Woche 50 – So lasst uns denn einen Zaun bauen

In der 44. Woche ihres Angriffskrieges überzieht die russische Armee die Ukraine einmal mehr mit einem Hagel aus Raketen, Drohnen und Bomben auf zivile Infrastruktur. Konsequenterweise zeigt sich Moskau von der Möglichkeit, dass die USA die Ukraine mit dem Patriot-System zur Abwehr ausstatten wollen, irritiert. Aus Sicht Moskaus wäre das eine Eskalation. Gleichzeitig überschlagen sich die Spekulationen zu den nächsten Phasen des Krieges: Russland werde aus dem Norden Kyiv angreifen, warnen die einen, während die anderen auf das anscheinend schier unerschöpfliche Arsenal alter sowjetischer Artilleriemuniton verweisen und damit auf wichtige Reserven der russischen Armee. Unterdessen gelangen mehr und mehr Berichte über russische Folterkammern und -praktiken an die Öffentlichkeit und werden doch kaum noch wahrgenommen.

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In Österreich beklagt derweil der Vorsitzende eines regionalen Energieversorgers, es seien die USA, die ein „Zusammenwachsen Europas mit Russland“ verhinderten. Auch eine Perspektive. An solchen ist Österreich reich. Meist reichen sie bis zu einem Zaun.

Wahlweise darf es auch eine Mauer sein.

Beides am besten rund um Europa errichtet. Um die Migration einzuschränken, sie zum Stehen, zum Stillstand zu bekommen. Im Zaunbau will Kanzler Nehammer Bulgarien gerne unterstützen, am Zaunbau soll sich die europäische Einigkeit erweisen. Und das lästige Thema der Migration soll, wenigstens bis zu den Wahlen in Niederösterreich, als gelöst erscheinen, schlicht keines mehr sein, oder wenn, dann ausschließlich als Nachweis der Problemlösungskompetenz der Kanzlerpartei.

Wobei sie sich auf diesem Niveau heftiger Konkurrenz ausgesetzt sieht.

Mindestens gleichwertig agiert die altehrwürdige Sozialdemokratie, die in Person ihrer Vorsitzenden das Schengenveto des Kanzlers für richtig und gut befindet – zu allem anderen ist von ihr nichts zu hören. Von den Freiheitlichen gar nicht erst zu reden. Die feiern, dass ihre Themen, ihre Ideen, ihr Weltbild offiziell Regierungspolitik ist und ihnen, und niemandem sonst, als Erfolg gut geschrieben wird.

Nun steht außer Frage, dass die Migration eine gewaltige Herausforderung ist. Es steht auch außer Frage, dass die bisherigen Instrumentarien und Politiken nichts zur Lösung oder wenigstens zur Abfederung beitragen haben. Im Grunde verhält es sich so, dass das drängende Thema seit Jahren, seit mehr als einem Jahrzehnt auf der Tagesordnung steht, und niemand sich in der Tiefe damit befassen mag. Weil damit alte und liebgewonnene Überzeugungen auf allen Seiten radikal in Frage gestellt werden. Tatsache ist, dass Europa seiner demografischen Entwicklung wegen auf Migration angewiesen ist. Ebenso wie es Tatsache ist, dass Europa sich schlicht nicht abschotten kann.

Faktum ist gleichzeitig, dass Europa bislang kein Instrumentarium geschaffen hat, Migration so zu gestalten, dass die Vorteile für alle Betroffenen überwiegen. So, wie es auch offensichtlich ist, dass es migrantische Millieus gibt, die gar kein Interesse daran haben, sich in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren.

Das weiß man. Man wusste es vor 2015, man weiß es seit 2015, man hat nichts getan. Außer, einander gegenseitig zu blockieren.

Ein Verhaltensmuster, welches auch auf andere wichtige Themen zutrifft, vom Klimawandel bis hin zur Sicherheitspolitik. Es gilt, nicht nur aber auch und gerade in der Republik Österreich: Augen zu. In der Hoffnung, dass, wenn man die Augen wieder öffnet, sich alles irgendwie in Wohlgefallen aufgelöst hat. Das freilich ist nicht der Fall, weswegen auf einfache Lösungen zurückgegriffen wird. Auf einfachste Argumentationen.

Das Versprechen, ein Grenzzaun löse ein Problem, ist schlichtweg intellektuell unredlich. Weder wirkt ein Zaun den Ursachen entgegen, noch beendet er die Migration. Er ist, auch in seiner Variante als Mauer, nichts weniger als der weithin sichtbare Nachweis dafür, dass man sich nicht in der Lage und Position sieht, ein Problem in allen seinen Dimensionen zu begreifen und zu bearbeiten.

Womit man endgültig in der österreichischen Realität angekommen ist. In einem Alltag, der gekennzeichnet und geprägt wird vom eklatanten Unvermögen, sich auch nur annähernd diskursiv mit Themen der Zeit auseinanderzusetzen. Der momentane Aggregatzustand der österreichischen Politik ist die Sprachlosigkeit.

Hierzulande gilt nicht das Gewicht des guten und des besseren Arguments oder die Kraft, die der Entwicklung einer Idee in öffentlicher Auseinandersetzung innewohnt, es gilt das Votum der wöchentlichen Umfrage, nach der sich die einen oder die anderen im Recht sehen, eine Debatte für beendet zu erklären, noch bevor sie auch nur in Ansätzen geführt worden ist. Es wird der demokratische Prozess der öffentlichen Willensbildung als unzumutbare Zumutung empfunden. Als Affront.

Und das nicht erst seit heute. Die Zeiten, in denen ein sozialdemokratischer Bundeskanzler sich von den Argumenten seines christdemokratischen Vizekanzlers überzeugen ließ, und daraufhin seine eigene Partei von Nutz und Frommen eines Beitritts zur Europäischen Union überzeugte, sind lange vorbei. Vorbei auch die Zeiten, als österreichische Regierungsmitglieder bei Premieren etwa im Burgtheater gesehen wurden. Vorbei die Zeiten, in denen die Politik auf Überzeugungskraft setzte und den produktiven Streit nicht scheute. Nicht, dass früher alles besser war, das aber war gegeben.

Dann kam der „nationale Schulterschluss“ gegen Sanktionen, dann kam die Liebe in die Kraft der Umfragen, dann kam die demonstrative Unlust, in Interviews Rede und Antwort zu stehen, dann der „gesunde Hausverstand“ als Maß aller Dinge.

Das gab und gibt es auch andernorts. Frau Merkel stilisierte die „schwäbische Hausfrau“ zum Maß aller Haushaltspolitik und ließ Griechenland in finanziellen Nöten angesichts einer Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen schnöde – und folgenreich – im Stich. Vom Brexit und seinen Folgen bis hin zu Frau Truss gar nicht erst zu reden. Aber: Da wie dort, in Deutschland wie in Großbritannien, wird auch noch noch und immer noch und immer wieder in der Sache diskutiert und gestritten. Bisweilen lustvoll auch auf sprachlich und intellektuell hohem Niveau.

In Österreich gilt das als elitär. Als abgehoben. Um nicht zu sagen, als unösterreichisch. Es habe, so wird erzählt, Wiens Langzeitbürgermeister Häupl seine Intellektualität erfolgreich stets hinter einer Art von polterndem Fiakerschmäh versteckt – der Volkstümlichkeit und seiner Wählbarkeit wegen. Das nennt man dann das Volk für dumm verkaufen und der Demokratie einen Bärendienst zu erweisen.

