Macron

Woche 49 – Scholz schließt die Türe

Keine Winterpause im Osten der Ukraine. Ungebrochen tobt die Schlacht um Bakhmut, die Ukraine greift russische Armee- und Logistikstützpunkte im Hinterland an, Russland hingegen zerstört weiter die zivile Infrastruktur der Ukraine. Odessa ist ohne Strom, nicht für Tage, wohl für Wochen. Unterdessen sagen die Amerikaner nochmals mehr Hilfe zu und geben bekannt, dass sie nichts gegen die Lieferung der deutschen Panzer vom Typ Leopard an die Ukraine einzuwenden hätten. Womit sich eines der wichtigsten Argumente der Berliner Regierung über Nacht verflüchtigt.

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Olaf Scholz, deutscher Zeitenwendekanzler, hat dem noch keine Taten folgen lassen. Angesichts des konsequent bedächtigen Vorgehens Deutschlands ist mit einer schnellen Lieferung des schweren Geräts auch nicht bald zu rechnen. Aber Scholz hat etwas anderes geliefert, eine Aussage zu seinem letzten Telefonat mit Putin. Der, so Scholz, beharre auf seinen territorialen Forderungen, die Bereitschaft zum Einlenken und Verhandeln sei im Kreml schlichtweg nicht gegeben.

Mithin nichts Neues im Osten.

Neu daran ist freilich, dass Scholz mit dieser in der Öffentlichkeit vorgetragenen Erkenntnis, Deutschlands und des Westens Entschlossenheit, die Ukraine tatkräftig zu unterstützen, verbunden hat. Nun braucht man nicht daran zweifeln, dass der deutsche Regierungschef bisher schon wusste, was Sache ist. Nur hat er, so wie Macron in Paris, die Möglichkeit des Verhandelns offen gelassen – wofür er, wie Macron, im Westen wie in den östlichen Ländern der Union harsch gescholten worden ist.

Die Beiläufigkeit, mit der Scholz die Sinn- und Aussichtslosigkeit von Gesprächen mit den Russen festgehalten hat, ist indes bemerkenswert. Es ist, als hätte er sehr leise die Türe zum Kreml geschlossen. Dafür umso fester.

So Putin sich sein Gespür für Zwischentöne behalten hat, dann wird er diesen leisen, aber kräftigen Schlussstrich registriert haben. So wie die nun regelmäßig erfolgenden Versicherungen aus Paris, die Ukraine mit Waffen und Material zu versorgen und auszurüsten.

Es mag sein, dass die beiden Herren Putin tatsächlich einen Ausweg öffnen wollten, zumal nach dem Rückzug aus Kherson. Mag sein, dass auch die US-Amerikaner darauf hofften, dass sich damit eine Chance auf fruchtbringende Friedensgespräche eröffne. Die Hoffnung stirbt zuletzt, heißt es.

Hört man, was Scholz sagt, was Macron twittert und was die Amerikaner nun wieder ein ums andere Mal mit Nachdruck versichern, dass sie der Ukraine noch mehr Raketensysteme und noch mehr Artillerie liefern werden, und zwar schnell, dann ist diese Perspektive endgültig aus dem Spiel.

Und es scheint, dass die Botschaft im Kreml angekommen ist. Putin ließ es sich nicht nehmen, mit einem Glas Sekt in der Hand vor ausgewählten Soldaten über den Krieg zu sinnieren. Also in erster Linie darüber, dass die Ukraine an allem schuld ist, weil sie angefangen habe. Wer hat denn die Brücke zur Krim beschossen? fragt Putin und erklärt und rechtfertigt damit den gezielten Beschuss ziviler Infrastruktur in der Ukraine. Das Einzige, worin die russische Armee Erfolge vorweisen kann.

Bisher hat sich Putins Kalkül schlicht nicht erfüllt. Aus dem Krieg, angelegt auf drei Tage, ist ein Krieg, der sich nun bald über ein Jahr zieht, geworden. Die Eroberung Kiyvs ist vor aller Weltöffentlichkeit gescheitert. Ebenso die Eroberung Kharkivs. Im Osten hat die ukrainische Armee seit Sommer große Gebiete befreit, zuletzt im Süden Kherson. Die russische Armee ist empfindlich getroffen. Manche sagen, sie sei auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, zu keiner großen Offensive mehr in der Lage.

Was Putin bleibt, ist, auf Raketenangriffe und Bombardierungen zurückzugreifen, die Infrastruktur der Ukraine zu zerstören, und die Männer, die die Armee vor die ukrainischen Stellungen treibt, die dabei fallen oder verletzt werden, die mit jedem Angriff aber die ukrainischen Bestände an Munition schrumpfen lassen. Bis, vielleicht, die Munition ausgeht, und die Ukrainer dann Gelände preisgeben müssen. Wenn denn diese Rechnungen aufgehen.

