Scholz

Woche 03 – Hauptsache, stabil

Elf Monate Krieg in der Ukraine. Soledar ist gefallen. Vor Bakhmut treibt die russische Armee ihre Soldaten übers offene Feld gegen die ukrainischen Stellungen und mitten ins Feuer. Das britische Verteidigungsministerium konstatiert Stillstand an der Front. Der ehemalige russische Präsident Medvedev warnt in drastischen Worten vor den Folgen einer russischen Niederlage für Europa. In Moskau wird auf dem Dach des Verteidigungsministeriums das Pantsir-Raketenabwehrsystem installiert. In Iran verschärft das Regime sein Vorgehen gegen die Opposition und Minderheiten im Land. Das Europäische Parlament stuft die Revolutionsgarden als terroristische Organisation ein, Konsequenzen hat das keine. Es ist ein Symbol, ein Zeichen der Solidarität. Immerhin.

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In Berlin und Ramstein lädt die Regierung Scholz unterdessen zu einer einzigartigen Darbietung des rasenden Stillstands. Applaus bleibt indes ob der grotesken Verrenkungen des Kanzlers rund die Frage, wann Deutschland der Ukraine Kampfpanzer vom Typ Leopard liefert, aus. Nicht minder grotesk muten die Verrenkungen des Auswärtigen Amts unter Ministerin Baerbock an, geht es um die Frage, ob die iranischen Revolutionsgarden endlich als Terrororganisation gelistet werden.

Zumindest letzteres wundert den deutsch-iranischen Wissenschaftler Aras-Nathan Keul nicht im Geringsten: „Für das Auswärtige Amt bedeutet Diktatur Stabilität“. So formuliert er es im Gespräch mit der Informationsplattform Iran-Revolution.com und führt weiter aus: „Man hat entgegen der Faktenlage immer geglaubt, das Regime durch Dialog und Handel zu internen Reformen zu bringen. Das ist der gleiche Ansatz – und Fehler –, den man mit Russland auch gemacht hat und noch immer mit China macht.“

Keul spricht damit ein essenzielles Element an, die Politik Deutschlands, aber auch anderer, westeuropäischer, Länder zu entziffern und zu verstehen. Stabilität ist in Zeiten der Globalisierung, der Digitalisierung, der immer rascher anbrandenden Krisen und steigenden Komplexität und nicht zuletzt des Klimawandels für die Politik ein Wert für sich.

Stabilität ist, was Putin Russland nach den tumultuösen 90er Jahren unter Boris Jelzin gebracht hat.

Stabilität ist, was die Regierung in Bejing garantiert. Was Präsident Sisi in Ägypten durchsetzt, mit allen Mitteln. Stabilität ist, was das eigene Wirtschafts- und Wohlstandsmodell angesichts einer sich radikal und rasant ändernden Welt noch etwas länger bewahren lässt.

Nun spricht grundsätzlich nichts gegen stabile Verhältnisse. Im Gegenteil, sie ermöglichen Austausch, Handel, Kooperation. Sie tragen zu Rahmenbedingungen bei, die es Gesellschaften ermöglichen, nach Mehr zu streben. Sie sorgen für Berechenbarkeit. Daran ist nichts Schlechtes.

Indes, die Welt ist eine Zumutung, indem sie sich ändert und alle Stabilität immer wieder aufs Neue herausfordert. Und zwar dergestalt, dass das, was gestern die Stabilität ermöglicht hat, heute zu einem Element der Instabilität wird.

Herr Putin zum Beispiel. Für den Westen, für Deutschland und Österreich im Besonderen, hat er für stabile Verhältnisse gesorgt. Dafür hat man über das eine oder andere schon hinweggesehen, man hat es wenigstens nicht zu sehr kritisiert. Die Zerstörung von Grosny, der Überfall auf Georgien, die Ausschaltung jeglicher Opposition, der Beginn des langen Kriegs gegen die Ukraine, alles das hat der Westen hingenommen. Nicht zuletzt der Stabilität wegen. Weil, so die Annahme bis zum 24. Februar 2022, Putin berechenbar ist.

Ein folgenschwerer Irrtum.

