Invasion

Woche 09 – Was in den Nebeln des Kriegs noch klar ist

Tag elf seit Beginn der russischen Invasion. Und alles liegt im Nebel. Klarheit ist in diesem Krieg mehr noch als in anderen Mangelware. Klar ist, wer wer ist. Wer Aggressor und wer Verteidiger. Klar ist auch, dass dieser Krieg wie bisher keiner via Social Media begleitet und interpretiert wird.

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Hier nun beginnt der Nebel zu wabern. Im steten Strom von Bildern, Meldungen und Videos ist es unmöglich, den Überblick zu bewahren. Manche Geschichten gehen viral. Der Ghost of Kiew etwa, der ukrainische Pilot, der an einem Tag fünf russische Kampfflugzeuge abgeschossen haben soll. Eine Leistung, die seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erbracht wurde. Ob die Meldung indes stimmt, kann weder verifiziert noch falsifiziert werden. Um den Ghost of Kiew ist es allerdings still geworden. Andere Geschichten sind der seinen gefolgt.

Eines ist ihnen allen gemein, sie erzählen vom ukrainischen Mut der Verzweiflung, mit dem sich Armee und Zivilisten den Angreifern entgegenstellen. Sie schaffen in der Ukraine und unter Ukrainern noch mehr an Verbundenheit und Zusammenhalt. Womit sie ihren wichtigsten Zweck erfüllen. Sie haben das Format, auch unter russischer Besatzung den ukrainischen Widerstandsgeist am Leben zu erhalten.

Putin mag das Land in Schutt und Asche legen, seine Städte in Grund und Boden bomben, er hat jetzt schon verloren. Die Einheit, die er beschwört, ist nicht mehr. Dazu ist allein in den letzten hundert Jahren zu viel an der Ukraine und ihren Menschen verbrochen worden. Vom Holodomor über die stalinistischen Säuberungen bis zum heutigen Angriff auf das Land. Mit Putin wird die letzte Gemeinsamkeit ausgelöscht.

Die Frage, die sich dabei stellt, ist, ob er sich der veränderten Stimmung in der Ukraine denn nicht bewusst war. Es ist auf jeden Fall eine groteske Fehleinschätzung des russischen Präsidenten. Auch das ist klar, trotz des Nebels.

Putin hat sich in allen Belangen verschätzt. Zuallererst im Widerstandswillen der Ukrainerinnen und Ukrainer. Aber auch, und das ganz wesentlich, in der Toleranz des von ihm so sehr verachteten Westens, weitere Grenzüberschreitungen hinzunehmen.

So, wie der russische Präsident Geburtshelfer einer neuen ukrainischen Identität ist, so hat ausgerechnet er zur Geschlossenheit und Einheit des Westens beigetragen. Mit Sanktionen haben er und seine Kamarilla gerechnet. Mit Protesten und hilfloser Empörung. Aber dann, und das war er ja gewohnt und dessen muss er sich also sicher gewesen sein, dann, nachdem etwas Wasser die Donau, die Havel, die Seine oder die Themse hinabgeflossen wäre, würde er wieder empfangen.

Wie einst 2014 in Wien, in allen Ehren, als der Präsident der Wirtschaftskammer gemeinsam mit dem österreichischen Bundespräsidenten Putin schamlos den Hof machen und die Kämpfe im Osten der Ukraine, die Besetzung der Krim schlichtweg kein Thema sind und wenn, dann in Form von Witzchen. So war es und so war es immer wieder und eigentlich auch überall. Wenigstens in diesem Punkt kann man Putin folgen, wenn er den Westen als feige, schwach und rückgratlos erlebt hat.

Das hat sich geändert. In aller Klarheit. Am Sonntag vor einen Woche räumt der neue deutsche Kanzler Olaf Scholz in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag wohlige deutsche Gewissheiten ab und stellt der Bundeswehr mehr und dringend benötigte Mittel in Aussicht. Die Koordination und Kooperation zwischen Großbritannien und der Europäischen Union funktioniert wie geschmiert, als hätte es niemals den Brexit und alle damit verbundenen gegenseitigen Verletzungen gegeben. Selbst im US-Kongress zollt die Opposition Joe Biden Respekt und Unterstützung. Und sogar in Österreich wird ein ganz anderer Ton angeschlagen als bisher. Ohne Augenzwinkern, ohne windelweichen Verweis auf die Neutralität. Vielmehr werden im Einklang mit allen anderen Unionsstaaten Sanktionen verhängt, die durchaus den Charakter einer mächtigen Waffe haben, die Russland und seiner Wirtschaft massiven Schaden zufügen (und dafür auch Schäden in der eigenen Wirtschaft in Kauf nehmen).