Der Winter wird für die Menschen in der Ukraine hart. Härter als alles, was man sich westlich der ukrainischen Grenzen ausmalen kann. Aber, es strömt Hilfe ins Land, in Form von Generatoren und Transformatoren, in Form von Feuerwehrwägen und Erste-Hilfe-Ausrüstung. Es braucht die Ukraine nicht nur Waffen und Munition, sie braucht alles, was dazu beiträgt, die zivilen Infrastrukturen wie auch immer aufrechtzuerhalten. Solange diese Hilfe ankommt und wirkt, wenn auch nur auf niedrigstem, aber spürbaren Niveau, wird der Widerstandsgeist der ukrainischen Bevölkerung aufrecht bleiben.

Putin hat sich nicht nur militärisch verschätzt, er hat die Gesellschaften und ihre Resilienz gröblich unterschätzt. Die ukrainische insofern, als Frauen und Männer bereit sind, für die Freiheit ihres Landes zu kämpfen und zu sterben. Auch jene Menschen, deren Muttersprache Russisch ist. Die westliche hat Putin darin falsch eingeschätzt, als er sich sicher gewesen sein muss, dass nach einem Strohfeuer der Solidarität, der Westen sich den von Russland geschaffenen Fakten beugen werde. Und wenn nicht bald, so doch im Herbst, wenn – wie von einer kruden Koalition aus Links- und Rechtsaußen angekündigt – Europa einen heißen Herbst, Aufstände gar erleben werde. Und die Wirtschaft kollabiere, weil es ihr an russischem Gas fehlt.

Nichts von alledem. Keine Massenproteste, keine Aufstände, keine verzweifelten Menschen auf den Straßen, keine Arbeitslosen vor verschlossenen Fabriken oder Büros. Die europäische Wirtschaft verzeichnet immer noch Wachstum, klein, aber real. Die Energieversorgung ist so weit gesichert. Die Regierungen nehmen viel Geld in die Hand, um Folgen der Inflation abzumildern – auch wenn das manchen mit Blick auf die Schulden Schaudern macht.

Ohne es zu wollen, treibt Putin einen wesentlichen Wandel der europäischen Wirtschaft voran, der seinen wirtschaftlichen und politischen Interessen diametral entgegengesetzt ist. Die deutsche Industrie hat in den letzten Monaten durch gezielte Maßnahmen ihren Energieverbrauch im 40 Prozent gesenkt, ohne die Produktion einzuschränken. Es gibt keinen vernünftigen Grund, diesen Erfolg nach dem Ende der Energiekrise leichtfertig aufzugeben, verschafft er ihr doch einen spürbaren Wettbewerbsvorteil, kommt den Klimazielen entgegen und verringert die Abhängigkeit erst von Russland, auf Sicht von allen anderen Energielieferanten. Ein Gewinn.

Noch aber hat die Ukraine den Krieg nicht gewonnen, noch hat sie nicht alle ihre Gebiete befreit. Noch herrscht Krieg und Krieg zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass er unberechenbar ist. Sicher ist nur, wie immer er endet und wann, ein Zurück zum Status quo ante ist unvorstellbar. (fksk, 11.12.22)

Woche 48 – Pariser Sicherheitsgarantien

Neun Monate Krieg in der Ukraine. Am östlichen Ufer des Dnipro sollen russische Verbände teilweise ihre Stellungen räumen, es soll an einem Ort sogar schon die ukrainische Flagge gehisst worden sein. Genaues weiß man nicht. Vor Bakhmut gehen die schweren Gefechte weiter, die Verluste auf beiden Seiten steigen, die Stadt ist ein Trümmerfeld. Mal heißt es, die ukrainischen Verteidiger seien im Vorteil, dann wieder werden russische Geländegewinne vermeldet. Minimale nur, teuer erkauft. Präsident Macron besucht Präsident Biden, beide meinen, man könne mit Russland verhandeln, wenn...

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...Russland sich aus allen ukrainischen Gebieten zurückziehe und die Integrität des Landes anerkenne, so Biden,...

...und dann ließe sich auch über die Sicherheitsbedürfnisse Russlands reden, meint Macron...

... währenddessen Deutschlands Kanzler Scholz wieder einmal mit Putin telefoniert und erfährt, dass der Krieg, dass das alles längst schon vorüber wäre, unterstützte der Westen nicht die Ukraine. Offenbar liest Russlands Präsident die Aussagen mancher deutscher Intellektueller, Publizisten und Ex-Generäle sehr genau. Denn, so weiß man in diesen Kreisen, längst herrschte wieder Ruhe in Europa, würden die Ukrainer nicht mit Waffen und Systemen und Informationen unterstützt und versorgt. Womit sie ohne jeden Zweifel recht haben. Es herrschte dann Friedhofsruhe in der Ukraine. Im Sinne des Wortes.

