Woche siebzehn. Die Schlacht um Sjewjerodonezk ist entschieden, die ukrainischen Verteidiger haben ihre Positionen geräumt, die russischen Angreifer haben nach einer langen und verlustreichen Schlacht die Stadt oder das, was davon noch über ist, in ihrer Kontrolle. Unterdessen gelangen nicht nur deutsche Panzerhaubitzen in die Ukraine, sondern auch amerikanische Raketenwerfer. Während Russland aus seinem Arsenal herkömmlicher Waffen schöpft, können die Streitkräfte Kiews nun auf hochmodernes Equipment zugreifen. Ob und wie sich dieser Umstand an der Front auswirken wird, wird in den kommenden Wochen zu sehen sein.
In Elmau, in der Idylle der bayerischen Berge, dort, wo der Krieg wie von einer anderen Welt erscheint, geht unterdessen der G7-Gipfel über die Bühne. Wobei nicht allein die sieben wichtigsten westlichen Industriestaaten zusammentreffen, Deutschlands Kanzler Scholz hat Gäste eingeladen. Aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Es geht um viel.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine nimmt einen der wichtigsten Weizenproduzenten der Welt vom Markt. Die Häfen sind gesperrt und über Land stehen zu wenig Kapazitäten zur Verfügung das Getreide aus dem Land und in die Welt zu bringen. Nebenbei plündert die russische Armee dem Vernehmen nach die ukrainischen Lager, transportiert den Weizen nach Russland – oder vernichtet ihn vor Ort. Wegen der Kämpfe kann ein Gutteil der Ernte nicht eingebracht, die Saat nicht ausgebracht werden. Was für die ukrainischen Bauern schlimm ist, ist in seinen Auswirkungen für die Menschen Afrikas und des Nahen Osten schlichtweg katastrophal. Denn auch Russland liefert derzeit nicht.
Es steigen die Preise für den Weizen, für den Weizen, von dem es in den Ländern des Südens nun zu wenig gibt, als dass man die Bevölkerung ausreichend versorgen könnte. Mit anderen Worten, es droht eine Hungersnot von Ausmaßen, wie man sie seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht mehr erlebt hat. Also drohen Unruhen, Konflikte und – Migrationsbewegungen.
Herr Putin und seine Vasallen versichern unterdessen, an ihnen läge es nicht. Es läge einzig und allein an der Ukraine und am Westen, an den Sanktionen des Westens, die die Lieferungen verhindern. Woraus man folgern kann, aus russischer Sicht zwingend folgern muss, dass der Westen einmal mehr den Süden am ausgestreckten Arm verhungern lässt.
Diese Erzählung verfängt. Das hatte und hat das Regime in Moskau so erwartet. Es kümmert die Menschen in Afrika und im Nahen Osten die Frage, ob Russland nun Aggressor ist oder nicht, wenig. Was viel mehr eingängig ist, ist die Geschichte, wie sie Moskau darstellt. Auf der einen Seite die alten Kolonialmächte Europas, auf der anderen Russland, welches bereits in Gestalt der verblichenen Sowjetunion den heldenhaften Kampf gegen Kolonialismus und Imperialismus unterstützt hat und sich selbst heute den imperialen Ansprüchen Europas gegenübersieht und sich dagegen verteidigen muss. Weswegen die Weizenknappheit auch nicht der russischen Politik geschuldet ist, als vielmehr dem Ränkespiel des machthungrigen Westens.
Eines Westens, der willens und bereit ist, die Welt hungern zu lassen, nur um seine Ziele, etwa der Ausweitung seiner Interessenssphäre tief in mythisch russisches Gebiet, zu erreichen.
Tatsache ist, dass Russlands Getreidelieferungen nicht dem Sanktionsregime der EU unterliegen. Russland könnte liefern. Wenn es wollte. Russland könnte ukrainische Lieferungen über den Seeweg zusichern. Wenn es wollte. Nur Russland will nicht.
Der drohende Hunger ist als Instrument russischer Geopolitik zu verlockend, als dass Moskau auf ihn verzichten wird. So viel Prognose darf sein.
Es steckt der Westen in jeder Hinsicht in der Zwickmühle. Zum einen wird er für die Knappheit verantwortlich gemacht. Und werden erst Bilder hungernder, verhungernder und verhungerter Menschen publiziert, wächst der Druck auf den Westen, was auch immer in seiner Macht steht zu unternehmen, um dem Sterben ein Ende zu machen. Für Russland bedeutet das, die Aufhebung aller Sanktionen gegen das Land.
Je länger der Westen zuwartet, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sich zudem wieder mehr Migranten auf den Weg nach Europa machen. Wobei diese Fluchtbewegung aus den Hungergebieten jene des Jahres 2015 aller Wahrscheinlichkeit nach in den Schatten stellen wird. Mit allen innenpolitischen Auswirkungen in den Ländern der Europäischen Union. Und mit mehr Toten an ihren Außengrenzen als je zuvor. Eine Lage, die ausweglos erscheint. Es sei denn, Russland beginnt wieder Getreide zu liefern – gegen Aufhebung ausnahmslos aller Sanktionen. Versteht sich.
Das Regime in Moskau wird an dieser Geschichte und dieser Erpressung festhalten. Schließlich kann dieser Hebel unter geringstem Aufwand gegen die Europäische Union eingesetzt werden.
Dass Russlands Erzählung in den Ländern des Globalen Südens so sehr verfängt, daran sind Europa und der Westen freilich selbst schuld. In den Jahren seit dem Fall der Mauer hat es die Union nicht vermocht ihr Verhältnis zu den Ländern beispielsweise Afrikas auf eine neue, faire Basis zu stellen. Die Welle der Demokratisierung, die Afrika in den 90er Jahren prägte, erfolgte gänzlich ohne europäisches Zutun. Sie fand nicht einmal Anerkennung. Als hätte sich nichts geändert in Malawi, in Zambia, in Tansania, in Südafrika und Namibia, in Ghana und in Kamerun, in Mali und Senegal, als wäre die Geschichte über Afrika hinweggegangen, blieb der Kontinent in erster Linie Absatzmarkt, Hinterhof und je nach Nachrichtenlage eine einzige Konzentration aus Katastrophen oder ein Sehnsuchtsbild aus kolonialen Tagen.
Eine Partnerschaft auf Augenhöhe hat sich nicht entwickelt. Echtes Interesse an Afrika hat Europa nicht entwickelt. Vielleicht auch nicht entwickeln wollen. Nicht in den letzten 30 Jahren. Also wenden sich afrikanische Regierungen zusehends China zu. Oder Russland, das keine Fragen stellt, wenn Menschenrechte verletzt werden. Russland stellt dafür Söldner.
Lädt Herr Scholz nun die Staatschefs von Argentinien, Indien, Indonesien, Südafrika und Senegal in Elmau zum Gipfeltreffen der G7, dann auch um der Erzählung Russlands Fakten entgegenzuhalten. In letzter Minute.
Es braucht mehr, eine andere Politik. Und es braucht Lösungen, den Hunger zu stillen. Akut und auf lange Sicht. (fksk, 26.06.22)