Ähnlich verhält es sich mit Iran. Der Westen, zumal die Europäische Union hat sich mit dem klerikalen Regime arrangiert. Solange Iran in Europa nicht zündelt, sondern über sein Atomprogramm verhandelt, so lange wird er als ein Faktor internationaler Stabilität wahrgenommen und behandelt. Inzwischen hört und sieht man nichts, um sich nicht äußern zu müssen.

Hauptsache, stabil.

Nun aber bricht seit Jahren viel Sicherheit weg. Das Wohlstandsversprechen der westlichen Gesellschaften ist in Frage gestellt. Die Perspektive, sozial und gesellschaftlich durch Bildung und Arbeit aufsteigen zu können, wird zusehends verengt. Die Sicherheit, dass es künftigen Generationen besser gehen wird, ist nur noch eine Erinnerung. Indem diese Gewissheiten entfallen, brechen Konflikte auf, derer die politische Klasse nicht Herr wird. Mehr noch, offenbar gar nicht Herr werden will, um den Menschen nicht noch mehr Veränderungen zumuten zu müssen.

Politik zeigt sich dieser Tage nicht mehr als Wettbewerb der Ideen, wie die Zukunft gestaltet werden kann, als vielmehr als Wettbewerb der Verwaltung des Wandels.

Ihn aktiv zu gestalten, kommt sozialdemokratischen, christlichsozialen und christdemokratischen Parteien ebenso wenig in den Sinn, wie jenen an den linken und rechten Rändern. Alle blicken sie mit Zuversicht in die Vergangenheit und suchen dort ihr Heil. Womit das Stabilitätsversprechen der autoritären und diktatorischen Regime unerhört attraktiv wird. Es verspricht eine Prolongation des Status quo.

Die Verrenkungen des Herrn Scholz können durchaus als der Versuch verstanden werden, seine SPD zu stabilisieren. Und die veränderungsaversen Teile der deutschen Gesellschaft, die im Modell des Beiseitestehens – wie es einst Kanzler Kohl per Scheckheft praktiziert hat – die Ultima Ratio erkennen, nicht zu verschrecken. Nun führt der wilde Ausdruckstanz zur Beschwörung der Stabilität, wie ihn Scholz zum Besten gibt, nicht zum Ziel. Es gerät vielmehr immer mehr, immer schneller ins Rutschen, auf allen Ebenen und in allen Beziehungen. Es ist an der Zeit, einfürallemal zu erkennen, dass mit Putins Russland und mit Irans klerikalem Regime keine Stabilität zu erreichen ist. Selbst wenn die Erkenntnis schmerzt. (fksk, 22.01.23)

Woche 49 – Scholz schließt die Türe

Keine Winterpause im Osten der Ukraine. Ungebrochen tobt die Schlacht um Bakhmut, die Ukraine greift russische Armee- und Logistikstützpunkte im Hinterland an, Russland hingegen zerstört weiter die zivile Infrastruktur der Ukraine. Odessa ist ohne Strom, nicht für Tage, wohl für Wochen. Unterdessen sagen die Amerikaner nochmals mehr Hilfe zu und geben bekannt, dass sie nichts gegen die Lieferung der deutschen Panzer vom Typ Leopard an die Ukraine einzuwenden hätten. Womit sich eines der wichtigsten Argumente der Berliner Regierung über Nacht verflüchtigt.

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Olaf Scholz, deutscher Zeitenwendekanzler, hat dem noch keine Taten folgen lassen. Angesichts des konsequent bedächtigen Vorgehens Deutschlands ist mit einer schnellen Lieferung des schweren Geräts auch nicht bald zu rechnen. Aber Scholz hat etwas anderes geliefert, eine Aussage zu seinem letzten Telefonat mit Putin. Der, so Scholz, beharre auf seinen territorialen Forderungen, die Bereitschaft zum Einlenken und Verhandeln sei im Kreml schlichtweg nicht gegeben.

Mithin nichts Neues im Osten.

