Geopolitik

Woche 25 – Hunger für die Welt

Woche siebzehn. Die Schlacht um Sjewjerodonezk ist entschieden, die ukrainischen Verteidiger haben ihre Positionen geräumt, die russischen Angreifer haben nach einer langen und verlustreichen Schlacht die Stadt oder das, was davon noch über ist, in ihrer Kontrolle. Unterdessen gelangen nicht nur deutsche Panzerhaubitzen in die Ukraine, sondern auch amerikanische Raketenwerfer. Während Russland aus seinem Arsenal herkömmlicher Waffen schöpft, können die Streitkräfte Kiews nun auf hochmodernes Equipment zugreifen. Ob und wie sich dieser Umstand an der Front auswirken wird, wird in den kommenden Wochen zu sehen sein.

Weizenfeld im Cherkasy Oblast/Ukraine
© Eugene/unsplash.com

In Elmau, in der Idylle der bayerischen Berge, dort, wo der Krieg wie von einer anderen Welt erscheint, geht unterdessen der G7-Gipfel über die Bühne. Wobei nicht allein die sieben wichtigsten westlichen Industriestaaten zusammentreffen, Deutschlands Kanzler Scholz hat Gäste eingeladen. Aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Es geht um viel.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine nimmt einen der wichtigsten Weizenproduzenten der Welt vom Markt. Die Häfen sind gesperrt und über Land stehen zu wenig Kapazitäten zur Verfügung das Getreide aus dem Land und in die Welt zu bringen. Nebenbei plündert die russische Armee dem Vernehmen nach die ukrainischen Lager, transportiert den Weizen nach Russland – oder vernichtet ihn vor Ort. Wegen der Kämpfe kann ein Gutteil der Ernte nicht eingebracht, die Saat nicht ausgebracht werden. Was für die ukrainischen Bauern schlimm ist, ist in seinen Auswirkungen für die Menschen Afrikas und des Nahen Osten schlichtweg katastrophal. Denn auch Russland liefert derzeit nicht.

Es steigen die Preise für den Weizen, für den Weizen, von dem es in den Ländern des Südens nun zu wenig gibt, als dass man die Bevölkerung ausreichend versorgen könnte. Mit anderen Worten, es droht eine Hungersnot von Ausmaßen, wie man sie seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht mehr erlebt hat. Also drohen Unruhen, Konflikte und – Migrationsbewegungen.

Herr Putin und seine Vasallen versichern unterdessen, an ihnen läge es nicht. Es läge einzig und allein an der Ukraine und am Westen, an den Sanktionen des Westens, die die Lieferungen verhindern. Woraus man folgern kann, aus russischer Sicht zwingend folgern muss, dass der Westen einmal mehr den Süden am ausgestreckten Arm verhungern lässt.

Diese Erzählung verfängt. Das hatte und hat das Regime in Moskau so erwartet. Es kümmert die Menschen in Afrika und im Nahen Osten die Frage, ob Russland nun Aggressor ist oder nicht, wenig. Was viel mehr eingängig ist, ist die Geschichte, wie sie Moskau darstellt. Auf der einen Seite die alten Kolonialmächte Europas, auf der anderen Russland, welches bereits in Gestalt der verblichenen Sowjetunion den heldenhaften Kampf gegen Kolonialismus und Imperialismus unterstützt hat und sich selbst heute den imperialen Ansprüchen Europas gegenübersieht und sich dagegen verteidigen muss. Weswegen die Weizenknappheit auch nicht der russischen Politik geschuldet ist, als vielmehr dem Ränkespiel des machthungrigen Westens.

Eines Westens, der willens und bereit ist, die Welt hungern zu lassen, nur um seine Ziele, etwa der Ausweitung seiner Interessenssphäre tief in mythisch russisches Gebiet, zu erreichen.

Tatsache ist, dass Russlands Getreidelieferungen nicht dem Sanktionsregime der EU unterliegen. Russland könnte liefern. Wenn es wollte. Russland könnte ukrainische Lieferungen über den Seeweg zusichern. Wenn es wollte. Nur Russland will nicht.

Der drohende Hunger ist als Instrument russischer Geopolitik zu verlockend, als dass Moskau auf ihn verzichten wird. So viel Prognose darf sein.

Es steckt der Westen in jeder Hinsicht in der Zwickmühle. Zum einen wird er für die Knappheit verantwortlich gemacht. Und werden erst Bilder hungernder, verhungernder und verhungerter Menschen publiziert, wächst der Druck auf den Westen, was auch immer in seiner Macht steht zu unternehmen, um dem Sterben ein Ende zu machen. Für Russland bedeutet das, die Aufhebung aller Sanktionen gegen das Land.

