Neos

Woche 11 – Verdrängte Revolution, vergessenes Parlament

Viel Zeit sollte den 383 Abgeordneten nicht vergönnt sein, als sie am 22. Juli 1848 zum ersten Mal zusammentreffen. Nur acht Monate später wird der Reichstag, das erste, aus Wahlen hervorgegangene Parlament Österreichs, schon wieder aufgelöst. Man könnte meinen, es handle sich damit also nur um eine Episode der Revolution vor 175 Jahren, um eine Randnotiz, nicht weiter der Erwähnung wert. Und doch ist gerade dieser Reichstag ein Ereignis von geradezu europäischer Dimension.

Erste, vorberatende Sitzung im Reichstag zu Wien (bei Bach: Geschichte der Wiener Revolution von 1848) © Gemeinfrei/British Library

Ist im Zusammenhang mit der Revolution von 1848 von einem Parlament die Rede, dann fast ausschließlich von der deutschen Paulskirchenversammlung in Frankfurt am Main. Langlebig war auch sie nicht, in der Erinnerung, zumal in der deutschen, lebt sie fort. Als der mögliche Ausgangspunkt einer potenziell anderen deutschen Geschichte, einer besseren Geschichte. Vor allem aber wird der Paulskirche als der ersten gewählten Volksvertretung Deutschlands gedacht und damit einer demokratischen Tradition, die aus Eigenem heraus entstand.

Der 383 Abgeordneten, die in der zum Plenarsaal umgewandelten Winterreitschule der Wiener Hofburg zusammentreten, wird 175 Jahre später nicht gedacht. Dabei ist dieser Österreichische Reichstag ein mindestens so spannendes Ereignis wie die Paulskirche, es ist zudem eines von europäischer Dimension. Denn die Parlamentarier kommen aus allen Kronländern der Monarchie (mit Ausnahme Ungarns, Venetiens und der Lombardei), sie vertreten Menschen aus acht verschiedenen Sprachgebieten, unter ihnen sind jüdische ebenso wie orthodoxe Geistliche, sie stammen aus Gebieten, die heute in Italien, Österreich, Slowenien, Kroatien, der Tschechischen Republik, Polen und der Ukraine liegen. Es ist, im Gegensatz zur nationalen Paulskirche, ein multinationales europäisches Protoparlament.

Diesen Wert beschreibt der tschechische Abgeordnete Frantisek Palacky mit der – bis heute gerne, wenn auch verkürzt wiedergegebenen – Aussage: „Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen.“ In dem Umstand, dass in diesem Staat keine Volksgruppe von ihrer Größe her die anderen dominieren kann, sieht Palacky* den großen und schützenswerten Vorteil gegenüber dem national orientierten Deutschland. Er und seine Mitstreiter wollen das übernationale Österreich zum Schutz seiner Völker bewahren und zu einem demokratisch geprägten Gebilde wandeln.

Sichtbarster Ausdruck dafür ist die als „Kremsierer Entwurf“ bekannte Verfassung für das Kaisertum Österreich, die neben dem Monarchen das Volk als Träger der Staatsgewalt beschreibt, die Rechte und Aufgaben des Kaisers definiert, die den Föderalismus durch eine zweite Parlamentskammer institutionell verankert und damit die Gleichberechtigung der verschiedenen Völker sichert. Elemente, die dem neoabsolutistischen Charakter des jungen Kaiser Franz Joseph (der mit tatkräftiger Unterstützung russischer Truppen den Freiheitskampf der Ungarn niederschlagen konnte) zuwiderlaufen. Weswegen er im März 1849 den Reichstag auflöst, und eine eigene Verfassung oktroyiert.

Ein Gesetz, welches der Reichstag als eines der ersten verabschiedet hat (und welches noch von Kaiser Ferdinand unterzeichnet wurde), hebt indes auch Franz Joseph nicht auf. Es ist das Gesetz zur Bauernbefreiung, das auf Initiative und Drängen des schlesischen Abgeordneten Hans Kudlich im September 1848 eine Mehrheit fand. Dass es vom Parlament beschlossen wurde, ist in der öffentlichen Erinnerung heute freilich nicht mehr präsent. So wenig wie Kudlich, der nach der Auflösung des Reichstags fliehen muss, in der Schweiz Medizin studiert und letztlich als einer der „48er“ in die USA emigriert, wo er sich später für Abraham Lincoln engagiert und 1917 hochbetragt in Hoboken, New York stirbt. Wenigstens Franz Joseph hat er überlebt.