Damit hat Putin nicht gerechnet. So viel ist klar, und so viel geht aus seinen Reaktionen hervor.

Wobei die Einigkeit der westlichen Staatengemeinschaft (zu der selbstverständlich auch Japan, Südkorea und Taiwan zählen) nicht allein Russland adressiert, sondern auch und besonders China. Jeder Schritt, jede Maßnahme aber auch jede Zurückhaltung ist ein Signal an China, ist eine Demonstration dessen, wozu der Westen in der Lage ist und wozu er auch bereit ist in einem Konflikt. China, so viel ist klar, verfolgt die Entwicklungen akribisch und wird daraus seine Schlüsse ziehen.

Klar ist an diesem elften Tag des russischen Angriffkriegs auf die Ukraine, dass die russische Armee bislang nicht in der Lage ist, ihre gesteckten Ziele zu erreichen, dass deswegen die Opfer unter der Zivilbevölkerung noch zunehmen werden, dass dieser Krieg noch viel hässlicher werden wird, als er es schon ist.

Darüber darf der dichte Nebel an Social Media Geschichten und Bildern nicht hinwegtäuschen. (fksk, 06.03.22)

Woche 08 – Die Ukraine ist nur der Anfang

Das Gute an Vladimir Putin ist, er lässt keinen Zweifel mehr über seine Ziele zu. Das ist die Wiederherstellung von Russlands Glanz und Gloria, das ist die Dominanz über all jene Gebiete, über die die Sowjetunion verfügte, das ist letztlich die unangefochtene Dominanz in Europa. Und es ist sein unbedingter Wille, alle Mittel einzusetzen, diese Ziele zu erreichen. Auch sein atomares Arsenal. Diese Drohung steht im Raum.

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Damit entlässt Putin all seine Verteidiger und Versteher in den westlichen Staaten. Er entzieht ihnen ihre Grundlage, die da war, dass man mit dem Mann doch reden kann, dass auch Russland gute Argumente gegenüber der Ukraine hätte. Im Verlauf der letzten Wochen hat Putin wieder und wieder und unmissverständlich klargemacht, dass es für ihn nur eine Art gibt, den Frieden in Europa zu wahren: die Unterwerfung der Ukraine ohne wenn und aber.

Er hat klargemacht, dass ihm alle internationalen Verträge und Vereinbarungen nichts gelten, wenn sie seinen Intentionen widersprechen. Und er hat sich nicht einmal gewunden dabei. Er hat nicht versucht, sein Ansinnen, die europäische Nachkriegsordnung einzureissen, in diplomatische Zuckerwatte zu verpacken.

Wer Ohren hat, zu hören, wer Augen hat, zu lesen, wusste, was Sache ist.

Bemerkenswert ist nur, mit welcher Konsequenz quer durch Europa und auch die USA, diese Offenheit ausgeblendet wurde.

Jetzt fallen Bomben auf Kiew, Odessa, Charkiw, Kramatorsk, Mariupol und selbst auf Lwiw/Lwow/Lemberg, werden Ziele im ganzen Land mit Raketen beschossen, dringen russische – und belarussische – Verbände in die Ukraine ein.

Die Invasion ist der Beginn. Es ist eine Machtdemonstration, die sich an alle europäischen Staaten richtet: Wer sich nicht beugt, hat mit Konsequenzen zu rechnen. Auch darin ist Putin schonungslos offen.

Polen, Estland, Lettland und Litauen aber auch Finnland und Schweden haben diese Botschaft wesentlich früher verstanden (Polen und seine baltischen Nachbarn vor Jahren schon). Heute muss diese Botschaft auch in allen anderen Ländern der Union – und darüber hinaus – verstanden werden. Mit Putins Russland sind Vereinbarungen das Papier, auf dem sie geschrieben sind, nicht wert. Wer sich noch in der Illusion wiegt, man könne mit einem Aggressor ein gedeihliches Auskommen finden, braucht lediglich auf die Ukraine zu blicken. Das ist, was Putin für den Rest Europas bereithält.

Er ist darin ganz offen.

Europa muss es auch sein. Die Zeit der Zwei- und Mehrdeutigkeiten ist in den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 von den russischen Invasoren ausgelöscht worden. (fksk, 24.02.22)