Je länger der Westen zuwartet, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sich zudem wieder mehr Migranten auf den Weg nach Europa machen. Wobei diese Fluchtbewegung aus den Hungergebieten jene des Jahres 2015 aller Wahrscheinlichkeit nach in den Schatten stellen wird. Mit allen innenpolitischen Auswirkungen in den Ländern der Europäischen Union. Und mit mehr Toten an ihren Außengrenzen als je zuvor. Eine Lage, die ausweglos erscheint. Es sei denn, Russland beginnt wieder Getreide zu liefern – gegen Aufhebung ausnahmslos aller Sanktionen. Versteht sich.

Das Regime in Moskau wird an dieser Geschichte und dieser Erpressung festhalten. Schließlich kann dieser Hebel unter geringstem Aufwand gegen die Europäische Union eingesetzt werden.

Dass Russlands Erzählung in den Ländern des Globalen Südens so sehr verfängt, daran sind Europa und der Westen freilich selbst schuld. In den Jahren seit dem Fall der Mauer hat es die Union nicht vermocht ihr Verhältnis zu den Ländern beispielsweise Afrikas auf eine neue, faire Basis zu stellen. Die Welle der Demokratisierung, die Afrika in den 90er Jahren prägte, erfolgte gänzlich ohne europäisches Zutun. Sie fand nicht einmal Anerkennung. Als hätte sich nichts geändert in Malawi, in Zambia, in Tansania, in Südafrika und Namibia, in Ghana und in Kamerun, in Mali und Senegal, als wäre die Geschichte über Afrika hinweggegangen, blieb der Kontinent in erster Linie Absatzmarkt, Hinterhof und je nach Nachrichtenlage eine einzige Konzentration aus Katastrophen oder ein Sehnsuchtsbild aus kolonialen Tagen.

Eine Partnerschaft auf Augenhöhe hat sich nicht entwickelt. Echtes Interesse an Afrika hat Europa nicht entwickelt. Vielleicht auch nicht entwickeln wollen. Nicht in den letzten 30 Jahren. Also wenden sich afrikanische Regierungen zusehends China zu. Oder Russland, das keine Fragen stellt, wenn Menschenrechte verletzt werden. Russland stellt dafür Söldner.

Lädt Herr Scholz nun die Staatschefs von Argentinien, Indien, Indonesien, Südafrika und Senegal in Elmau zum Gipfeltreffen der G7, dann auch um der Erzählung Russlands Fakten entgegenzuhalten. In letzter Minute.

Es braucht mehr, eine andere Politik. Und es braucht Lösungen, den Hunger zu stillen. Akut und auf lange Sicht. (fksk, 26.06.22)

Woche 21 – Klimapolitik ist Industriepolitik ist Geopolitik

Woche dreizehn. Die russischen Kräfte konzentrieren ihre Angriffe im Donbass und erobern Sjewjerodonezk, Lyman sowie andere Orte. Die Kämpfe in dieser Region nehmen zusehends den Charakter der Materialschlachten des Ersten Weltkriegs an, massive Artilleriegefechte, langsames Vorrücken gegen befestigte und ausgebaute Positionen. Im Gegenzug setzt die Ukraine rund um Cherson zum Angriff an. Derweilen klingelt das Telefon im Kreml immer wieder. Mal ist es Herr Nehammer aus Österreich, dann wieder die Herren Scholz und Macron. Und jeder bekommt zu hören, was er hören soll. Herr Scholz vor allem düstere Warnungen vor einem zu großen Engagement Deutschlands.

© Tom Hauk / unsplash.com

Unterdessen eröffnet Putin eine weitere Front: Durch seinen Angriffskrieg ist die globale Weizenversorgung in Gefahr. Die Ukraine kann über ihre verbliebenen Häfen nicht exportieren, Russland hält sich zurück und beobachtet die rasant steigenden Preise. Während also die Welthungerhilfe vor Hungersnöten im sogenannten globalen Süden warnt, fordert Putin, der Westen müsse seine Sanktionen aufgeben, erst dann könne Russland daran danken, den Weltmarkt zu bedienen. Und, auch das verlautet aus Moskau, die Gewinne aus den gestiegenen Erdöl- und Erdgaspreisen, die steckt der Kreml stantepede in die Rüstung und die Finanzierung seines Kriegs.

Als am 20. Mai im Rahmen der Konferenz „Time to Decide Europe Summit“ die Zukunft des Kriegs in der Ukraine am Podium diskutiert wird, bleibt es Olivia Lazard vorbehalten, die Perspektive zu weiten. Die Forscherin fokussiert in ihrer Arbeit auf die geopolitischen Aspekte der Klimakrise und die Konflikte, die mit ihr einhergehen. Ihr Augenmerk gilt auch, und das ist in diesem Zusammenhang wesentlich, der Rolle der Rohstoffe.

Gemeinhin wird festgestellt, in Ermangelung moderner Industrien sei Russland auf den Verkauf seine Rohstoffe angewiesen. Und das Fazit dieser Feststellung lautet, dass Russland sich, wenn es die Märkte im Westen verliere, in eine ungesunde Abhängigkeit von China begeben müsse. Auch daran ist vorderhand nichts falsch. Nur ist die Geschichte von Russland und den Rohstoffen nicht damit erschöpfend erzählt, wenn man sich nur auf Russlands eigene Ressourcen konzentriert.

