Woche 46 des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, von einer Winterpause ist weit und breit nichts zu sehen. Die Schlacht um Bakhmut dauert unvermindert heftig an, Russland intensiviert seine Raketen- und Bombenangriffe auf zivile Strukturen der Ukraine und in Deutschland sinniert derweil der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel über die moralische Pflicht des Angegriffenen Verhandlungen anzustreben.
Des Juristen Überlegungen spiegeln zwar nicht die Mehrheitsmeinung in Deutschland, gleichwohl geben sie die anhaltende Unsicherheit Deutschlands und des Westens wieder, mit der neuen Weltlage mitten in Europa umzugehen. Wenngleich man sich nach zehn Monaten des russischen Vernichtungskriegs, nach zehn Monaten dokumentierter Verschleppungen, Morde, Vergewaltigungen und Folter, nach zehn Monaten Raub von Weizen und Kunst und zehn Monaten der Drohungen mit Nuklearschlägen, nicht mehr darüber unsicher sein sollte, wer in diesem Krieg uneingeschränkte Solidarität und Unterstützung verdient. Das freilich geht dem Eingeständnis einher, dass nichts mehr so sein wird, wie es die letzten 20, 30 Jahre bequemerweise war.
2022 markiert das Ende der langen europäischen Nachkriegszeit und den Beginn einer Zeit der Konfrontation und dicht an dicht gedrängter existenzieller Herausforderungen. Dabei zeichnen sich ausgerechnet im abgelaufenen Jahr drei Entwicklungen ab, die Mut machen:
Entgegen aller Erwartung erweisen sich die europäische Gesellschaft und Wirtschaft als widerstands- und anpassungsfähig. Die Verringerung der Abhängigkeit von russischem Gas und Erdöl geht rascher und mit geringeren wirtschaftlichen Einbußen vor sich, als prognostiziert. Unter Druck ist tiefgreifender Wandel möglich.
Zu dieser grundlegenden Resilienz gesellt sich sich die erfolgreiche Resistenz der Ukraine. Entgegen aller Erwartung war und ist das Land in der Lage, der russischen Invasion militärisch und gesellschaftlich zu widerstehen. Dem Hegemoniestreben Russlands über Europa sind damit erstmals Grenzen gesetzt worden. Und, entgegen aller Erwartung lassen sich die Iranerinnen und Iraner in ihrem Widerstand gegen das klerikale Regime nicht länger einschüchtern. Nach beinahe 45 Jahren stehen das Land und seine Menschen wieder vor einer Revolution, die, wenn sie denn erfolgreich ist, die Verhältnisse im Nahen Osten und darüber hinaus zum Tanzen bringen kann.
Dem in den letzten Jahren vielfach angestimmten Abgesang auf das Modell des demokratisch verfassten Westen stehen diese drei Faktoren des Jahres 2022 – Resilienz, Resistenz und Revolution – entgegen. Wofür in Iran und in der Ukraine Menschen kämpfen und mit ihrem Leben einstehen, das sind universelle Grund- und Menschenrechte, das sind Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit, Rechtstaatlichkeit und das Grundrecht auf politische Teilhabe, sprich Demokratie. Insofern rechtfertigt ausgerechnet 2022 einen optimistischen Blick in die Zukunft – wenn Europa denn bereit ist, konsequent für seine eigenen Grundwerte und Grundrechte einzustehen, nach innen wie nach außen. (fksk, 30.12.22)