.

Nur ist sie uns, ganz wie der Frieden, den wir seit Jahrzehnten erleben, eine Selbstverständlichkeit geworden, über deren tieferes Wesen und Urgrund wir in Europa nur selten, wenn überhaupt, nachzudenken bereit sind. Dabei entfaltet die Union gerade in ihrer Gestalt einer Friedensordnung, die auf Kooperation und Kollaboration aufbaut, Anziehungskraft und Attraktion. Die sogenannte „soft power“ der EU in Form von Rechtssicherheit wirkt tatsächlich weit über ihre Grenzen.

Mit den imperialen Bestrebungen und der Aggression Russlands, mit dem Dominanzstreben Chinas, mit den sich wegen des Klimawandels abzeichnenden politischen Verwerfungen stößt sie indes auch an ihre Grenzen.

Der Krieg in der Ukraine ist der dringende Anlass, die europäische Friedensordnung neu zu debattieren, sie neu zu denken, über die Grenzen des Kontinents hinaus. Nicht als koloniales Projekt, vielmehr als eine Einladung auf der Basis gemeinsamer Werte neue und zukunftsgerichtete Wege der Zusammenarbeit zu definieren. Und daraus ein politisches Projekt erstehen zu lassen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat erst kürzlich Überlegungen in diese Richtung angestellt. Deutschlands Kanzler Scholz hingegen will lieber – ganz oder gar nicht – Mitgliedschaften nach althergebrachter Art und Weise.

Olivia Lazard, Fellow der Carnegiestiftung mit dem Schwerpunkt Klimapolitik, legt Widerspruch ein. Sie ist, gemeinsam mit 13 anderen Forscherinnen und Forschern, in den neu gegründeten Beirat des ACP berufen worden. Gemeinsam sollen sie die Arbeit des Zentrums erweitern und fokussieren zugleich. Lazard nun steht für den weiten Blick. Ihre Schlüsse sind indes präzise und pointiert. Friede, der Bestand haben soll und Perspektiven, muss weit ausgreifen. Bis in die Wirtschaftsbeziehungen hinein. Wo ist Russland mit den Söldnern der Gruppe Wagner aktiv?, fragt sie. In afrikanischen Ländern, deren Rohstoffe für die Energiewende essentill sind, hält sie fest. So, wie sie das bereits im Mai während des „Time to decide“-Summit festgehalten hat.

Nun aber ergänzt sie ihre Feststellung. Europa hat zu wenig auf die Bedürfnisse seine Partner im Süden Rücksicht genommen. Europa wird eben nicht als Partner wahrgenommen, zudem weder als ehrlich noch als zuverlässig. Anstatt sich abzuschotten, überlegt Lazard, müsste Europa sich eben öffnen, neue, echte Partnerschaften entwerfen, anbieten und in eine neue, größere Friedensordung gießen. In eine, die so attraktiv ist, dass sie die russische oder auch die chinesische Erzählung aussticht. Die Diskussionen auf Burg Schlaining versprechen lebendig und interessant zu werden.

Dieser Ansatz könnte, er muss nachgerade zum Ausgangspunkt einer gesamteuropäischen Debatte werden, die den Frieden in allen seinen Dimensionen und Herausforderungen weiterdenkt, die zur Ausgestaltung einer neuen, umfassenderen sowie militärisch robusten europäischen Friedensordnung zu gelangen.

Der Krieg in der Ukraine beweist, wie dringend diese Auseinandersetzung ist. Auch um mit falschen Vorstellungen vom Frieden aufzuräumen, mit der Vorstellung, ein eingefrorener Konflikt, ein kalter Friede sei besser und erstrebenswerter, weil schneller erreichbar als fundierter Friede. Es ist die Ukraine, die seit Monaten unter größten Opfern die europäische Friedensordnung verteidigt. Europa, die Union, tut gut daran, das Land nach Kräften und in allen Belangen tatkräftig und mit allen Mitteln zu unterstützen. Die Fundamente einer neuen, erfolgreichen, einer umfangreicheren und zukunftsorientierten europäischen Friedensordnung liegen im militärischen Erfolg der Ukraine. (fksk, 20.11.22)

Woche 08 – Die Ukraine ist nur der Anfang

Das Gute an Vladimir Putin ist, er lässt keinen Zweifel mehr über seine Ziele zu. Das ist die Wiederherstellung von Russlands Glanz und Gloria, das ist die Dominanz über all jene Gebiete, über die die Sowjetunion verfügte, das ist letztlich die unangefochtene Dominanz in Europa. Und es ist sein unbedingter Wille, alle Mittel einzusetzen, diese Ziele zu erreichen. Auch sein atomares Arsenal. Diese Drohung steht im Raum.

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Damit entlässt Putin all seine Verteidiger und Versteher in den westlichen Staaten. Er entzieht ihnen ihre Grundlage, die da war, dass man mit dem Mann doch reden kann, dass auch Russland gute Argumente gegenüber der Ukraine hätte. Im Verlauf der letzten Wochen hat Putin wieder und wieder und unmissverständlich klargemacht, dass es für ihn nur eine Art gibt, den Frieden in Europa zu wahren: die Unterwerfung der Ukraine ohne wenn und aber.

Er hat klargemacht, dass ihm alle internationalen Verträge und Vereinbarungen nichts gelten, wenn sie seinen Intentionen widersprechen. Und er hat sich nicht einmal gewunden dabei. Er hat nicht versucht, sein Ansinnen, die europäische Nachkriegsordnung einzureissen, in diplomatische Zuckerwatte zu verpacken.

Wer Ohren hat, zu hören, wer Augen hat, zu lesen, wusste, was Sache ist.

Bemerkenswert ist nur, mit welcher Konsequenz quer durch Europa und auch die USA, diese Offenheit ausgeblendet wurde.

Jetzt fallen Bomben auf Kiew, Odessa, Charkiw, Kramatorsk, Mariupol und selbst auf Lwiw/Lwow/Lemberg, werden Ziele im ganzen Land mit Raketen beschossen, dringen russische – und belarussische – Verbände in die Ukraine ein.

Die Invasion ist der Beginn. Es ist eine Machtdemonstration, die sich an alle europäischen Staaten richtet: Wer sich nicht beugt, hat mit Konsequenzen zu rechnen. Auch darin ist Putin schonungslos offen.

Polen, Estland, Lettland und Litauen aber auch Finnland und Schweden haben diese Botschaft wesentlich früher verstanden (Polen und seine baltischen Nachbarn vor Jahren schon). Heute muss diese Botschaft auch in allen anderen Ländern der Union – und darüber hinaus – verstanden werden. Mit Putins Russland sind Vereinbarungen das Papier, auf dem sie geschrieben sind, nicht wert. Wer sich noch in der Illusion wiegt, man könne mit einem Aggressor ein gedeihliches Auskommen finden, braucht lediglich auf die Ukraine zu blicken. Das ist, was Putin für den Rest Europas bereithält.

Er ist darin ganz offen.

Europa muss es auch sein. Die Zeit der Zwei- und Mehrdeutigkeiten ist in den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 von den russischen Invasoren ausgelöscht worden. (fksk, 24.02.22)