Keine Winterpause im Osten der Ukraine. Ungebrochen tobt die Schlacht um Bakhmut, die Ukraine greift russische Armee- und Logistikstützpunkte im Hinterland an, Russland hingegen zerstört weiter die zivile Infrastruktur der Ukraine. Odessa ist ohne Strom, nicht für Tage, wohl für Wochen. Unterdessen sagen die Amerikaner nochmals mehr Hilfe zu und geben bekannt, dass sie nichts gegen die Lieferung der deutschen Panzer vom Typ Leopard an die Ukraine einzuwenden hätten. Womit sich eines der wichtigsten Argumente der Berliner Regierung über Nacht verflüchtigt.
Olaf Scholz, deutscher Zeitenwendekanzler, hat dem noch keine Taten folgen lassen. Angesichts des konsequent bedächtigen Vorgehens Deutschlands ist mit einer schnellen Lieferung des schweren Geräts auch nicht bald zu rechnen. Aber Scholz hat etwas anderes geliefert, eine Aussage zu seinem letzten Telefonat mit Putin. Der, so Scholz, beharre auf seinen territorialen Forderungen, die Bereitschaft zum Einlenken und Verhandeln sei im Kreml schlichtweg nicht gegeben.
Mithin nichts Neues im Osten.
Neu daran ist freilich, dass Scholz mit dieser in der Öffentlichkeit vorgetragenen Erkenntnis, Deutschlands und des Westens Entschlossenheit, die Ukraine tatkräftig zu unterstützen, verbunden hat. Nun braucht man nicht daran zweifeln, dass der deutsche Regierungschef bisher schon wusste, was Sache ist. Nur hat er, so wie Macron in Paris, die Möglichkeit des Verhandelns offen gelassen – wofür er, wie Macron, im Westen wie in den östlichen Ländern der Union harsch gescholten worden ist.
Die Beiläufigkeit, mit der Scholz die Sinn- und Aussichtslosigkeit von Gesprächen mit den Russen festgehalten hat, ist indes bemerkenswert. Es ist, als hätte er sehr leise die Türe zum Kreml geschlossen. Dafür umso fester.
So Putin sich sein Gespür für Zwischentöne behalten hat, dann wird er diesen leisen, aber kräftigen Schlussstrich registriert haben. So wie die nun regelmäßig erfolgenden Versicherungen aus Paris, die Ukraine mit Waffen und Material zu versorgen und auszurüsten.
Es mag sein, dass die beiden Herren Putin tatsächlich einen Ausweg öffnen wollten, zumal nach dem Rückzug aus Kherson. Mag sein, dass auch die US-Amerikaner darauf hofften, dass sich damit eine Chance auf fruchtbringende Friedensgespräche eröffne. Die Hoffnung stirbt zuletzt, heißt es.
Hört man, was Scholz sagt, was Macron twittert und was die Amerikaner nun wieder ein ums andere Mal mit Nachdruck versichern, dass sie der Ukraine noch mehr Raketensysteme und noch mehr Artillerie liefern werden, und zwar schnell, dann ist diese Perspektive endgültig aus dem Spiel.
Und es scheint, dass die Botschaft im Kreml angekommen ist. Putin ließ es sich nicht nehmen, mit einem Glas Sekt in der Hand vor ausgewählten Soldaten über den Krieg zu sinnieren. Also in erster Linie darüber, dass die Ukraine an allem schuld ist, weil sie angefangen habe. Wer hat denn die Brücke zur Krim beschossen? fragt Putin und erklärt und rechtfertigt damit den gezielten Beschuss ziviler Infrastruktur in der Ukraine. Das Einzige, worin die russische Armee Erfolge vorweisen kann.