Nur, den anstehenden Herausforderungen und akuten Krisen kommt man auf diese Art und Weise nicht bei. Ein Zaun löst keine Probleme, er begrenzt allenfalls das Denken. (fksk, 18.12.2022)

Woche 49 – Scholz schließt die Türe

Keine Winterpause im Osten der Ukraine. Ungebrochen tobt die Schlacht um Bakhmut, die Ukraine greift russische Armee- und Logistikstützpunkte im Hinterland an, Russland hingegen zerstört weiter die zivile Infrastruktur der Ukraine. Odessa ist ohne Strom, nicht für Tage, wohl für Wochen. Unterdessen sagen die Amerikaner nochmals mehr Hilfe zu und geben bekannt, dass sie nichts gegen die Lieferung der deutschen Panzer vom Typ Leopard an die Ukraine einzuwenden hätten. Womit sich eines der wichtigsten Argumente der Berliner Regierung über Nacht verflüchtigt.

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Olaf Scholz, deutscher Zeitenwendekanzler, hat dem noch keine Taten folgen lassen. Angesichts des konsequent bedächtigen Vorgehens Deutschlands ist mit einer schnellen Lieferung des schweren Geräts auch nicht bald zu rechnen. Aber Scholz hat etwas anderes geliefert, eine Aussage zu seinem letzten Telefonat mit Putin. Der, so Scholz, beharre auf seinen territorialen Forderungen, die Bereitschaft zum Einlenken und Verhandeln sei im Kreml schlichtweg nicht gegeben.

Mithin nichts Neues im Osten.

Neu daran ist freilich, dass Scholz mit dieser in der Öffentlichkeit vorgetragenen Erkenntnis, Deutschlands und des Westens Entschlossenheit, die Ukraine tatkräftig zu unterstützen, verbunden hat. Nun braucht man nicht daran zweifeln, dass der deutsche Regierungschef bisher schon wusste, was Sache ist. Nur hat er, so wie Macron in Paris, die Möglichkeit des Verhandelns offen gelassen – wofür er, wie Macron, im Westen wie in den östlichen Ländern der Union harsch gescholten worden ist.

Die Beiläufigkeit, mit der Scholz die Sinn- und Aussichtslosigkeit von Gesprächen mit den Russen festgehalten hat, ist indes bemerkenswert. Es ist, als hätte er sehr leise die Türe zum Kreml geschlossen. Dafür umso fester.

So Putin sich sein Gespür für Zwischentöne behalten hat, dann wird er diesen leisen, aber kräftigen Schlussstrich registriert haben. So wie die nun regelmäßig erfolgenden Versicherungen aus Paris, die Ukraine mit Waffen und Material zu versorgen und auszurüsten.

Es mag sein, dass die beiden Herren Putin tatsächlich einen Ausweg öffnen wollten, zumal nach dem Rückzug aus Kherson. Mag sein, dass auch die US-Amerikaner darauf hofften, dass sich damit eine Chance auf fruchtbringende Friedensgespräche eröffne. Die Hoffnung stirbt zuletzt, heißt es.

Hört man, was Scholz sagt, was Macron twittert und was die Amerikaner nun wieder ein ums andere Mal mit Nachdruck versichern, dass sie der Ukraine noch mehr Raketensysteme und noch mehr Artillerie liefern werden, und zwar schnell, dann ist diese Perspektive endgültig aus dem Spiel.

Und es scheint, dass die Botschaft im Kreml angekommen ist. Putin ließ es sich nicht nehmen, mit einem Glas Sekt in der Hand vor ausgewählten Soldaten über den Krieg zu sinnieren. Also in erster Linie darüber, dass die Ukraine an allem schuld ist, weil sie angefangen habe. Wer hat denn die Brücke zur Krim beschossen? fragt Putin und erklärt und rechtfertigt damit den gezielten Beschuss ziviler Infrastruktur in der Ukraine. Das Einzige, worin die russische Armee Erfolge vorweisen kann.

Bisher hat sich Putins Kalkül schlicht nicht erfüllt. Aus dem Krieg, angelegt auf drei Tage, ist ein Krieg, der sich nun bald über ein Jahr zieht, geworden. Die Eroberung Kiyvs ist vor aller Weltöffentlichkeit gescheitert. Ebenso die Eroberung Kharkivs. Im Osten hat die ukrainische Armee seit Sommer große Gebiete befreit, zuletzt im Süden Kherson. Die russische Armee ist empfindlich getroffen. Manche sagen, sie sei auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, zu keiner großen Offensive mehr in der Lage.

Was Putin bleibt, ist, auf Raketenangriffe und Bombardierungen zurückzugreifen, die Infrastruktur der Ukraine zu zerstören, und die Männer, die die Armee vor die ukrainischen Stellungen treibt, die dabei fallen oder verletzt werden, die mit jedem Angriff aber die ukrainischen Bestände an Munition schrumpfen lassen. Bis, vielleicht, die Munition ausgeht, und die Ukrainer dann Gelände preisgeben müssen. Wenn denn diese Rechnungen aufgehen.

Der Winter wird für die Menschen in der Ukraine hart. Härter als alles, was man sich westlich der ukrainischen Grenzen ausmalen kann. Aber, es strömt Hilfe ins Land, in Form von Generatoren und Transformatoren, in Form von Feuerwehrwägen und Erste-Hilfe-Ausrüstung. Es braucht die Ukraine nicht nur Waffen und Munition, sie braucht alles, was dazu beiträgt, die zivilen Infrastrukturen wie auch immer aufrechtzuerhalten. Solange diese Hilfe ankommt und wirkt, wenn auch nur auf niedrigstem, aber spürbaren Niveau, wird der Widerstandsgeist der ukrainischen Bevölkerung aufrecht bleiben.

Putin hat sich nicht nur militärisch verschätzt, er hat die Gesellschaften und ihre Resilienz gröblich unterschätzt. Die ukrainische insofern, als Frauen und Männer bereit sind, für die Freiheit ihres Landes zu kämpfen und zu sterben. Auch jene Menschen, deren Muttersprache Russisch ist. Die westliche hat Putin darin falsch eingeschätzt, als er sich sicher gewesen sein muss, dass nach einem Strohfeuer der Solidarität, der Westen sich den von Russland geschaffenen Fakten beugen werde. Und wenn nicht bald, so doch im Herbst, wenn – wie von einer kruden Koalition aus Links- und Rechtsaußen angekündigt – Europa einen heißen Herbst, Aufstände gar erleben werde. Und die Wirtschaft kollabiere, weil es ihr an russischem Gas fehlt.

Nichts von alledem. Keine Massenproteste, keine Aufstände, keine verzweifelten Menschen auf den Straßen, keine Arbeitslosen vor verschlossenen Fabriken oder Büros. Die europäische Wirtschaft verzeichnet immer noch Wachstum, klein, aber real. Die Energieversorgung ist so weit gesichert. Die Regierungen nehmen viel Geld in die Hand, um Folgen der Inflation abzumildern – auch wenn das manchen mit Blick auf die Schulden Schaudern macht.