Neu daran ist freilich, dass Scholz mit dieser in der Öffentlichkeit vorgetragenen Erkenntnis, Deutschlands und des Westens Entschlossenheit, die Ukraine tatkräftig zu unterstützen, verbunden hat. Nun braucht man nicht daran zweifeln, dass der deutsche Regierungschef bisher schon wusste, was Sache ist. Nur hat er, so wie Macron in Paris, die Möglichkeit des Verhandelns offen gelassen – wofür er, wie Macron, im Westen wie in den östlichen Ländern der Union harsch gescholten worden ist.

Die Beiläufigkeit, mit der Scholz die Sinn- und Aussichtslosigkeit von Gesprächen mit den Russen festgehalten hat, ist indes bemerkenswert. Es ist, als hätte er sehr leise die Türe zum Kreml geschlossen. Dafür umso fester.

So Putin sich sein Gespür für Zwischentöne behalten hat, dann wird er diesen leisen, aber kräftigen Schlussstrich registriert haben. So wie die nun regelmäßig erfolgenden Versicherungen aus Paris, die Ukraine mit Waffen und Material zu versorgen und auszurüsten.

Es mag sein, dass die beiden Herren Putin tatsächlich einen Ausweg öffnen wollten, zumal nach dem Rückzug aus Kherson. Mag sein, dass auch die US-Amerikaner darauf hofften, dass sich damit eine Chance auf fruchtbringende Friedensgespräche eröffne. Die Hoffnung stirbt zuletzt, heißt es.

Hört man, was Scholz sagt, was Macron twittert und was die Amerikaner nun wieder ein ums andere Mal mit Nachdruck versichern, dass sie der Ukraine noch mehr Raketensysteme und noch mehr Artillerie liefern werden, und zwar schnell, dann ist diese Perspektive endgültig aus dem Spiel.

Und es scheint, dass die Botschaft im Kreml angekommen ist. Putin ließ es sich nicht nehmen, mit einem Glas Sekt in der Hand vor ausgewählten Soldaten über den Krieg zu sinnieren. Also in erster Linie darüber, dass die Ukraine an allem schuld ist, weil sie angefangen habe. Wer hat denn die Brücke zur Krim beschossen? fragt Putin und erklärt und rechtfertigt damit den gezielten Beschuss ziviler Infrastruktur in der Ukraine. Das Einzige, worin die russische Armee Erfolge vorweisen kann.

Bisher hat sich Putins Kalkül schlicht nicht erfüllt. Aus dem Krieg, angelegt auf drei Tage, ist ein Krieg, der sich nun bald über ein Jahr zieht, geworden. Die Eroberung Kiyvs ist vor aller Weltöffentlichkeit gescheitert. Ebenso die Eroberung Kharkivs. Im Osten hat die ukrainische Armee seit Sommer große Gebiete befreit, zuletzt im Süden Kherson. Die russische Armee ist empfindlich getroffen. Manche sagen, sie sei auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, zu keiner großen Offensive mehr in der Lage.

Was Putin bleibt, ist, auf Raketenangriffe und Bombardierungen zurückzugreifen, die Infrastruktur der Ukraine zu zerstören, und die Männer, die die Armee vor die ukrainischen Stellungen treibt, die dabei fallen oder verletzt werden, die mit jedem Angriff aber die ukrainischen Bestände an Munition schrumpfen lassen. Bis, vielleicht, die Munition ausgeht, und die Ukrainer dann Gelände preisgeben müssen. Wenn denn diese Rechnungen aufgehen.

Der Winter wird für die Menschen in der Ukraine hart. Härter als alles, was man sich westlich der ukrainischen Grenzen ausmalen kann. Aber, es strömt Hilfe ins Land, in Form von Generatoren und Transformatoren, in Form von Feuerwehrwägen und Erste-Hilfe-Ausrüstung. Es braucht die Ukraine nicht nur Waffen und Munition, sie braucht alles, was dazu beiträgt, die zivilen Infrastrukturen wie auch immer aufrechtzuerhalten. Solange diese Hilfe ankommt und wirkt, wenn auch nur auf niedrigstem, aber spürbaren Niveau, wird der Widerstandsgeist der ukrainischen Bevölkerung aufrecht bleiben.