Das heutige Österreich hat alles das, wenn schon nicht vergessen, so doch so erfolgreich an den Rand gedrängt, dass 1848 schlicht keine Rolle spielt. Der kurze Moment, in dem eine demokratische, liberale Revolution den Lauf der Geschichte hätte ändern können; der Reichstag, der, wenn auch aus heutiger Sicht wegen des eingeschränkten Wahlrechts keine vollwertige, aber eben doch eine gewählte Volksversammlung war; die liberalen Ideen, die in den späteren Jahrzehnten noch gewirkt haben, weit über das heutige Österreich hinaus, dazu schweigt die Republik. Es ist die FPÖ, die einen ehemaligen schlagenden Burschenschafter zu 175 Jahren bürgerlicher Revolution reden lässt und damit einmal mehr sich in die Tradition des Jahres 1848 zu stellen vorgibt. Womit es den liberalen Neos als einziger Parlamentspartei vorbehalten bleibt, der Revolution, ihren Ideen, ihrer Wirkmacht in einem ganzen Reigen an Veranstaltungen bis in den Oktober 2023 nachzugehen. Um sie endlich in die Gegenwart der Republik zu holen.

Ansonsten herrscht Schweigen. Keine Festsitzung im Parlament. Keine Einladung an die Parlamente jener europäischen Länder, aus denen einst Abgeordnete nach Wien und Kremsier/Kromeriz entsandt wurden, zu einem gemeinsamen Festakt, keine europäische Initiative, dieses ersten, im besten Sinne europäischen Parlaments zu gedenken.

Ein wenig versteckt befindet sich in der Reitschulgasse, dort wo Tag für Tag die Lipizzaner von der Stallburg in die Winterreitschule queren, eine Gedenktafel zum 150. Jahrestag der konstituierenden Sitzung. Gewidmet vom Präsidium des Österreichischen Nationalrats. Das muss genügen. (fksk, 19.03.23)

* Palacky wird diese Aussage später zurücknehmen. Der Ausgleich mit Ungarn 1867, bei dem die Interessen der slawischen Völker von Habsburg übergangen werden, lässt ihn zum Panslawisten werden.

Woche 08 – Russlands Krieg, Europas Neubeginn

Woche 52. US-Präsident Biden besucht Kiyv. Putin besucht ein Stadion in Moskau. In Wien beruft Neos zum Jahrestag Russlands Invasion eine Sondersitzung des Nationalrats ein. In Berlin demonstrieren 15.000 mit Wagenknecht und Schwarzer vor dem Brandenburger Tor gegen Waffenlieferungen an die Verteidiger der freien Ukraine. Eine Woche zuvor hat Ungarns Premier Orban in seiner Rede an die Nation Wagenknecht und Schwarzer inhaltlich vorweggenommen.

© Andreay Zaychuk/unsplash.com

Der 24. Februar 2022 bezeichnet ein einschneidendes Datum in der europäischen Geschichte. Das, wovor man die Augen geschlossen hat, wovon man hoffte, es würde einfach nicht eintreten, ist Realität geworden: Krieg mitten in Europa. Krieg zu Wiedererrichtung eines Imperiums. Krieg gegen die internationale Rechtsordnung, gegen die europäische Friedensordnung, gegen das Völkerrecht.

In der Ukraine bedeutet das ganz konkret Vergewaltigungen, Massaker, Folter und Brandschatzung durch russische Soldaten, den organisierten Raub von Kindern, Getreide und Kulturgütern, die Zerstörung aller Hinweise auf ukrainisches Geistesleben. Es ist ein Vernichtungskrieg, der da vor den Augen der Weltöffentlichkeit gegen die Ukraine geführt wird.

Es ist aber auch die Weltöffentlichkeit, die nicht so reagiert, wie die russische Führung rund um Putin das gedacht haben muss. Der Angriff am 24. Februar und der erfolgreiche Widerstand der Ukrainer bedingt ein Umdenken. Von einer Zeitenwende spricht Deutschlands Kanzler Scholz wenige Tage nach Beginn der Invasion. Inzwischen ist Deutschland nach den USA und Großbritannien der drittgrößte Lieferant von Waffen und Waffensystemen an die ukrainische Armee. Wobei fast jeder Lieferung, jeder Festlegung eine schmerzhaft lange Debatte in Deutschland vorausgeht. Die Zeitenwende ist ein langwieriger Prozess, mit einem klaren Ost-West-Gefälle.