Ohne es zu wollen, treibt Putin einen wesentlichen Wandel der europäischen Wirtschaft voran, der seinen wirtschaftlichen und politischen Interessen diametral entgegengesetzt ist. Die deutsche Industrie hat in den letzten Monaten durch gezielte Maßnahmen ihren Energieverbrauch im 40 Prozent gesenkt, ohne die Produktion einzuschränken. Es gibt keinen vernünftigen Grund, diesen Erfolg nach dem Ende der Energiekrise leichtfertig aufzugeben, verschafft er ihr doch einen spürbaren Wettbewerbsvorteil, kommt den Klimazielen entgegen und verringert die Abhängigkeit erst von Russland, auf Sicht von allen anderen Energielieferanten. Ein Gewinn.

Noch aber hat die Ukraine den Krieg nicht gewonnen, noch hat sie nicht alle ihre Gebiete befreit. Noch herrscht Krieg und Krieg zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass er unberechenbar ist. Sicher ist nur, wie immer er endet und wann, ein Zurück zum Status quo ante ist unvorstellbar. (fksk, 11.12.22)

Woche 48 – Pariser Sicherheitsgarantien

Neun Monate Krieg in der Ukraine. Am östlichen Ufer des Dnipro sollen russische Verbände teilweise ihre Stellungen räumen, es soll an einem Ort sogar schon die ukrainische Flagge gehisst worden sein. Genaues weiß man nicht. Vor Bakhmut gehen die schweren Gefechte weiter, die Verluste auf beiden Seiten steigen, die Stadt ist ein Trümmerfeld. Mal heißt es, die ukrainischen Verteidiger seien im Vorteil, dann wieder werden russische Geländegewinne vermeldet. Minimale nur, teuer erkauft. Präsident Macron besucht Präsident Biden, beide meinen, man könne mit Russland verhandeln, wenn...

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...Russland sich aus allen ukrainischen Gebieten zurückziehe und die Integrität des Landes anerkenne, so Biden,...

...und dann ließe sich auch über die Sicherheitsbedürfnisse Russlands reden, meint Macron...

... währenddessen Deutschlands Kanzler Scholz wieder einmal mit Putin telefoniert und erfährt, dass der Krieg, dass das alles längst schon vorüber wäre, unterstützte der Westen nicht die Ukraine. Offenbar liest Russlands Präsident die Aussagen mancher deutscher Intellektueller, Publizisten und Ex-Generäle sehr genau. Denn, so weiß man in diesen Kreisen, längst herrschte wieder Ruhe in Europa, würden die Ukrainer nicht mit Waffen und Systemen und Informationen unterstützt und versorgt. Womit sie ohne jeden Zweifel recht haben. Es herrschte dann Friedhofsruhe in der Ukraine. Im Sinne des Wortes.

Die interessanteste Aussage aber ist jene Macrons, der anbietet, über die Sicherheitsbedürfnisse Russlands verhandeln zu wollen und Russland dabei auch Garantien in Aussicht stellt, Moskaus Ansprüche mithin als gerechtfertigt einstuft. Was angesichts des Umstands, dass es Russland war und ist, welches die Sicherheitsinteressen eines souveränen Staates missachtet, einigermaßen kreativ klingt. Es klingt, verstärkt durch das Telefonat zwischen Berlin und Moskau, einmal mehr nach dem alten Lied, wonach Deutschland und Frankreich nur allzu bereit wären, dem eigenen Wohlergehen ein Stück Ukraine zu opfern. Es ist das alte Lied, wonach Westeuropa feige ist und träge, Osteuropa hingegen voll des Elans, Freiheit und Demokratie zu verteidigen (was angesichts mancher Regierungen im EU-Osten nun auch wieder kreativ klingt). Russland indes tönt zurück, man könne gerne über alles verhandeln, so Kiyv den Verlust aller von Russland eingeforderten Territorien akzeptiere, die Waffen niederlege und weder der EU noch der Nato beitrete.

Womit klar ist, dass dieser Krieg auf dem Schlachtfeld entschieden werden wird, da es nichts gibt, worüber man verhandeln könnte. So einfach ist das.

Was bleibt, ist die Frage, was die Töne aus Paris zu bedeuten haben. Denn dass Macron annimmt, die Ukraine wäre nach ihren beeindruckenden militärischen Erfolgen bereit, Abstriche in ihrem Sicherheitsbedürfnis zu machen, ist unrealistisch. Es passt auch nicht zu den verstärkten Anstrengungen Frankreichs, die Ukraine endlich mit Waffensystemen zu unterstützen. Es passt schon gar nicht zu den freundlichen, gar vertrauten Tönen, die letzthin zwischen Kiyv und Paris zu hören waren. Frankreich ist, wie Deutschland, wie die gesamte EU, in diesem Krieg Partei auf Seiten der Ukraine.

Es ließe sich die Sicherheitsgarantie, die Macron in den Raum gestellt hat, auch anders verstehen. Als Garantie dafür, dass Putin und Russland nach einem verlorenen Krieg nicht in Frage gestellt werden; dass der Westen definitiv kein Interesse daran hat, Russland zerfallen zu sehen; dass der Westen vielmehr ein vitales Interesse daran hat, dass Russland in sicheren und garantierten Grenzen existiert.

Was im ersten Moment undenkbar klingt, ist so unwahrscheinlich nicht. Ein verlorener Krieg, kollabierende russische Sicherheitsstrukturen, eine zusammenbrechende Wirtschaft, Diadochenkämpfe um die Nachfolge Putins und jede Menge alter Rechnungen im Inneren wie auch mit Nachbarstaaten – nichts ist undenkbar. Vielmehr muss man mit allem rechnen.

Nun gibt es Stimmen, die meinen, davon dürfe man sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Gerade diese Sorge würde vom Kreml gezielt gestreut, dabei sei das Beste, was Russland passieren könne, dass dieses alte Imperium endlich zerfalle, ein für allemal und also Platz mache für Neues.

Dieses Neue käme aber verbunden mit einer unerfreulichen Frage, die bereits nach dem Zerfall der Sowjetunion für Unruhe gesorgt hat, der Frage, wer denn über das russische Atomwaffenarsenal – dem größten der Welt –, das Sagen habe. Wer garantiert nach einem Zerfall Russlands, dass die Nachfolgestaaten so verantwortungsbewusst wie seinerzeit die Ukraine handeln und ihre Atomsprengköpfe und -kapazitäten internationaler Kontrolle übergeben? Wer kann sicher gehen, dass unter den Nachfolgestaaten nicht ein zweites Nordkorea entsteht, mit wilden, nuklearen Phantasien und – Möglichkeiten?

Kann man es sich noch vorstellen, dass das Atomwaffenarsenal etwa Pakistans bei einer Machtübernahme durch Taliban von US-Amerikanern gesichert und (wohl mit dem Einverständnis etwa Chinas und Indiens) außer Landes gebracht würde, so ist eine derartige Operation in einem Russland im Chaos nur schwer vorstellbar.

Russland ist, das zeigt dieser Krieg, den es in die Ukraine getragen hat und dort mit aller Gewalt austrägt, ein Koloss auf tönernen Füßen. Seine Armee war bereits im Februar/März schon nicht in der Lage, Kiyv zu erobern. Heute, nach neun Monaten Krieg ist diese Armee in einem noch viel schlechteren Zustand. Heute erscheint die Implosion Russlands eine reale Möglichkeit zu sein.

Vielleicht ist Macrons Angebot der Sicherheitsgarantien also ganz anders zu verstehen, nämlich als das Angebot, dass dieser Moment der Schwäche vom Westen nicht gegen Russland genutzt wird; dass Putin und seine Kamarilla nicht in Frage gestellt werden; dass der Westen keinen Regime-Change in Moskau anstrebt; dass Putin die Möglichkeit hat, den Krieg gegen die Ukraine verloren zu geben ohne Russland zu verlieren.