Putin hat sich nicht nur militärisch verschätzt, er hat die Gesellschaften und ihre Resilienz gröblich unterschätzt. Die ukrainische insofern, als Frauen und Männer bereit sind, für die Freiheit ihres Landes zu kämpfen und zu sterben. Auch jene Menschen, deren Muttersprache Russisch ist. Die westliche hat Putin darin falsch eingeschätzt, als er sich sicher gewesen sein muss, dass nach einem Strohfeuer der Solidarität, der Westen sich den von Russland geschaffenen Fakten beugen werde. Und wenn nicht bald, so doch im Herbst, wenn – wie von einer kruden Koalition aus Links- und Rechtsaußen angekündigt – Europa einen heißen Herbst, Aufstände gar erleben werde. Und die Wirtschaft kollabiere, weil es ihr an russischem Gas fehlt.

Nichts von alledem. Keine Massenproteste, keine Aufstände, keine verzweifelten Menschen auf den Straßen, keine Arbeitslosen vor verschlossenen Fabriken oder Büros. Die europäische Wirtschaft verzeichnet immer noch Wachstum, klein, aber real. Die Energieversorgung ist so weit gesichert. Die Regierungen nehmen viel Geld in die Hand, um Folgen der Inflation abzumildern – auch wenn das manchen mit Blick auf die Schulden Schaudern macht.

Ohne es zu wollen, treibt Putin einen wesentlichen Wandel der europäischen Wirtschaft voran, der seinen wirtschaftlichen und politischen Interessen diametral entgegengesetzt ist. Die deutsche Industrie hat in den letzten Monaten durch gezielte Maßnahmen ihren Energieverbrauch im 40 Prozent gesenkt, ohne die Produktion einzuschränken. Es gibt keinen vernünftigen Grund, diesen Erfolg nach dem Ende der Energiekrise leichtfertig aufzugeben, verschafft er ihr doch einen spürbaren Wettbewerbsvorteil, kommt den Klimazielen entgegen und verringert die Abhängigkeit erst von Russland, auf Sicht von allen anderen Energielieferanten. Ein Gewinn.

Noch aber hat die Ukraine den Krieg nicht gewonnen, noch hat sie nicht alle ihre Gebiete befreit. Noch herrscht Krieg und Krieg zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass er unberechenbar ist. Sicher ist nur, wie immer er endet und wann, ein Zurück zum Status quo ante ist unvorstellbar. (fksk, 11.12.22)

Woche 48 – Pariser Sicherheitsgarantien

Neun Monate Krieg in der Ukraine. Am östlichen Ufer des Dnipro sollen russische Verbände teilweise ihre Stellungen räumen, es soll an einem Ort sogar schon die ukrainische Flagge gehisst worden sein. Genaues weiß man nicht. Vor Bakhmut gehen die schweren Gefechte weiter, die Verluste auf beiden Seiten steigen, die Stadt ist ein Trümmerfeld. Mal heißt es, die ukrainischen Verteidiger seien im Vorteil, dann wieder werden russische Geländegewinne vermeldet. Minimale nur, teuer erkauft. Präsident Macron besucht Präsident Biden, beide meinen, man könne mit Russland verhandeln, wenn...

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...Russland sich aus allen ukrainischen Gebieten zurückziehe und die Integrität des Landes anerkenne, so Biden,...

...und dann ließe sich auch über die Sicherheitsbedürfnisse Russlands reden, meint Macron...

... währenddessen Deutschlands Kanzler Scholz wieder einmal mit Putin telefoniert und erfährt, dass der Krieg, dass das alles längst schon vorüber wäre, unterstützte der Westen nicht die Ukraine. Offenbar liest Russlands Präsident die Aussagen mancher deutscher Intellektueller, Publizisten und Ex-Generäle sehr genau. Denn, so weiß man in diesen Kreisen, längst herrschte wieder Ruhe in Europa, würden die Ukrainer nicht mit Waffen und Systemen und Informationen unterstützt und versorgt. Womit sie ohne jeden Zweifel recht haben. Es herrschte dann Friedhofsruhe in der Ukraine. Im Sinne des Wortes.