Da sind Estland, Lettland und Litauen sowie Polen, die seit Jahr und Tag vor russischen Expansionsgelüsten gewarnt haben – und vom Rest der Europäer im besten Fall als etwas lästig empfunden wurden. Da sind die Länder ganz im Westen wie Frankreich, Spanien und Portugal, denen der Krieg immer noch ferner erscheint als ihren östlichen Nachbarn. Und da sind dann auch noch Länder die Länder in der Mitte, etwa Deutschland, Österreich und Ungarn, die jedes für sich eine spezielle Rolle spielen, die jedes auf seine Art tiefer in diesen Krieg verstrickt sind als gemeinhin sichtbar.

Zum Beispiel Deutschland. Die geopolitische Verflechtung mit Russland reicht weit zurück. Vor genau 101 Jahren führt die Rolle beider Staaten als Außenseiter im europäischen Konzert zum Pakt von Rapallo, der auf wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit hin abzielt. Die junge Sowjetunion wird zum Handelspartner Europas potenziell stärkster Volkswirtschaft. Deutschland wiederum kann im Osten, fernab der Augen Frankreichs und Großbritanniens, seine Truppen ausbilden und mit Waffensystemen vertraut machen, die ihm verboten sind. Nur 17 Jahre später schließen Hitlerdeutschland und Stalinrussland jenen Pakt, der den Zweiten Weltkrieg einläutet, Polen einmal mehr teilt und der Vernichtung durch beide Regime freigibt. Bis Nazideutschland die Sowjetunion überfällt und das heutige Belarus, das Baltikum, die Ukraine sowie die westlichen Regionen Russlands in europäische Killing Fields verwandelt. Wobei die Kumpanei der beiden Regime bis zum Schluss über ihre Gegnerschaft triumphiert. Den Warschauer Aufstand 1944 schlägt die Wehrmacht ungestört von der Roten Armee nieder, die nur kurz vor der polnischen Hauptstadt haltgemacht hat – und darauf wartet, dass die Deutschen ihr Geschäft besorgen, die Vernichtung des polnischen Widerstands. Partner in crime.

Nein, das ist nicht die Basis, auf der das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau heute maßgeblich aufbaut. Aber diese unausgesprochene, subkutane Ebene spielt immer noch in das besondere Verhältnis zwischen Deutschland und Russland hinein und erklärt wenigstens zum Teil das deutsche Streben, die russischen Bedürfnisse und Befindlichkeiten über jene seiner östlichen Nachbarn zu stellen. Ziehen Wagenknecht und Schwarzer mit dem ehemaligen General Vad und dem einstigen Star der deutschen Sozialdemokratie, Lafontaine, vor das Brandenburger Tor, dann manifestiert sich in ihnen dieses Element, das niemals gegen, dafür immer mit Russland arbeiten will. Eine krude Mischung aus rückwärtsgewandtem Romantizismus und Verehrung brutal zur Schau gestellter Macht.

Zum Beispiel Österreich. Bei jenem demaskierenden Auftritt der Herren Fischer und Leitl mit Putin im Festsaal der Wiener Wirtschaftskammer 2014, ist es Leitl der mit Blick auf die Ukraine darauf hinweist, dass 100 Jahre zuvor Lemberg/Lviv als Teil des Kronlandes Galizien eine altösterreichische Metropole war. Putin gluckst und meint, er fürchte sich, vor dem was da nun kommen mag, woraufhin Fischer ihm lachend die Schultern streichelt – unter uns alten Imperien, so kann die Geste gelesen werden, ist ein wenig Spaß erlaubt. Verständnis für imperiale Nostalgie aber ist garantiert.

