Elf Monate Krieg in der Ukraine. Soledar ist gefallen. Vor Bakhmut treibt die russische Armee ihre Soldaten übers offene Feld gegen die ukrainischen Stellungen und mitten ins Feuer. Das britische Verteidigungsministerium konstatiert Stillstand an der Front. Der ehemalige russische Präsident Medvedev warnt in drastischen Worten vor den Folgen einer russischen Niederlage für Europa. In Moskau wird auf dem Dach des Verteidigungsministeriums das Pantsir-Raketenabwehrsystem installiert. In Iran verschärft das Regime sein Vorgehen gegen die Opposition und Minderheiten im Land. Das Europäische Parlament stuft die Revolutionsgarden als terroristische Organisation ein, Konsequenzen hat das keine. Es ist ein Symbol, ein Zeichen der Solidarität. Immerhin.
In Berlin und Ramstein lädt die Regierung Scholz unterdessen zu einer einzigartigen Darbietung des rasenden Stillstands. Applaus bleibt indes ob der grotesken Verrenkungen des Kanzlers rund die Frage, wann Deutschland der Ukraine Kampfpanzer vom Typ Leopard liefert, aus. Nicht minder grotesk muten die Verrenkungen des Auswärtigen Amts unter Ministerin Baerbock an, geht es um die Frage, ob die iranischen Revolutionsgarden endlich als Terrororganisation gelistet werden.
Zumindest letzteres wundert den deutsch-iranischen Wissenschaftler Aras-Nathan Keul nicht im Geringsten: „Für das Auswärtige Amt bedeutet Diktatur Stabilität“. So formuliert er es im Gespräch mit der Informationsplattform Iran-Revolution.com und führt weiter aus: „Man hat entgegen der Faktenlage immer geglaubt, das Regime durch Dialog und Handel zu internen Reformen zu bringen. Das ist der gleiche Ansatz – und Fehler –, den man mit Russland auch gemacht hat und noch immer mit China macht.“
Keul spricht damit ein essenzielles Element an, die Politik Deutschlands, aber auch anderer, westeuropäischer, Länder zu entziffern und zu verstehen. Stabilität ist in Zeiten der Globalisierung, der Digitalisierung, der immer rascher anbrandenden Krisen und steigenden Komplexität und nicht zuletzt des Klimawandels für die Politik ein Wert für sich.
Stabilität ist, was Putin Russland nach den tumultuösen 90er Jahren unter Boris Jelzin gebracht hat.
Stabilität ist, was die Regierung in Bejing garantiert. Was Präsident Sisi in Ägypten durchsetzt, mit allen Mitteln. Stabilität ist, was das eigene Wirtschafts- und Wohlstandsmodell angesichts einer sich radikal und rasant ändernden Welt noch etwas länger bewahren lässt.
Nun spricht grundsätzlich nichts gegen stabile Verhältnisse. Im Gegenteil, sie ermöglichen Austausch, Handel, Kooperation. Sie tragen zu Rahmenbedingungen bei, die es Gesellschaften ermöglichen, nach Mehr zu streben. Sie sorgen für Berechenbarkeit. Daran ist nichts Schlechtes.
Indes, die Welt ist eine Zumutung, indem sie sich ändert und alle Stabilität immer wieder aufs Neue herausfordert. Und zwar dergestalt, dass das, was gestern die Stabilität ermöglicht hat, heute zu einem Element der Instabilität wird.
Herr Putin zum Beispiel. Für den Westen, für Deutschland und Österreich im Besonderen, hat er für stabile Verhältnisse gesorgt. Dafür hat man über das eine oder andere schon hinweggesehen, man hat es wenigstens nicht zu sehr kritisiert. Die Zerstörung von Grosny, der Überfall auf Georgien, die Ausschaltung jeglicher Opposition, der Beginn des langen Kriegs gegen die Ukraine, alles das hat der Westen hingenommen. Nicht zuletzt der Stabilität wegen. Weil, so die Annahme bis zum 24. Februar 2022, Putin berechenbar ist.
Ein folgenschwerer Irrtum.
Ähnlich verhält es sich mit Iran. Der Westen, zumal die Europäische Union hat sich mit dem klerikalen Regime arrangiert. Solange Iran in Europa nicht zündelt, sondern über sein Atomprogramm verhandelt, so lange wird er als ein Faktor internationaler Stabilität wahrgenommen und behandelt. Inzwischen hört und sieht man nichts, um sich nicht äußern zu müssen.
Hauptsache, stabil.
Nun aber bricht seit Jahren viel Sicherheit weg. Das Wohlstandsversprechen der westlichen Gesellschaften ist in Frage gestellt. Die Perspektive, sozial und gesellschaftlich durch Bildung und Arbeit aufsteigen zu können, wird zusehends verengt. Die Sicherheit, dass es künftigen Generationen besser gehen wird, ist nur noch eine Erinnerung. Indem diese Gewissheiten entfallen, brechen Konflikte auf, derer die politische Klasse nicht Herr wird. Mehr noch, offenbar gar nicht Herr werden will, um den Menschen nicht noch mehr Veränderungen zumuten zu müssen.
Politik zeigt sich dieser Tage nicht mehr als Wettbewerb der Ideen, wie die Zukunft gestaltet werden kann, als vielmehr als Wettbewerb der Verwaltung des Wandels.
Ihn aktiv zu gestalten, kommt sozialdemokratischen, christlichsozialen und christdemokratischen Parteien ebenso wenig in den Sinn, wie jenen an den linken und rechten Rändern. Alle blicken sie mit Zuversicht in die Vergangenheit und suchen dort ihr Heil. Womit das Stabilitätsversprechen der autoritären und diktatorischen Regime unerhört attraktiv wird. Es verspricht eine Prolongation des Status quo.
Die Verrenkungen des Herrn Scholz können durchaus als der Versuch verstanden werden, seine SPD zu stabilisieren. Und die veränderungsaversen Teile der deutschen Gesellschaft, die im Modell des Beiseitestehens – wie es einst Kanzler Kohl per Scheckheft praktiziert hat – die Ultima Ratio erkennen, nicht zu verschrecken. Nun führt der wilde Ausdruckstanz zur Beschwörung der Stabilität, wie ihn Scholz zum Besten gibt, nicht zum Ziel. Es gerät vielmehr immer mehr, immer schneller ins Rutschen, auf allen Ebenen und in allen Beziehungen. Es ist an der Zeit, einfürallemal zu erkennen, dass mit Putins Russland und mit Irans klerikalem Regime keine Stabilität zu erreichen ist. Selbst wenn die Erkenntnis schmerzt. (fksk, 22.01.23)