Es ist vielleicht der letzte Exit, der sich der russischen Regierung bietet. (fksk, 04.12.22)

Woche 47 – Katzenjammer in Katar

Neun Monate Krieg in der Ukraine. In Cherson werden russische Folterkammern entdeckt. Das EU-Parlament stuft Russland als Terrorstaat ein, zur Bestätigung überzieht die Armee der Russischen Föderation die Ukraine mit einem Hagel an Raketenangriffen auf zivile Infrastruktur. Vor Bakhmut erstarrt die Front in einem Stellungskrieg, der an jenen der Westfront während des Ersten Weltkriegs erinnert. Der Winter in der Ukraine wird lang, hart und grausam werden.

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Die Schlagzeilen fokussieren indes auf anderes. Es herrscht Katzenjammer in Katar. Also, nicht dass der Weltfussballverband und die Gastgeber der Fussballweltmeisterschaft klagten, vielmehr sind es die europäischen Teams sowie ihre Fans vor Ort und daheim, die klagen.

Was Wunder, dass in einem strikt islamischen Land westliche Diversitätskultur und -politik nicht willkommen ist? Wie sehr kann es überraschen, dass in einem islamischen Land der Bierkonsum eingeschränkt wird; dass die iranische Opposition nicht gehört, nicht gezeigt und nicht erwähnt werden darf; dass die Gäste sich dem Willen des Gastgeber zu beugen haben? Und was Wunder, dass die FIFA sich dem Willen des finanzstarken Gastgebers beugt?

Man hätte es wissen können, antizipieren müssen. Wo doch von Anbeginn klar war, dass diese WM an diesem Ort und zu dieser Zeit mindestens fragwürdig ist. Und man hätte es sich an zwei Fingern – an einem! – ausrechnen können, dass europäische oder auch westliche Bekenntnisse zur Vielfalt sexueller Bekenntnisse hier nicht verfangen. Die stumme Wut der europäischen Verbände, dass ihre Kapitäne nicht mit einer regenbogenfarbenen Armbinde einlaufen dürfen, ist ein Armutszeugnis.

Sie illustriert auf ihre Weise ein höchst europäisches, ein westliches Dilemma.

Die Welt, sie ist nicht so, wie der Westen sie sich wünscht.

Und sie wird nicht anders, sie wird nicht besser, wenn man sich dieser Einsicht verweigert.

Ein Beispiel: Dieser Tage ist es auch schon wieder ein Jahr her, dass Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel die politische Bühne verlassen hat. Zum Jahrestag hat sie nun dem Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL ein Interview gegeben. Darin erwähnt sie, dass sie in den letzten Monaten ihrer Kanzlerinnenschaft erkannte, zu Putin nicht mehr durchzudringen. Dass der Mann nur durch Macht zu beeindrucken sei. Ihre Reaktion darauf? Der Versuch, ein neues europäisches Gesprächsformat ins Leben zu rufen.

Im Übrigen ist sie der Meinung, es sei besser, Deutschland liefere der Ukraine nicht als erstes Land moderne Kampfpanzer. Es sei schließlich doch so, dass man in Russland mit Deutschland immer noch gute Stimmung machen kann.

In Russland sorgt diese Aussage garantiert für gute Stimmung.

Der Erkenntnis, dass Putin nur „Power“ versteht, indes blieb folgenlos.

Es geht hier nicht darum, Frau Merkel ans Zeug zu flicken. Sie verkörpert aber sehr wohl das gegenwärtige europäische Dilemma. Es war so schön, nach 1989. Und es war so beglückend, zu sehen, was aus dem Ende der Blockkonfrontation erwuchs, eine globales Regelwerk, eine internationale Ordnung, die auf die Herrschaft des Rechts setzte, auf Vernunft und Kompromiss. Daran, das ist wichtig, ist nach wie vor nichts falsch.

Der Fehler, der zum Katzenjammer führt, liegt vielmehr darin, sehenden Auges die zunehmenden Verstöße, die offene Missachtung, den Bruch aller Vereinbarungen hinzunehmen, allenfalls mit ein wenig Sanktionskosmetik zu bedenken und ansonsten zu hoffen, dass mit der Zeit diese Aufwallungen des Irrationalen wieder in sich zusammenfielen wie ein Souflé.

Noch ein Beispiel: Während des US-Präsidentschaftswahlkampfs 2008 schickt Moskau seine Truppen aus. Gegen Georgien, in die Provinzen Abchasien und Südossetien. Es ist Senator John McCain, Kandidat der Republikaner, der sofort eine klare und entschlossene Reaktion des Westens verlangt. Russland dürfe damit nicht durchkommen, ist seine Botschaft. Sein Gegenkandidat Barack Obama, Kandidat der Demokraten, reagiert etwas später und deutlich zurückhaltender. Er will keinen Konflikt mit Russland, er strebt einen Neustart der Beziehungen an. In Europa verfängt seine Botschaft. Zumal nach dem desaströsen und völkerrechtswidrigen Krieg des George W. Bush im Irak. Aber auch, weil man in Europa hofft, dass Russlands herrschende Elite mit diesen Vorstößen auf das Gebiet eines Nachbarstaates, nach der Verletzung international anerkannter Grenzen, zufrieden, befriedigt und satt sein werde.

Der Neustart, den US-Präsident Obama in den Beziehungen zu Russland versucht, scheitert übrigens kurz darauf im ersten Anlauf.

All dem zum Trotz geriert sich Europa, geriert sich der Westen als wäre doch alles auf Schiene. Als sei der Verlauf der Geschichte unausweichlich auf den Erfolg des demokratischen Systems ausgelegt. Weil sein muss, was zu sein hat. Der Triumph des Schönen, Guten und Wahren.

Eine Fehleinschätzung.

Die sich mit zudem mit einer fatalen Bequemlichkeit des Denkens paart. Anstatt sich in Diskussionen zu stürzen, anstatt die eigenen Argumente und Positionen in Debatten zu stärken, anstatt die Auseinandersetzung mit konträren Ideen und Ansichten zu suchen, greift ein Dogmatismus des einmal als richtig Erkannten um sich.  Verbunden mit einer Scheuklappenmentalität, die aus den Augenwinkeln wohl die gegenlaufenden Entwürfe wahrnimmt, nicht aber in ihren Ausmaßen und Dimensionen wahrhaben will. In aller fatalen Konsequenz.

An seine Grenzen stößt dieses Verhaltensmuster schon seit Jahren. 2022 indes ist der Katzenjammer so groß wie nie zuvor. In den Staatskanzleien, die feststellen mussten, dass wesentliche Akteure der Weltpolitik die regelbasierte internationale Ordnung für sich und ihre Agenda offen nicht länger als bindend erachten. In Sportler-, Aktivisten- und Marketingkreisen, die erkennen müssen, dass die schöne, freundliche und vielfältige Welt, die sie mit sich verbinden, nicht die Norm ist. Und Twitter gehört nun Elon Musk. Katzenjammer allüberall.