Russland ist ein Rohstoffhändler. Und als solcher mit den Entwicklungen am Weltmarkt auf das innigste vertraut. Beschließt die Europäische Union den Ausstieg aus fossilen Rohstoffen (unabhängig vom Krieg in der Ukraine), dann bedeutet das einen massiven Verlust für Russland.

Was der Westen indes braucht, um die Energiewende erfolgreich durchzuführen, sind andere Rohstoffe. Die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ hat sie dieser Tage dankenswerterweise zusammengefasst: Lithium, Kobalt, Kupfer, Nickel und Seltene Erden. In Europa sind alle diese Stoffe nur in kleinen Mengen vorhanden, und wo sie vorhanden sind, ist es fraglich, ob ihr Abbau ökonomisch argumentierbar und mit dem Umweltschutz vereinbar ist. Wie ihr Abbau in Afrika und Lateinamerika vonstatten geht, davon ist bisweilen zu hören und zu lesen, zu genau aber will das niemand wissen.

Diesen Umstand macht Russland sich zunutze.

Die „Gruppe Wagner“, die zurzeit berüchtigste Söldnertruppe der Welt, ist ein russisches Unternehmen. Aktiv in der Demokratischen Republik Kongo, in der Zentralafrikanischen Republik, in Mali (siehe auch „Grosny, Aleppo, Butscha und Moura“), in Syrien und selbstredend auch in der Ukraine. Die „Gruppe Wagner“ taucht verlässlich überall dort auf, wo Russland strategische und ökonomische Interessen hat und durchzusetzen sucht.

Olivia Lazard nimmt den Krieg in der Ukraine als Teil einer weit umfassenderen Strategie Russlands wahr. Einer Strategie, die Russland in essentiellen Fragen des 21. Jahrhunderts an zentraler Stelle positionieren soll.

Am 4. März hält Lazard in einem Gespräch mit dem Experten für Geopolitik und Umwelt François Gemenne von der Universität Lüttich/Liege fest, Putin habe wiederholt betont, dass er Russland auf der Gewinnerseite der globalen Erwärmung sehen wolle. Und seine Politik entsprechend ausrichte.

Nun ist alles, was im Zusammenhang mit dem Klimawandel prognostiziert wird, mit Vorsicht zu genießen, allein weil die Implikationen und das Zusammenspiel des Weltklimas schlichtweg zu vielfältig und unbekannt sind, als dass sich mit Verlässlichlichkeit sagen ließe, diese oder jene Region sei ein sicherer Gewinner, eine andere der sichere Verlierer. Aber die Aussicht, dass die Tundra Sibiriens Weizenfeldern weicht, sorgt im Kreml für Zukunftsoptimismus. Nirgendwo sonst kann durch die Erwärmung so viel potentielles Ackerland gewonnen werden wie hier. Womit die Stellung Russlands als der Weizenkammer, als der Ernährer der Welt auf Jahrzehnte hinaus gesichert wäre. „Putin“, stellt Lazard fest, „versucht für Russland landwirtschaftliche Flächen zu horten, wodurch die Abhängigkeit des Weltagrarmarkts von Russland zunimmt.“

Das ist bei weitem noch nicht alles. Am 4. März wie am 20. Mai weist Lazard explizit auf eine weitere Komponente hin, die ihrer Meinung nach in ihrer geopolitischen Dimension noch immer nicht wahrgenommen wird – weil die EU sich immer noch nicht als geopolitisches Projekt begreift.

„Im Jahr 2021“, führt Lazard aus, „schloss die Europäische Union eine Partnerschaft mit der Ukraine zur Lieferung von Rohstoffen, die für die Dekarbonisierung und die Digitalisierung notwendig sind. Russlands Einmarsch in die Ukraine kann also als Versuch gesehen werden, zusätzlich zu den landwirtschaftlichen Ressourcen auch Bodenschätze zu horten, indem es sich Zugang zu Bodenschätzen außerhalb seines Territoriums verschafft.

Dies ist ein Verhaltensmuster, das wir immer häufiger bei Russland beobachten: Der Versuch, sich Einflusssphären in der Welt zu sichern, sei es in der Ukraine, in der Zentralafrikanischen Republik oder in Mali. Da sich der Klimawandel beschleunigt und sich die Energiesysteme verändern, möchte Russland Einfluss darauf nehmen, wie andere Länder und Regionen, einschließlich der Europäischen Union, in der Lage sein werden, effektiv auf erneuerbare Energien umzusteigen und die demokratische, geoökonomische und sozioökonomische Widerstandsfähigkeit angesichts des Klimawandels zu erhalten.“

Merke, Klimapolitik ist Industriepolitik ist Geopolitik. (fksk, 29.05.22)