Denn es verbindet die kleine Republik ein seltsames Verhältnis zur dem einstigen habsburgischen Österreich. Gerne schmückt man sich mit allerlei k.k-Glitter, mit Lipizzanern, Sisi-Kitsch und monarchischem Gepränge. Dem Rest schenkt man weniger Aufmerksamkeit, dem vielsprachigen Reichsrat, der multinationalen Armee, dem Bemühen, das europäische Vielvölkerreich entgegen aller seiner internen Konflikte in das 20. Jahrhundert zu führen (ein Versuch, der damals an Borniertheit und althergebrachten Ehrvorstellungen scheiterte). Nichts schmeichelt der Seele Kleinösterreichs mehr, als wenn man ihr imperiale Größe und Weltgeltung bescheinigt. In der Musik. Im Theater. In Kunst, Kultur und Skifahren. Es kennt die kleine Republik den Phantomschmerz eines verschwundenen Imperiums. Und es war wieder und wieder Putins Russland, das es verstanden hat, diesen speziellen Ton zu treffen, der österreichische Kanzler (als die einzigen EU-Vertreter) zum Wirtschaftsforum in St. Petersburg lockt; der österreichische Außenministerinnen tanzen und knicksen lässt; der das Land einen Hauch einstiger Größe wahrnehmen lässt. Glanz und Gloria in Zuckerguss. Und üppige Geschäfte dazu.

Zum Beispiel Ungarn. Nun wäre Ungarn eigentlich jenes Land, welches historisch am wenigsten mit Russland verbindet, wenigstens nicht im Positiven. Da bittet der junge Kaiser seinen Partner den Zaren vor 175 Jahren um Truppen, die ungarische Revolution niederzuschlagen. Da kommen die russischen Truppen 1956 wieder und schlagen wieder eine Revolution nieder. Bis sie ein junger Mann 1989 in einer aufsehenerregenden Rede auffordert, das Land endlich zu verlassen. Der Abzug der Roten Armee ist auch ein Erfolg des jungen Orban, der damit seine politische Karriere startet. Doch wo die Österreicher mit zuckerglasierter Nostalgie auf die Habsburgermonarchie zurückblicken, fühlt Orban den Schmerz des Verlusts. Der Friedensvertrag von Trianon, 1920 nach den Verträgen von Versailles und St. Germain oktroyiert und nicht verhandelt, reduziert Ungarn auf seinen ethnisch homogenen Kern. Dass in allen seinen Nachbarländern ungarische Minderheiten leben, empfindet ein großer Teil der Ungarn bis heute als ungerecht. Die Karten, auf denen Ungarn in den Grenzen von 1918 dargestellt wird, sind weit verbreitet. Sie sind ein politisches Statement. Es ist der Schmerz um die einstige Dominanz, das Gefühl, vom Westen, von aller Welt betrogen worden zu sein und im Grunde genommen alleine zu stehen. Darin versteht Orban Putin und fühlt sich ihm mehr verbunden als den westlichen Werten, die aus seiner Sicht das wahre Ungarn bedrohen. Eine Partnerschaft in Ablehnung.

Es sind indes immer wieder Schockereignisse, die alte Bindungen und Einstellungen in Frage stellen, in ihrer Wirkmacht abschleifen und langsam verschwinden lassen. Der russische Angriff auf die Ukraine bewirkt genau das. In Deutschland, wo der Russlandromantizismus der Realität nicht mehr standhält und die Politik der letzten 20 Jahre gegenüber Moskau einer kritischen Revision unterzogen wird. Wagenknecht und Schwarzer sind nicht die Mehrheit, selbst wenn sie es zu sein behaupten.

In Österreich wiederum ist die Debatte über das Selbstverständnis der Republik und ihrer Neutralität nicht mehr einzufangen, wenngleich Kanzler Nehammer, artig assistiert von der Sozialdemokratin Rendi-Wagner, das versucht. Es sind die liberalen Neos und, etwas zurückhaltender, die Grünen, die unterstützt und begleitet von Initiativen wie unseresicherheit.org und immer vernehmbareren Stimmen aus der Gesellschaft die Ausrichtung der Republik hinterfragen und diskutieren. Das ist tatsächlich neu und im Grunde überfällig.

Indem Russland mit seiner Invasion die geltende Friedensordnung in Europa zu zerstören sucht, hat es eine Dynamik angestoßen, die seine Instrumentarien der subtilen Macht, den Romantizismus, die Nostalgie nach imperialen Glanz, zusehends stumpf werden lässt. Eine Dynamik, die nicht nur in Deutschland und Österreich (über kurz oder lang auch in Ungarn) zu gravierenden Veränderungen im Selbstbild führen wird, die zudem eine geopolitische Neuausrichtung der gesamten Union zur Folge haben wird.

Das war nicht Putins Intention. (fksk. 26.02.23)