Da hilft nur eines, die Scheuklappen abzulegen, der Welt realistisch gegenüberzutreten, sie sich nicht schönzufärben. Das mag im ersten Moment schmerzen, aber es reduziert Katzenjammer und unerwünschte Nebenwirkungen. Und trägt damit mehr zu einer tatsächlich besseren Welt bei. (fksk, 27.11.22)

Woche 46 – Den Frieden denken

Bald neun Monate dauert der Krieg in der Ukraine bereits an. Kherson ist befreit, die russischen Truppen sind auf breiter Front zurückgedrängt und Russland sucht Sündenböcke für den anhaltenden Misserfolg. Unterdessen gehen täglich Raketenhagel auf ukrainische Städte und Infrastruktur nieder, werden in den besetzten Regionen Menschen entführt, gefoltert und ermordet, werden Kinder geraubt, Museen geplündert, Städte und Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Sollte sich nur die Hälfte der Berichte über die Kriegsverbrechen der russischen Truppen bewahrheiten, so schreit alles nach einem internationalen Tribunal, wenn der Krieg vorüber ist.

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Wenn erst wieder Friede herrscht.

Das ist der Punkt. Wann ist zwischen der Ukraine und Russland Friede möglich und denkbar? Manchen im Westen kann es nicht schnell genug gehen. Sie ventilieren Verhandlungen, urgieren diplomatische Lösungen, drängen zu Kompromissen, fordern Frieden um jeden Preis.

Womit sie Frieden eindimensional denken, als die Abwesenheit unmittelbarer, kriegerischer Gewalt. Allein, Friede ist mehr, weswegen es tatsächlich hoch an der Zeit ist, ihn zu denken, seine Voraussetzungen, vor allem aber seine Gestalt, seine Ausgestaltung zu debattieren.

2022 feiert das Austrian Center für Peace, einst bekannt als Österreichisches Friedenszentrum in Schlaining, seinen 40. Geburtstag. Ein seltsam passendes Jahr für das Jubiläum einer Institution, die sich der Forschung und Förderung des Friedens verschrieben hat. Einer Institution, die sich aus dem Kalten Krieg in unsere Tage herübergerettet hat und seit geraumer Zeit schon den Blick geweitet hat, um globale Entwicklungen zu behandeln, erfassen und zu analysieren. Und damit wieder Teil des öffentlichen Diskurses zu werden.

Tatsächlich ist es höchst an der Zeit über Frieden zwischen der Ukraine und Russland zu sprechen. Darüber, was seine Fundamente sein können oder auch sein müssen, worin seine Perspektiven liegen und wie er sich in eine neue europäische Friedensordnung einbetten lässt. Wie er sie überhaupt erst definiert. Friede ist keine einfache Angelegenheit. Das scheint bei manchen in Vergessenheit geraten zu sein. Friede bedingt ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen, an Verstehen und an der Bereitschaft zu kooperieren. Nicht nur in technischen Fragen, vielmehr in grundsätzlichen Angelegenheiten. Eine Friedensordnung, so sie vital und attraktiv sein will, muss robust sein, bereit auch zur Konfrontation, dazu, für Werte einzustehen, sie, wenn es notwendig sein sollte, mit allen Mitteln zu verteidigen. Auch mit militärischen.

Friede ist ein Versprechen, das in der Geschichte stets eine zentrale Rolle gespielt hat. Der Erfolg des Römischen Imperiums beruht auf seinem Versprechen einer umfassenden Friedensordnung, der pax romana, die letztlich den Gebieten vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer, von Britannien bis Ägypten über Jahrhunderte ein hohes Maß an Stabilität, ein reiches kulturelles Leben, ökonomischen Austausch und – eine allgemein gültige Rechtsordnung garantiert hat.

Natürlich gibt es gänzlich unterschiedliche Ausprägungen von Friedensordnungen. Sie können unterdrückend sein, erdrückend, alle Freiheit verneinend. Sie können sich auf einfache Tauschgeschäfte beziehen, auf die Abwesenheit von Gewalt gegen entsprechende Tribute. Sie können demütigend sein.

Wenn etwa der Gedanke der Revanche vorherrscht. In den Jahren des Ersten Weltkriegs  als an der Westfront, am Isonzo, in Serbien, im Baltikum, Belarus und der Ukraine gekämpft und millionenfach gestorben wurde, wurden in Paris und Berlin, in London und Wien und in anderen Hauptstädten Überlegungen zu einer künftigen Friedensordung angestellt. Durchaus divergierende. Da planten deutsche Denker die Einverleibung Belgiens und die ewige Demütigung Frankreichs. Da sahen sich manche Habsburger schon auf neuen Thronen im Osten sitzen, Italien die Adria fest in italienischer Hand und Frankreich Deutschland in langandauernder Schuldknechtschaft. Es gab auch andere Vorstellungen, solche, die Kooperation zum Inhalt hatten, die auf die Revanche dezitiert verzichteten, die eine neue internationale Ordnung schaffen wollten. 1919 scheiterten sie.

Ein Scheitern, aus dem Franklin D. Roosevelt später seine Schlüsse für die Friedensordung nach dem Zweiten Weltkrieg zog. Erfolgreich, indem 1945 und in den Folgejahren eine regelbasierte, durch internationale Organisationen geprägte globale Ordnung geschaffen wurde, die, bei allen ihren Schwächen, nicht genug geschätzt werden kann.

So wie sich Westeuropa anschickte, seine Grenzen zu überwinden und über den Weg der Integration eine dauerhafte Friedensordnung zu schaffen. Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt. Nichts weniger als das.

Nur ist sie uns, ganz wie der Frieden, den wir seit Jahrzehnten erleben, eine Selbstverständlichkeit geworden, über deren tieferes Wesen und Urgrund wir in Europa nur selten, wenn überhaupt, nachzudenken bereit sind. Dabei entfaltet die Union gerade in ihrer Gestalt einer Friedensordnung, die auf Kooperation und Kollaboration aufbaut, Anziehungskraft und Attraktion. Die sogenannte „soft power“ der EU in Form von Rechtssicherheit wirkt tatsächlich weit über ihre Grenzen.

Mit den imperialen Bestrebungen und der Aggression Russlands, mit dem Dominanzstreben Chinas, mit den sich wegen des Klimawandels abzeichnenden politischen Verwerfungen stößt sie indes auch an ihre Grenzen.

Der Krieg in der Ukraine ist der dringende Anlass, die europäische Friedensordnung neu zu debattieren, sie neu zu denken, über die Grenzen des Kontinents hinaus. Nicht als koloniales Projekt, vielmehr als eine Einladung auf der Basis gemeinsamer Werte neue und zukunftsgerichtete Wege der Zusammenarbeit zu definieren. Und daraus ein politisches Projekt erstehen zu lassen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat erst kürzlich Überlegungen in diese Richtung angestellt. Deutschlands Kanzler Scholz hingegen will lieber – ganz oder gar nicht – Mitgliedschaften nach althergebrachter Art und Weise.

Olivia Lazard, Fellow der Carnegiestiftung mit dem Schwerpunkt Klimapolitik, legt Widerspruch ein. Sie ist, gemeinsam mit 13 anderen Forscherinnen und Forschern, in den neu gegründeten Beirat des ACP berufen worden. Gemeinsam sollen sie die Arbeit des Zentrums erweitern und fokussieren zugleich. Lazard nun steht für den weiten Blick. Ihre Schlüsse sind indes präzise und pointiert. Friede, der Bestand haben soll und Perspektiven, muss weit ausgreifen. Bis in die Wirtschaftsbeziehungen hinein. Wo ist Russland mit den Söldnern der Gruppe Wagner aktiv?, fragt sie. In afrikanischen Ländern, deren Rohstoffe für die Energiewende essentill sind, hält sie fest. So, wie sie das bereits im Mai während des „Time to decide“-Summit festgehalten hat.