Die interessanteste Aussage aber ist jene Macrons, der anbietet, über die Sicherheitsbedürfnisse Russlands verhandeln zu wollen und Russland dabei auch Garantien in Aussicht stellt, Moskaus Ansprüche mithin als gerechtfertigt einstuft. Was angesichts des Umstands, dass es Russland war und ist, welches die Sicherheitsinteressen eines souveränen Staates missachtet, einigermaßen kreativ klingt. Es klingt, verstärkt durch das Telefonat zwischen Berlin und Moskau, einmal mehr nach dem alten Lied, wonach Deutschland und Frankreich nur allzu bereit wären, dem eigenen Wohlergehen ein Stück Ukraine zu opfern. Es ist das alte Lied, wonach Westeuropa feige ist und träge, Osteuropa hingegen voll des Elans, Freiheit und Demokratie zu verteidigen (was angesichts mancher Regierungen im EU-Osten nun auch wieder kreativ klingt). Russland indes tönt zurück, man könne gerne über alles verhandeln, so Kiyv den Verlust aller von Russland eingeforderten Territorien akzeptiere, die Waffen niederlege und weder der EU noch der Nato beitrete.

Womit klar ist, dass dieser Krieg auf dem Schlachtfeld entschieden werden wird, da es nichts gibt, worüber man verhandeln könnte. So einfach ist das.

Was bleibt, ist die Frage, was die Töne aus Paris zu bedeuten haben. Denn dass Macron annimmt, die Ukraine wäre nach ihren beeindruckenden militärischen Erfolgen bereit, Abstriche in ihrem Sicherheitsbedürfnis zu machen, ist unrealistisch. Es passt auch nicht zu den verstärkten Anstrengungen Frankreichs, die Ukraine endlich mit Waffensystemen zu unterstützen. Es passt schon gar nicht zu den freundlichen, gar vertrauten Tönen, die letzthin zwischen Kiyv und Paris zu hören waren. Frankreich ist, wie Deutschland, wie die gesamte EU, in diesem Krieg Partei auf Seiten der Ukraine.

Es ließe sich die Sicherheitsgarantie, die Macron in den Raum gestellt hat, auch anders verstehen. Als Garantie dafür, dass Putin und Russland nach einem verlorenen Krieg nicht in Frage gestellt werden; dass der Westen definitiv kein Interesse daran hat, Russland zerfallen zu sehen; dass der Westen vielmehr ein vitales Interesse daran hat, dass Russland in sicheren und garantierten Grenzen existiert.

Was im ersten Moment undenkbar klingt, ist so unwahrscheinlich nicht. Ein verlorener Krieg, kollabierende russische Sicherheitsstrukturen, eine zusammenbrechende Wirtschaft, Diadochenkämpfe um die Nachfolge Putins und jede Menge alter Rechnungen im Inneren wie auch mit Nachbarstaaten – nichts ist undenkbar. Vielmehr muss man mit allem rechnen.

Nun gibt es Stimmen, die meinen, davon dürfe man sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Gerade diese Sorge würde vom Kreml gezielt gestreut, dabei sei das Beste, was Russland passieren könne, dass dieses alte Imperium endlich zerfalle, ein für allemal und also Platz mache für Neues.

Dieses Neue käme aber verbunden mit einer unerfreulichen Frage, die bereits nach dem Zerfall der Sowjetunion für Unruhe gesorgt hat, der Frage, wer denn über das russische Atomwaffenarsenal – dem größten der Welt –, das Sagen habe. Wer garantiert nach einem Zerfall Russlands, dass die Nachfolgestaaten so verantwortungsbewusst wie seinerzeit die Ukraine handeln und ihre Atomsprengköpfe und -kapazitäten internationaler Kontrolle übergeben? Wer kann sicher gehen, dass unter den Nachfolgestaaten nicht ein zweites Nordkorea entsteht, mit wilden, nuklearen Phantasien und – Möglichkeiten?

Kann man es sich noch vorstellen, dass das Atomwaffenarsenal etwa Pakistans bei einer Machtübernahme durch Taliban von US-Amerikanern gesichert und (wohl mit dem Einverständnis etwa Chinas und Indiens) außer Landes gebracht würde, so ist eine derartige Operation in einem Russland im Chaos nur schwer vorstellbar.

Russland ist, das zeigt dieser Krieg, den es in die Ukraine getragen hat und dort mit aller Gewalt austrägt, ein Koloss auf tönernen Füßen. Seine Armee war bereits im Februar/März schon nicht in der Lage, Kiyv zu erobern. Heute, nach neun Monaten Krieg ist diese Armee in einem noch viel schlechteren Zustand. Heute erscheint die Implosion Russlands eine reale Möglichkeit zu sein.

Vielleicht ist Macrons Angebot der Sicherheitsgarantien also ganz anders zu verstehen, nämlich als das Angebot, dass dieser Moment der Schwäche vom Westen nicht gegen Russland genutzt wird; dass Putin und seine Kamarilla nicht in Frage gestellt werden; dass der Westen keinen Regime-Change in Moskau anstrebt; dass Putin die Möglichkeit hat, den Krieg gegen die Ukraine verloren zu geben ohne Russland zu verlieren.

Es ist vielleicht der letzte Exit, der sich der russischen Regierung bietet. (fksk, 04.12.22)