Die interessanteste Aussage aber ist jene Macrons, der anbietet, über die Sicherheitsbedürfnisse Russlands verhandeln zu wollen und Russland dabei auch Garantien in Aussicht stellt, Moskaus Ansprüche mithin als gerechtfertigt einstuft. Was angesichts des Umstands, dass es Russland war und ist, welches die Sicherheitsinteressen eines souveränen Staates missachtet, einigermaßen kreativ klingt. Es klingt, verstärkt durch das Telefonat zwischen Berlin und Moskau, einmal mehr nach dem alten Lied, wonach Deutschland und Frankreich nur allzu bereit wären, dem eigenen Wohlergehen ein Stück Ukraine zu opfern. Es ist das alte Lied, wonach Westeuropa feige ist und träge, Osteuropa hingegen voll des Elans, Freiheit und Demokratie zu verteidigen (was angesichts mancher Regierungen im EU-Osten nun auch wieder kreativ klingt). Russland indes tönt zurück, man könne gerne über alles verhandeln, so Kiyv den Verlust aller von Russland eingeforderten Territorien akzeptiere, die Waffen niederlege und weder der EU noch der Nato beitrete.

Womit klar ist, dass dieser Krieg auf dem Schlachtfeld entschieden werden wird, da es nichts gibt, worüber man verhandeln könnte. So einfach ist das.

Was bleibt, ist die Frage, was die Töne aus Paris zu bedeuten haben. Denn dass Macron annimmt, die Ukraine wäre nach ihren beeindruckenden militärischen Erfolgen bereit, Abstriche in ihrem Sicherheitsbedürfnis zu machen, ist unrealistisch. Es passt auch nicht zu den verstärkten Anstrengungen Frankreichs, die Ukraine endlich mit Waffensystemen zu unterstützen. Es passt schon gar nicht zu den freundlichen, gar vertrauten Tönen, die letzthin zwischen Kiyv und Paris zu hören waren. Frankreich ist, wie Deutschland, wie die gesamte EU, in diesem Krieg Partei auf Seiten der Ukraine.

Es ließe sich die Sicherheitsgarantie, die Macron in den Raum gestellt hat, auch anders verstehen. Als Garantie dafür, dass Putin und Russland nach einem verlorenen Krieg nicht in Frage gestellt werden; dass der Westen definitiv kein Interesse daran hat, Russland zerfallen zu sehen; dass der Westen vielmehr ein vitales Interesse daran hat, dass Russland in sicheren und garantierten Grenzen existiert.

Was im ersten Moment undenkbar klingt, ist so unwahrscheinlich nicht. Ein verlorener Krieg, kollabierende russische Sicherheitsstrukturen, eine zusammenbrechende Wirtschaft, Diadochenkämpfe um die Nachfolge Putins und jede Menge alter Rechnungen im Inneren wie auch mit Nachbarstaaten – nichts ist undenkbar. Vielmehr muss man mit allem rechnen.

Nun gibt es Stimmen, die meinen, davon dürfe man sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Gerade diese Sorge würde vom Kreml gezielt gestreut, dabei sei das Beste, was Russland passieren könne, dass dieses alte Imperium endlich zerfalle, ein für allemal und also Platz mache für Neues.

Dieses Neue käme aber verbunden mit einer unerfreulichen Frage, die bereits nach dem Zerfall der Sowjetunion für Unruhe gesorgt hat, der Frage, wer denn über das russische Atomwaffenarsenal – dem größten der Welt –, das Sagen habe. Wer garantiert nach einem Zerfall Russlands, dass die Nachfolgestaaten so verantwortungsbewusst wie seinerzeit die Ukraine handeln und ihre Atomsprengköpfe und -kapazitäten internationaler Kontrolle übergeben? Wer kann sicher gehen, dass unter den Nachfolgestaaten nicht ein zweites Nordkorea entsteht, mit wilden, nuklearen Phantasien und – Möglichkeiten?

Kann man es sich noch vorstellen, dass das Atomwaffenarsenal etwa Pakistans bei einer Machtübernahme durch Taliban von US-Amerikanern gesichert und (wohl mit dem Einverständnis etwa Chinas und Indiens) außer Landes gebracht würde, so ist eine derartige Operation in einem Russland im Chaos nur schwer vorstellbar.