Bisher hat sich Putins Kalkül schlicht nicht erfüllt. Aus dem Krieg, angelegt auf drei Tage, ist ein Krieg, der sich nun bald über ein Jahr zieht, geworden. Die Eroberung Kiyvs ist vor aller Weltöffentlichkeit gescheitert. Ebenso die Eroberung Kharkivs. Im Osten hat die ukrainische Armee seit Sommer große Gebiete befreit, zuletzt im Süden Kherson. Die russische Armee ist empfindlich getroffen. Manche sagen, sie sei auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, zu keiner großen Offensive mehr in der Lage.
Was Putin bleibt, ist, auf Raketenangriffe und Bombardierungen zurückzugreifen, die Infrastruktur der Ukraine zu zerstören, und die Männer, die die Armee vor die ukrainischen Stellungen treibt, die dabei fallen oder verletzt werden, die mit jedem Angriff aber die ukrainischen Bestände an Munition schrumpfen lassen. Bis, vielleicht, die Munition ausgeht, und die Ukrainer dann Gelände preisgeben müssen. Wenn denn diese Rechnungen aufgehen.
Der Winter wird für die Menschen in der Ukraine hart. Härter als alles, was man sich westlich der ukrainischen Grenzen ausmalen kann. Aber, es strömt Hilfe ins Land, in Form von Generatoren und Transformatoren, in Form von Feuerwehrwägen und Erste-Hilfe-Ausrüstung. Es braucht die Ukraine nicht nur Waffen und Munition, sie braucht alles, was dazu beiträgt, die zivilen Infrastrukturen wie auch immer aufrechtzuerhalten. Solange diese Hilfe ankommt und wirkt, wenn auch nur auf niedrigstem, aber spürbaren Niveau, wird der Widerstandsgeist der ukrainischen Bevölkerung aufrecht bleiben.
Putin hat sich nicht nur militärisch verschätzt, er hat die Gesellschaften und ihre Resilienz gröblich unterschätzt. Die ukrainische insofern, als Frauen und Männer bereit sind, für die Freiheit ihres Landes zu kämpfen und zu sterben. Auch jene Menschen, deren Muttersprache Russisch ist. Die westliche hat Putin darin falsch eingeschätzt, als er sich sicher gewesen sein muss, dass nach einem Strohfeuer der Solidarität, der Westen sich den von Russland geschaffenen Fakten beugen werde. Und wenn nicht bald, so doch im Herbst, wenn – wie von einer kruden Koalition aus Links- und Rechtsaußen angekündigt – Europa einen heißen Herbst, Aufstände gar erleben werde. Und die Wirtschaft kollabiere, weil es ihr an russischem Gas fehlt.
Nichts von alledem. Keine Massenproteste, keine Aufstände, keine verzweifelten Menschen auf den Straßen, keine Arbeitslosen vor verschlossenen Fabriken oder Büros. Die europäische Wirtschaft verzeichnet immer noch Wachstum, klein, aber real. Die Energieversorgung ist so weit gesichert. Die Regierungen nehmen viel Geld in die Hand, um Folgen der Inflation abzumildern – auch wenn das manchen mit Blick auf die Schulden Schaudern macht.
Ohne es zu wollen, treibt Putin einen wesentlichen Wandel der europäischen Wirtschaft voran, der seinen wirtschaftlichen und politischen Interessen diametral entgegengesetzt ist. Die deutsche Industrie hat in den letzten Monaten durch gezielte Maßnahmen ihren Energieverbrauch im 40 Prozent gesenkt, ohne die Produktion einzuschränken. Es gibt keinen vernünftigen Grund, diesen Erfolg nach dem Ende der Energiekrise leichtfertig aufzugeben, verschafft er ihr doch einen spürbaren Wettbewerbsvorteil, kommt den Klimazielen entgegen und verringert die Abhängigkeit erst von Russland, auf Sicht von allen anderen Energielieferanten. Ein Gewinn.
Noch aber hat die Ukraine den Krieg nicht gewonnen, noch hat sie nicht alle ihre Gebiete befreit. Noch herrscht Krieg und Krieg zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass er unberechenbar ist. Sicher ist nur, wie immer er endet und wann, ein Zurück zum Status quo ante ist unvorstellbar. (fksk, 11.12.22)