Nun aber ergänzt sie ihre Feststellung. Europa hat zu wenig auf die Bedürfnisse seine Partner im Süden Rücksicht genommen. Europa wird eben nicht als Partner wahrgenommen, zudem weder als ehrlich noch als zuverlässig. Anstatt sich abzuschotten, überlegt Lazard, müsste Europa sich eben öffnen, neue, echte Partnerschaften entwerfen, anbieten und in eine neue, größere Friedensordung gießen. In eine, die so attraktiv ist, dass sie die russische oder auch die chinesische Erzählung aussticht. Die Diskussionen auf Burg Schlaining versprechen lebendig und interessant zu werden.

Dieser Ansatz könnte, er muss nachgerade zum Ausgangspunkt einer gesamteuropäischen Debatte werden, die den Frieden in allen seinen Dimensionen und Herausforderungen weiterdenkt, die zur Ausgestaltung einer neuen, umfassenderen sowie militärisch robusten europäischen Friedensordnung zu gelangen.

Der Krieg in der Ukraine beweist, wie dringend diese Auseinandersetzung ist. Auch um mit falschen Vorstellungen vom Frieden aufzuräumen, mit der Vorstellung, ein eingefrorener Konflikt, ein kalter Friede sei besser und erstrebenswerter, weil schneller erreichbar als fundierter Friede. Es ist die Ukraine, die seit Monaten unter größten Opfern die europäische Friedensordnung verteidigt. Europa, die Union, tut gut daran, das Land nach Kräften und in allen Belangen tatkräftig und mit allen Mitteln zu unterstützen. Die Fundamente einer neuen, erfolgreichen, einer umfangreicheren und zukunftsorientierten europäischen Friedensordnung liegen im militärischen Erfolg der Ukraine. (fksk, 20.11.22)

Woche 37 – Die Botschaft von Charkiv

Nach 200 Tagen Krieg gerät etwas in Bewegung. Zuallererst die Front, die die ukrainischen Streitkräfte deutlich nach Osten und zur Grenze hin verschoben haben. Ein Erfolg, der überraschend kam.

Denn: Die Lehrbücher sehen ihn so nicht vor. Ebenso wenig wie die herrschende Meinung, die Russland als groß und mächtig und unbesiegbar sieht. Immer noch. Selbst nach dem Fiasko vor Kiew zu Beginn des Krieges.

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Daraus hatte die russische Armeeführung wohl die Konsequenzen gezogen und sich auf ein einen langen, langsamen und zermürbenden Krieg im Osten und Süden der Ukraine eingerichtet. Je länger er dauern würde, je alltäglicher er geriete, desto besser. Denn dann würde der Westen des Krieges und seiner unmittelbaren Folgen auf die europäische Wirtschaft überdrüssig. Und schließlich würden die westeuropäischen Staats- und Regierungschefs – allen voran der deutsche Kanzler – Kiew zum Einlenken, zu Verhandlungen und zum Eingeständnis, den Krieg nicht gewinnen und sein Territorium nicht befreien zu können, drängen.

Putin kennt die westeuropäische Gemütslage. Er hat sie oft und intensiv studieren dürfen, auf Hochzeiten, während gemeinsamer Skiliftfahrten in den Alpen, in langen freundschaftlichen Gesprächen.

Das war, davon kann man ausgehen, in etwa die Strategie, der Plan.

Die Ukrainer haben dem nun eine Offensive entgegengesetzt, die allen Lehrbüchern widerspricht. Erst kündigen sie eine Offensive im Süden an, geben Russland Zeit und Gelegenheit, die eigenen Truppen rund um Cherson zu verstärken und greifen an, obwohl sie keine Überlegenheit von eins zu drei aufweisen. Die aber, so die Lehrbücher und die herrschende Meinung, braucht es, um einen Angriff erfolgreich durchführen zu können.

Und dann setzt sich die ukrainische Armee auch noch rund um Charkiv in Bewegung, wobei die russischen Besatzer ihr nichts entgegenzusetzen haben. Weswegen der Begriff des Blitzkriegs, zumindest in den englischsprachigen Medien, eine Renaissance erfährt.

Der Krieg ist damit noch lange nicht vorüber. Er ist nur, was Moskau sicher nicht passt, in die Wohnzimmer Westeuropas zurückgekehrt. Und das mit einer klaren Botschaft: Die russische Armee kann geschlagen werden. Sie kann empfindlich geschlagen werden. Moskaus Macht ist endlich.

Das ist die, für Putin, unendlich gefährlichere Botschaft als es noch der Rückzug vor Kiew war.

Es unterzeichnen russische Abegordnete aus St. Petrersburg, Moskau, aus Saratow und anderen, kleineren Städten eine Petition, die seinen, Putins, Rücktritt verlangt. Um Schaden von Russland abzuwenden. Es wird im russischen Talk-TV laut und offen überlegt, was nun zu tun ist. Und die Meinungen divergieren deutlich.

Vor allem aber flammt Krieg am Rande des russischen Imperiums auf. Aserbeidschan greift Armenien an. In Armenien, nicht in Berg-Karabach. Es scheint, als nutze die Regierung in Baku die Gunst der Stunde der geschlagenen russischen Armee bei Charkiv dazu, Tatsachen zu schaffen. Und einen eingefrorenen Konflikt militärisch und ohne russische Interventionen zugunsten Armeniens befürchten zu müssen, zu seinem Vorteil zu wenden.

Aserbeidschan ist nicht allein in seinem Bemühen, alte Konflikte angesichts des sichtbaren Schwächelns der russischen Armee zu seinen Gunsten zu nutzen: An der Grenze zwischen Kirgistan und Tadschikistan kommt es gleichfalls zu Gefechten zwischen bewaffneten Einheiten beider Länder.

Man kann, man muss davon ausgehen, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine in den ehemaligen Ländern des Sowjetunion sehr genau verfolgt wird. Mehr noch, dass dieser Krieg von Moskau auch als Demonstration seiner uneingeschränkten Macht und damit als deutliche Warnung an die Adresse aller Ex-Republiken gedacht und angelegt war. 2020 noch, als aserbeidschanische Truppen in die armenisch besetzte Exklave vordringen, setzt Moskau einen Waffenstillstand und kalten Frieden zwischen den beiden Oppnenten durch. Inklusive der Stationierung eigener Truppen in der Region.

Im Jänner dieses Jahres entsendet Moskau, noch während sein Truppenaufmarsch an den Grenzen zur Ukraine andauert, Einheiten nach Kasachstan, um dort Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Die kasachische Regierung indes hält seither Distanz zu Moskau. Trotzdem hatte die rasche Verlegung einsatzfähiger Truppen im Westen und sicherlich auch in der Region Eindruck gemacht.

So wie jetzt die Niederlage von Charkiv.

Das Problem Moskaus ist, dass die Niederlage deutlich mehr Eindruck macht. Und durchaus das Streben einiger Länder und Ethnien nach mehr Unabhängigkeit, nach einem Ende der russischen Dominanz befeuern kann. Oder eben im Sinne des Wortes befeuert, blickt man auf Aserbeidschan.

Wenn aber an den Rändern des Imperiums Konflikte aufbrechen, wenn die Bruchlinien sich bis nach Russland selbst verlagern, sieht sich Moskau einem schier unlösbaren Problem gegenüber. Nicht nur Moskau.