Russland ist, das zeigt dieser Krieg, den es in die Ukraine getragen hat und dort mit aller Gewalt austrägt, ein Koloss auf tönernen Füßen. Seine Armee war bereits im Februar/März schon nicht in der Lage, Kiyv zu erobern. Heute, nach neun Monaten Krieg ist diese Armee in einem noch viel schlechteren Zustand. Heute erscheint die Implosion Russlands eine reale Möglichkeit zu sein.

Vielleicht ist Macrons Angebot der Sicherheitsgarantien also ganz anders zu verstehen, nämlich als das Angebot, dass dieser Moment der Schwäche vom Westen nicht gegen Russland genutzt wird; dass Putin und seine Kamarilla nicht in Frage gestellt werden; dass der Westen keinen Regime-Change in Moskau anstrebt; dass Putin die Möglichkeit hat, den Krieg gegen die Ukraine verloren zu geben ohne Russland zu verlieren.

Es ist vielleicht der letzte Exit, der sich der russischen Regierung bietet. (fksk, 04.12.22)

Woche 25 – Hunger für die Welt

Woche siebzehn. Die Schlacht um Sjewjerodonezk ist entschieden, die ukrainischen Verteidiger haben ihre Positionen geräumt, die russischen Angreifer haben nach einer langen und verlustreichen Schlacht die Stadt oder das, was davon noch über ist, in ihrer Kontrolle. Unterdessen gelangen nicht nur deutsche Panzerhaubitzen in die Ukraine, sondern auch amerikanische Raketenwerfer. Während Russland aus seinem Arsenal herkömmlicher Waffen schöpft, können die Streitkräfte Kiews nun auf hochmodernes Equipment zugreifen. Ob und wie sich dieser Umstand an der Front auswirken wird, wird in den kommenden Wochen zu sehen sein.

Weizenfeld im Cherkasy Oblast/Ukraine
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In Elmau, in der Idylle der bayerischen Berge, dort, wo der Krieg wie von einer anderen Welt erscheint, geht unterdessen der G7-Gipfel über die Bühne. Wobei nicht allein die sieben wichtigsten westlichen Industriestaaten zusammentreffen, Deutschlands Kanzler Scholz hat Gäste eingeladen. Aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Es geht um viel.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine nimmt einen der wichtigsten Weizenproduzenten der Welt vom Markt. Die Häfen sind gesperrt und über Land stehen zu wenig Kapazitäten zur Verfügung das Getreide aus dem Land und in die Welt zu bringen. Nebenbei plündert die russische Armee dem Vernehmen nach die ukrainischen Lager, transportiert den Weizen nach Russland – oder vernichtet ihn vor Ort. Wegen der Kämpfe kann ein Gutteil der Ernte nicht eingebracht, die Saat nicht ausgebracht werden. Was für die ukrainischen Bauern schlimm ist, ist in seinen Auswirkungen für die Menschen Afrikas und des Nahen Osten schlichtweg katastrophal. Denn auch Russland liefert derzeit nicht.

Es steigen die Preise für den Weizen, für den Weizen, von dem es in den Ländern des Südens nun zu wenig gibt, als dass man die Bevölkerung ausreichend versorgen könnte. Mit anderen Worten, es droht eine Hungersnot von Ausmaßen, wie man sie seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht mehr erlebt hat. Also drohen Unruhen, Konflikte und – Migrationsbewegungen.

Herr Putin und seine Vasallen versichern unterdessen, an ihnen läge es nicht. Es läge einzig und allein an der Ukraine und am Westen, an den Sanktionen des Westens, die die Lieferungen verhindern. Woraus man folgern kann, aus russischer Sicht zwingend folgern muss, dass der Westen einmal mehr den Süden am ausgestreckten Arm verhungern lässt.

Diese Erzählung verfängt. Das hatte und hat das Regime in Moskau so erwartet. Es kümmert die Menschen in Afrika und im Nahen Osten die Frage, ob Russland nun Aggressor ist oder nicht, wenig. Was viel mehr eingängig ist, ist die Geschichte, wie sie Moskau darstellt. Auf der einen Seite die alten Kolonialmächte Europas, auf der anderen Russland, welches bereits in Gestalt der verblichenen Sowjetunion den heldenhaften Kampf gegen Kolonialismus und Imperialismus unterstützt hat und sich selbst heute den imperialen Ansprüchen Europas gegenübersieht und sich dagegen verteidigen muss. Weswegen die Weizenknappheit auch nicht der russischen Politik geschuldet ist, als vielmehr dem Ränkespiel des machthungrigen Westens.

