Woche 21 – Klimapolitik ist Industriepolitik ist Geopolitik

Woche dreizehn. Die russischen Kräfte konzentrieren ihre Angriffe im Donbass und erobern Sjewjerodonezk, Lyman sowie andere Orte. Die Kämpfe in dieser Region nehmen zusehends den Charakter der Materialschlachten des Ersten Weltkriegs an, massive Artilleriegefechte, langsames Vorrücken gegen befestigte und ausgebaute Positionen. Im Gegenzug setzt die Ukraine rund um Cherson zum Angriff an. Derweilen klingelt das Telefon im Kreml immer wieder. Mal ist es Herr Nehammer aus Österreich, dann wieder die Herren Scholz und Macron. Und jeder bekommt zu hören, was er hören soll. Herr Scholz vor allem düstere Warnungen vor einem zu großen Engagement Deutschlands.

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Unterdessen eröffnet Putin eine weitere Front: Durch seinen Angriffskrieg ist die globale Weizenversorgung in Gefahr. Die Ukraine kann über ihre verbliebenen Häfen nicht exportieren, Russland hält sich zurück und beobachtet die rasant steigenden Preise. Während also die Welthungerhilfe vor Hungersnöten im sogenannten globalen Süden warnt, fordert Putin, der Westen müsse seine Sanktionen aufgeben, erst dann könne Russland daran danken, den Weltmarkt zu bedienen. Und, auch das verlautet aus Moskau, die Gewinne aus den gestiegenen Erdöl- und Erdgaspreisen, die steckt der Kreml stantepede in die Rüstung und die Finanzierung seines Kriegs.

Als am 20. Mai im Rahmen der Konferenz „Time to Decide Europe Summit“ die Zukunft des Kriegs in der Ukraine am Podium diskutiert wird, bleibt es Olivia Lazard vorbehalten, die Perspektive zu weiten. Die Forscherin fokussiert in ihrer Arbeit auf die geopolitischen Aspekte der Klimakrise und die Konflikte, die mit ihr einhergehen. Ihr Augenmerk gilt auch, und das ist in diesem Zusammenhang wesentlich, der Rolle der Rohstoffe.

Gemeinhin wird festgestellt, in Ermangelung moderner Industrien sei Russland auf den Verkauf seine Rohstoffe angewiesen. Und das Fazit dieser Feststellung lautet, dass Russland sich, wenn es die Märkte im Westen verliere, in eine ungesunde Abhängigkeit von China begeben müsse. Auch daran ist vorderhand nichts falsch. Nur ist die Geschichte von Russland und den Rohstoffen nicht damit erschöpfend erzählt, wenn man sich nur auf Russlands eigene Ressourcen konzentriert.

Russland ist ein Rohstoffhändler. Und als solcher mit den Entwicklungen am Weltmarkt auf das innigste vertraut. Beschließt die Europäische Union den Ausstieg aus fossilen Rohstoffen (unabhängig vom Krieg in der Ukraine), dann bedeutet das einen massiven Verlust für Russland.

Was der Westen indes braucht, um die Energiewende erfolgreich durchzuführen, sind andere Rohstoffe. Die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ hat sie dieser Tage dankenswerterweise zusammengefasst: Lithium, Kobalt, Kupfer, Nickel und Seltene Erden. In Europa sind alle diese Stoffe nur in kleinen Mengen vorhanden, und wo sie vorhanden sind, ist es fraglich, ob ihr Abbau ökonomisch argumentierbar und mit dem Umweltschutz vereinbar ist. Wie ihr Abbau in Afrika und Lateinamerika vonstatten geht, davon ist bisweilen zu hören und zu lesen, zu genau aber will das niemand wissen.

Diesen Umstand macht Russland sich zunutze.