Brechen alte und neue Konfliktlinien vom Kauskasus bis nach Zentralasien auf, dann sind davon auch chinesische Interessen unmittelbar betroffen. Das reicht von der Neuen Seidenstraße bis hin zu potenziellen Auswirkungen auf die ethnischen Minderheiten in China, wie die Uiguren. Ist Russland nicht mehr in der Lage, die Situation mit eiserner Faust zu kontrollieren, kann für Peking der Moment kommen, an dem es sich direkt engagieren muss. Das bedeutet nichts weniger, als dass China seine Interessen im bis dato russischen Einflussgebiet selbst und militärisch vertritt.

Noch ist es nicht so weit. Und nichts deutet darauf hin, dass es bald schon dazu kommt. Zumal China lieber einen schwachen, zur Kontrolle der Lage in Zentralasien gerade genügend starken Nachbarn hat, als seine eigenen Soldaten einzusetzen. Der kühle Empfang, dem Putin beim Treffen der Shanghai-Gruppe in Samarkand seitens seiner Autokratenkollegen entboten wurde, spricht Bände.

Die Schlacht um Charkiv hat den Krieg in der Ukraine nicht beendet. Aber sie hat dem Ansehen des russischen Imperiums mehr Schaden zugefügt, als sich in Mannschaftsstärken und Material zählen lässt. Der Koloss ist verletztlich. Das ist die Botschaft von Charkiv. (fksk, 18.09.22)

Woche 25 – Hunger für die Welt

Woche siebzehn. Die Schlacht um Sjewjerodonezk ist entschieden, die ukrainischen Verteidiger haben ihre Positionen geräumt, die russischen Angreifer haben nach einer langen und verlustreichen Schlacht die Stadt oder das, was davon noch über ist, in ihrer Kontrolle. Unterdessen gelangen nicht nur deutsche Panzerhaubitzen in die Ukraine, sondern auch amerikanische Raketenwerfer. Während Russland aus seinem Arsenal herkömmlicher Waffen schöpft, können die Streitkräfte Kiews nun auf hochmodernes Equipment zugreifen. Ob und wie sich dieser Umstand an der Front auswirken wird, wird in den kommenden Wochen zu sehen sein.

Weizenfeld im Cherkasy Oblast/Ukraine
© Eugene/unsplash.com

In Elmau, in der Idylle der bayerischen Berge, dort, wo der Krieg wie von einer anderen Welt erscheint, geht unterdessen der G7-Gipfel über die Bühne. Wobei nicht allein die sieben wichtigsten westlichen Industriestaaten zusammentreffen, Deutschlands Kanzler Scholz hat Gäste eingeladen. Aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Es geht um viel.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine nimmt einen der wichtigsten Weizenproduzenten der Welt vom Markt. Die Häfen sind gesperrt und über Land stehen zu wenig Kapazitäten zur Verfügung das Getreide aus dem Land und in die Welt zu bringen. Nebenbei plündert die russische Armee dem Vernehmen nach die ukrainischen Lager, transportiert den Weizen nach Russland – oder vernichtet ihn vor Ort. Wegen der Kämpfe kann ein Gutteil der Ernte nicht eingebracht, die Saat nicht ausgebracht werden. Was für die ukrainischen Bauern schlimm ist, ist in seinen Auswirkungen für die Menschen Afrikas und des Nahen Osten schlichtweg katastrophal. Denn auch Russland liefert derzeit nicht.

Es steigen die Preise für den Weizen, für den Weizen, von dem es in den Ländern des Südens nun zu wenig gibt, als dass man die Bevölkerung ausreichend versorgen könnte. Mit anderen Worten, es droht eine Hungersnot von Ausmaßen, wie man sie seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht mehr erlebt hat. Also drohen Unruhen, Konflikte und – Migrationsbewegungen.

Herr Putin und seine Vasallen versichern unterdessen, an ihnen läge es nicht. Es läge einzig und allein an der Ukraine und am Westen, an den Sanktionen des Westens, die die Lieferungen verhindern. Woraus man folgern kann, aus russischer Sicht zwingend folgern muss, dass der Westen einmal mehr den Süden am ausgestreckten Arm verhungern lässt.

Diese Erzählung verfängt. Das hatte und hat das Regime in Moskau so erwartet. Es kümmert die Menschen in Afrika und im Nahen Osten die Frage, ob Russland nun Aggressor ist oder nicht, wenig. Was viel mehr eingängig ist, ist die Geschichte, wie sie Moskau darstellt. Auf der einen Seite die alten Kolonialmächte Europas, auf der anderen Russland, welches bereits in Gestalt der verblichenen Sowjetunion den heldenhaften Kampf gegen Kolonialismus und Imperialismus unterstützt hat und sich selbst heute den imperialen Ansprüchen Europas gegenübersieht und sich dagegen verteidigen muss. Weswegen die Weizenknappheit auch nicht der russischen Politik geschuldet ist, als vielmehr dem Ränkespiel des machthungrigen Westens.

Eines Westens, der willens und bereit ist, die Welt hungern zu lassen, nur um seine Ziele, etwa der Ausweitung seiner Interessenssphäre tief in mythisch russisches Gebiet, zu erreichen.

Tatsache ist, dass Russlands Getreidelieferungen nicht dem Sanktionsregime der EU unterliegen. Russland könnte liefern. Wenn es wollte. Russland könnte ukrainische Lieferungen über den Seeweg zusichern. Wenn es wollte. Nur Russland will nicht.

Der drohende Hunger ist als Instrument russischer Geopolitik zu verlockend, als dass Moskau auf ihn verzichten wird. So viel Prognose darf sein.

Es steckt der Westen in jeder Hinsicht in der Zwickmühle. Zum einen wird er für die Knappheit verantwortlich gemacht. Und werden erst Bilder hungernder, verhungernder und verhungerter Menschen publiziert, wächst der Druck auf den Westen, was auch immer in seiner Macht steht zu unternehmen, um dem Sterben ein Ende zu machen. Für Russland bedeutet das, die Aufhebung aller Sanktionen gegen das Land.

Je länger der Westen zuwartet, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sich zudem wieder mehr Migranten auf den Weg nach Europa machen. Wobei diese Fluchtbewegung aus den Hungergebieten jene des Jahres 2015 aller Wahrscheinlichkeit nach in den Schatten stellen wird. Mit allen innenpolitischen Auswirkungen in den Ländern der Europäischen Union. Und mit mehr Toten an ihren Außengrenzen als je zuvor. Eine Lage, die ausweglos erscheint. Es sei denn, Russland beginnt wieder Getreide zu liefern – gegen Aufhebung ausnahmslos aller Sanktionen. Versteht sich.

Das Regime in Moskau wird an dieser Geschichte und dieser Erpressung festhalten. Schließlich kann dieser Hebel unter geringstem Aufwand gegen die Europäische Union eingesetzt werden.