Eines Westens, der willens und bereit ist, die Welt hungern zu lassen, nur um seine Ziele, etwa der Ausweitung seiner Interessenssphäre tief in mythisch russisches Gebiet, zu erreichen.

Tatsache ist, dass Russlands Getreidelieferungen nicht dem Sanktionsregime der EU unterliegen. Russland könnte liefern. Wenn es wollte. Russland könnte ukrainische Lieferungen über den Seeweg zusichern. Wenn es wollte. Nur Russland will nicht.

Der drohende Hunger ist als Instrument russischer Geopolitik zu verlockend, als dass Moskau auf ihn verzichten wird. So viel Prognose darf sein.

Es steckt der Westen in jeder Hinsicht in der Zwickmühle. Zum einen wird er für die Knappheit verantwortlich gemacht. Und werden erst Bilder hungernder, verhungernder und verhungerter Menschen publiziert, wächst der Druck auf den Westen, was auch immer in seiner Macht steht zu unternehmen, um dem Sterben ein Ende zu machen. Für Russland bedeutet das, die Aufhebung aller Sanktionen gegen das Land.

Je länger der Westen zuwartet, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sich zudem wieder mehr Migranten auf den Weg nach Europa machen. Wobei diese Fluchtbewegung aus den Hungergebieten jene des Jahres 2015 aller Wahrscheinlichkeit nach in den Schatten stellen wird. Mit allen innenpolitischen Auswirkungen in den Ländern der Europäischen Union. Und mit mehr Toten an ihren Außengrenzen als je zuvor. Eine Lage, die ausweglos erscheint. Es sei denn, Russland beginnt wieder Getreide zu liefern – gegen Aufhebung ausnahmslos aller Sanktionen. Versteht sich.

Das Regime in Moskau wird an dieser Geschichte und dieser Erpressung festhalten. Schließlich kann dieser Hebel unter geringstem Aufwand gegen die Europäische Union eingesetzt werden.

Dass Russlands Erzählung in den Ländern des Globalen Südens so sehr verfängt, daran sind Europa und der Westen freilich selbst schuld. In den Jahren seit dem Fall der Mauer hat es die Union nicht vermocht ihr Verhältnis zu den Ländern beispielsweise Afrikas auf eine neue, faire Basis zu stellen. Die Welle der Demokratisierung, die Afrika in den 90er Jahren prägte, erfolgte gänzlich ohne europäisches Zutun. Sie fand nicht einmal Anerkennung. Als hätte sich nichts geändert in Malawi, in Zambia, in Tansania, in Südafrika und Namibia, in Ghana und in Kamerun, in Mali und Senegal, als wäre die Geschichte über Afrika hinweggegangen, blieb der Kontinent in erster Linie Absatzmarkt, Hinterhof und je nach Nachrichtenlage eine einzige Konzentration aus Katastrophen oder ein Sehnsuchtsbild aus kolonialen Tagen.

Eine Partnerschaft auf Augenhöhe hat sich nicht entwickelt. Echtes Interesse an Afrika hat Europa nicht entwickelt. Vielleicht auch nicht entwickeln wollen. Nicht in den letzten 30 Jahren. Also wenden sich afrikanische Regierungen zusehends China zu. Oder Russland, das keine Fragen stellt, wenn Menschenrechte verletzt werden. Russland stellt dafür Söldner.

Lädt Herr Scholz nun die Staatschefs von Argentinien, Indien, Indonesien, Südafrika und Senegal in Elmau zum Gipfeltreffen der G7, dann auch um der Erzählung Russlands Fakten entgegenzuhalten. In letzter Minute.

Es braucht mehr, eine andere Politik. Und es braucht Lösungen, den Hunger zu stillen. Akut und auf lange Sicht. (fksk, 26.06.22)