Die „Gruppe Wagner“, die zurzeit berüchtigste Söldnertruppe der Welt, ist ein russisches Unternehmen. Aktiv in der Demokratischen Republik Kongo, in der Zentralafrikanischen Republik, in Mali (siehe auch „Grosny, Aleppo, Butscha und Moura“), in Syrien und selbstredend auch in der Ukraine. Die „Gruppe Wagner“ taucht verlässlich überall dort auf, wo Russland strategische und ökonomische Interessen hat und durchzusetzen sucht.

Olivia Lazard nimmt den Krieg in der Ukraine als Teil einer weit umfassenderen Strategie Russlands wahr. Einer Strategie, die Russland in essentiellen Fragen des 21. Jahrhunderts an zentraler Stelle positionieren soll.

Am 4. März hält Lazard in einem Gespräch mit dem Experten für Geopolitik und Umwelt François Gemenne von der Universität Lüttich/Liege fest, Putin habe wiederholt betont, dass er Russland auf der Gewinnerseite der globalen Erwärmung sehen wolle. Und seine Politik entsprechend ausrichte.

Nun ist alles, was im Zusammenhang mit dem Klimawandel prognostiziert wird, mit Vorsicht zu genießen, allein weil die Implikationen und das Zusammenspiel des Weltklimas schlichtweg zu vielfältig und unbekannt sind, als dass sich mit Verlässlichlichkeit sagen ließe, diese oder jene Region sei ein sicherer Gewinner, eine andere der sichere Verlierer. Aber die Aussicht, dass die Tundra Sibiriens Weizenfeldern weicht, sorgt im Kreml für Zukunftsoptimismus. Nirgendwo sonst kann durch die Erwärmung so viel potentielles Ackerland gewonnen werden wie hier. Womit die Stellung Russlands als der Weizenkammer, als der Ernährer der Welt auf Jahrzehnte hinaus gesichert wäre. „Putin“, stellt Lazard fest, „versucht für Russland landwirtschaftliche Flächen zu horten, wodurch die Abhängigkeit des Weltagrarmarkts von Russland zunimmt.“

Das ist bei weitem noch nicht alles. Am 4. März wie am 20. Mai weist Lazard explizit auf eine weitere Komponente hin, die ihrer Meinung nach in ihrer geopolitischen Dimension noch immer nicht wahrgenommen wird – weil die EU sich immer noch nicht als geopolitisches Projekt begreift.

„Im Jahr 2021“, führt Lazard aus, „schloss die Europäische Union eine Partnerschaft mit der Ukraine zur Lieferung von Rohstoffen, die für die Dekarbonisierung und die Digitalisierung notwendig sind. Russlands Einmarsch in die Ukraine kann also als Versuch gesehen werden, zusätzlich zu den landwirtschaftlichen Ressourcen auch Bodenschätze zu horten, indem es sich Zugang zu Bodenschätzen außerhalb seines Territoriums verschafft.

Dies ist ein Verhaltensmuster, das wir immer häufiger bei Russland beobachten: Der Versuch, sich Einflusssphären in der Welt zu sichern, sei es in der Ukraine, in der Zentralafrikanischen Republik oder in Mali. Da sich der Klimawandel beschleunigt und sich die Energiesysteme verändern, möchte Russland Einfluss darauf nehmen, wie andere Länder und Regionen, einschließlich der Europäischen Union, in der Lage sein werden, effektiv auf erneuerbare Energien umzusteigen und die demokratische, geoökonomische und sozioökonomische Widerstandsfähigkeit angesichts des Klimawandels zu erhalten.“

Merke, Klimapolitik ist Industriepolitik ist Geopolitik. (fksk, 29.05.22)

Franziskus von Kerssenbrock

* 1966 Author, Journalist, Communications Expert Have written for various German and Austrian media (as DIE ZEIT, profil, DER STANDARD, HI!TECH, MERIAN, e.a.) Editor-in-chief at UNIVERSUM MAGAZIN Media Relations for Wirtschaftskammer Wien Head of Corporate Communications Oesterreichische Akademie der Wissenschaften Married, one son