Dass Russlands Erzählung in den Ländern des Globalen Südens so sehr verfängt, daran sind Europa und der Westen freilich selbst schuld. In den Jahren seit dem Fall der Mauer hat es die Union nicht vermocht ihr Verhältnis zu den Ländern beispielsweise Afrikas auf eine neue, faire Basis zu stellen. Die Welle der Demokratisierung, die Afrika in den 90er Jahren prägte, erfolgte gänzlich ohne europäisches Zutun. Sie fand nicht einmal Anerkennung. Als hätte sich nichts geändert in Malawi, in Zambia, in Tansania, in Südafrika und Namibia, in Ghana und in Kamerun, in Mali und Senegal, als wäre die Geschichte über Afrika hinweggegangen, blieb der Kontinent in erster Linie Absatzmarkt, Hinterhof und je nach Nachrichtenlage eine einzige Konzentration aus Katastrophen oder ein Sehnsuchtsbild aus kolonialen Tagen.

Eine Partnerschaft auf Augenhöhe hat sich nicht entwickelt. Echtes Interesse an Afrika hat Europa nicht entwickelt. Vielleicht auch nicht entwickeln wollen. Nicht in den letzten 30 Jahren. Also wenden sich afrikanische Regierungen zusehends China zu. Oder Russland, das keine Fragen stellt, wenn Menschenrechte verletzt werden. Russland stellt dafür Söldner.

Lädt Herr Scholz nun die Staatschefs von Argentinien, Indien, Indonesien, Südafrika und Senegal in Elmau zum Gipfeltreffen der G7, dann auch um der Erzählung Russlands Fakten entgegenzuhalten. In letzter Minute.

Es braucht mehr, eine andere Politik. Und es braucht Lösungen, den Hunger zu stillen. Akut und auf lange Sicht. (fksk, 26.06.22)

Woche 24 – Recht, Gesetz und der Reiz der Gerechtigkeit

Woche sechzehn – Die Schlacht in und um Sjewjerodonezk im Donbass dauert an. Die russischen Streitkräfte zerstören sämtliche Brücken der Stadt und beschuldigen die ukrainische Armee die Evakuierung von Zivilisten zu boykottieren. Kiew übt sich derweil in Durchhalteparolen und drängt die westliche Staatengemeinschaft, endlich schwere Artillerie, Panzer und Lenkwaffen in ausreichendem Maß zur Verfügung zu stellen. Das Material aber lässt weiterhin auf sich warten, dafür reisen Scholz, Macron und Draghi nach Kiew. Tags darauf empfiehlt die EU-Kommission, der Ukraine den Status des Beitrittskandidaten zu verleihen. Der Putin-Vertraute Medwedew spricht unterdessen einmal mehr davon, dass die Ukraine ausgelöscht werden soll, im russischen TV wird ein Angriff auf Deutschland ventiliert und Gazprom reduziert seine Gaslieferungen in den Westen. Kommentiert wird im Westen nur Letzteres.

Justizpalast Wien
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Gleichzeitig wendet sich der Westen, vielmehr wenden sich die westlichen Gesellschaften und Staaten verstärkt ihren eigenen Problemen zu. Zum Beispiel in den USA, wo ein Ausschuss des Kongress versucht, Licht und Erkenntnis in den Sturm auf das Kapitol vom 6. Jänner 2021 zu bringen.

War dieser Tag für sich genommen bereits eine kapitale Erschütterung des demokratischen Systems der Vereinigten Staaten, treten nun bei näherer Untersuchung Details zutage, die zeigen, wie knapp die USA an diesem Tag davor waren, in einen regelrechten Bürgerkrieg abzugleiten. Was freilich noch beunruhigender ist, ist der Umstand, dass weite Teile der amerikanischen Gesellschaft und der Republikanischen Partei dazu übergehen, den 6. Jänner kleinzureden, die Agenda des ehemaligen Präsidenten Trump in immer neuen Volten voranzutreiben und von einem Schauprozess sprechen.

In Großbritannien übt sich Innenministerin Patel in herber Kritik am Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Der hat Abschiebeflüge von Asylsuchenden aus dem Vereinigten Königreich nach Ruanda untersagt, als diese Regelung der Regierung Johnson gegen die Europäischen Menschenrechte verstößt. Patel sieht in dieser Entscheidung indes kein rechtliches Verdikt, vielmehr unterstellt sie dem EMRG aus politischem Kalkül geurteilt zu haben. Jenseits des Rechts.

In Österreich twittert unterdessen die Generalsekretärin der Volkspartei gegen ein Erkenntnis des Europäischen Gerichtshofs. Der hat festgestellt, dass bestimmte Sozialleistungen allen Menschen, die in Österreich arbeiten, zustehen, unabhängig davon, wo sie herkommen und wie lange sie in Österreich arbeiten. Damit folgt der EuGH schlicht dem Gleichbehandlungsgebot innerhalb der EU. Frau Sachslehner ihrerseits aber wittert darin ein politisches Urteil, gegen welches sie und ihre VP kämpfen würden. Gerechtigkeit für Österreich, empört sie sich.

Nun ist Urteilsschelte in einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft nicht verboten. Sie ist bisweilen sogar grundnotwendig, damit das Recht sich weiterentwickeln kann.

Was in diesen drei Fällen indes zum Tragen kommt, ist, dass Urteile und Verfahren nicht auf Basis des Rechts kommentiert und kritisiert werden, sondern vielmehr von einem politischen, tagespolitischem Standpunkt aus als politisch verunglimpft werden. Es wird versucht, dem Urteil seine Legitimation zu entziehen. Es wird der untersuchenden und rechtsprechenden Institution abgesprochen, ohne Ansehen der Parteien und allein auf Basis der Gesetze, Regeln und Normen zu entscheiden. Es wird, aus Gründen politischer Opportunität, kurzerhand das Rechtssystem in Frage gestellt.

Das ist brandgefährlich und fatal.

Es ist eine Entwicklung, die lange schon andauert, die von den politischen Rändern her vorangetrieben wurde und wird, die mit den Grund- und Menschenrechten per se ihre Schwierigkeiten haben. Tatsächlich sind Grundgesetze sperrig. Sie sind keine elastischen Normen, die nach Belieben und Tagesverfassung mal so, dann wieder anders interpretiert werden können. Sie formulieren nichts weniger als die Prinzipien, derer sich pluralistische und demokratisch verfasste Gesellschaften aus gutem Grund und aus schmerzhafter Erfahrung heraus verpflichtet fühlen. Weswegen sie auch nicht, sehr zum Bedauern gerade der politisch Randständigen, einfach ausgehebelt werden können.

Wenn aber Vertreter von Parteien, die sich als staatstragend verstehen, die wesentlichen Anteil an der Formulierung dieser Normen hatten, genau diese Normen und die darauf fußende Rechtsprechung als „ungerecht“ und als „politisch“ verunglimpfen und abtun, dann sind Denken und Agieren der bislang im Zaum gehaltenen politischen Extreme in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Nicht mehr die Herrschaft des Rechts steht im Mittelpunkt, als vielmehr das Rechthabenwollen im Moment, ein Schrei nach einer wie auch immer gearteten Gerechtigkeit, die man für sich und seine Klientel in Anspruch nimmt.

Man hätte meinen sollen, dass nach dem 6. Jänner ein Umdenken einsetzt. Man hätte annehmen müssen, dass angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine und – expresis verbis – gegen den Westen, sich gerade konservative Parteien des Werts und der Stellung des Rechts in und für unsere Gesellschaften wieder bewusst werden und genau diesen Respekt vor dem Gesetz und der Rechtsprechung in den Fokus ihrer politischen Arbeit stellen.

Man hätte müssen, sollen, können – der Konjunktiv schmückt sich stets mit einem Hauch Resignation.

Trotzdem, noch ist es nicht zu spät. (fksk, 19.06.22)