John McCain

Woche 47 – Katzenjammer in Katar

Neun Monate Krieg in der Ukraine. In Cherson werden russische Folterkammern entdeckt. Das EU-Parlament stuft Russland als Terrorstaat ein, zur Bestätigung überzieht die Armee der Russischen Föderation die Ukraine mit einem Hagel an Raketenangriffen auf zivile Infrastruktur. Vor Bakhmut erstarrt die Front in einem Stellungskrieg, der an jenen der Westfront während des Ersten Weltkriegs erinnert. Der Winter in der Ukraine wird lang, hart und grausam werden.

© Lily Banse/unsplash.com

Die Schlagzeilen fokussieren indes auf anderes. Es herrscht Katzenjammer in Katar. Also, nicht dass der Weltfussballverband und die Gastgeber der Fussballweltmeisterschaft klagten, vielmehr sind es die europäischen Teams sowie ihre Fans vor Ort und daheim, die klagen.

Was Wunder, dass in einem strikt islamischen Land westliche Diversitätskultur und -politik nicht willkommen ist? Wie sehr kann es überraschen, dass in einem islamischen Land der Bierkonsum eingeschränkt wird; dass die iranische Opposition nicht gehört, nicht gezeigt und nicht erwähnt werden darf; dass die Gäste sich dem Willen des Gastgeber zu beugen haben? Und was Wunder, dass die FIFA sich dem Willen des finanzstarken Gastgebers beugt?

Man hätte es wissen können, antizipieren müssen. Wo doch von Anbeginn klar war, dass diese WM an diesem Ort und zu dieser Zeit mindestens fragwürdig ist. Und man hätte es sich an zwei Fingern – an einem! – ausrechnen können, dass europäische oder auch westliche Bekenntnisse zur Vielfalt sexueller Bekenntnisse hier nicht verfangen. Die stumme Wut der europäischen Verbände, dass ihre Kapitäne nicht mit einer regenbogenfarbenen Armbinde einlaufen dürfen, ist ein Armutszeugnis.

Sie illustriert auf ihre Weise ein höchst europäisches, ein westliches Dilemma.

Die Welt, sie ist nicht so, wie der Westen sie sich wünscht.

Und sie wird nicht anders, sie wird nicht besser, wenn man sich dieser Einsicht verweigert.

Ein Beispiel: Dieser Tage ist es auch schon wieder ein Jahr her, dass Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel die politische Bühne verlassen hat. Zum Jahrestag hat sie nun dem Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL ein Interview gegeben. Darin erwähnt sie, dass sie in den letzten Monaten ihrer Kanzlerinnenschaft erkannte, zu Putin nicht mehr durchzudringen. Dass der Mann nur durch Macht zu beeindrucken sei. Ihre Reaktion darauf? Der Versuch, ein neues europäisches Gesprächsformat ins Leben zu rufen.

Im Übrigen ist sie der Meinung, es sei besser, Deutschland liefere der Ukraine nicht als erstes Land moderne Kampfpanzer. Es sei schließlich doch so, dass man in Russland mit Deutschland immer noch gute Stimmung machen kann.

In Russland sorgt diese Aussage garantiert für gute Stimmung.

Der Erkenntnis, dass Putin nur „Power“ versteht, indes blieb folgenlos.

Es geht hier nicht darum, Frau Merkel ans Zeug zu flicken. Sie verkörpert aber sehr wohl das gegenwärtige europäische Dilemma. Es war so schön, nach 1989. Und es war so beglückend, zu sehen, was aus dem Ende der Blockkonfrontation erwuchs, eine globales Regelwerk, eine internationale Ordnung, die auf die Herrschaft des Rechts setzte, auf Vernunft und Kompromiss. Daran, das ist wichtig, ist nach wie vor nichts falsch.

Der Fehler, der zum Katzenjammer führt, liegt vielmehr darin, sehenden Auges die zunehmenden Verstöße, die offene Missachtung, den Bruch aller Vereinbarungen hinzunehmen, allenfalls mit ein wenig Sanktionskosmetik zu bedenken und ansonsten zu hoffen, dass mit der Zeit diese Aufwallungen des Irrationalen wieder in sich zusammenfielen wie ein Souflé.

Noch ein Beispiel: Während des US-Präsidentschaftswahlkampfs 2008 schickt Moskau seine Truppen aus. Gegen Georgien, in die Provinzen Abchasien und Südossetien. Es ist Senator John McCain, Kandidat der Republikaner, der sofort eine klare und entschlossene Reaktion des Westens verlangt. Russland dürfe damit nicht durchkommen, ist seine Botschaft. Sein Gegenkandidat Barack Obama, Kandidat der Demokraten, reagiert etwas später und deutlich zurückhaltender. Er will keinen Konflikt mit Russland, er strebt einen Neustart der Beziehungen an. In Europa verfängt seine Botschaft. Zumal nach dem desaströsen und völkerrechtswidrigen Krieg des George W. Bush im Irak. Aber auch, weil man in Europa hofft, dass Russlands herrschende Elite mit diesen Vorstößen auf das Gebiet eines Nachbarstaates, nach der Verletzung international anerkannter Grenzen, zufrieden, befriedigt und satt sein werde.

Der Neustart, den US-Präsident Obama in den Beziehungen zu Russland versucht, scheitert übrigens kurz darauf im ersten Anlauf.

All dem zum Trotz geriert sich Europa, geriert sich der Westen als wäre doch alles auf Schiene. Als sei der Verlauf der Geschichte unausweichlich auf den Erfolg des demokratischen Systems ausgelegt. Weil sein muss, was zu sein hat. Der Triumph des Schönen, Guten und Wahren.

Eine Fehleinschätzung.

Die sich mit zudem mit einer fatalen Bequemlichkeit des Denkens paart. Anstatt sich in Diskussionen zu stürzen, anstatt die eigenen Argumente und Positionen in Debatten zu stärken, anstatt die Auseinandersetzung mit konträren Ideen und Ansichten zu suchen, greift ein Dogmatismus des einmal als richtig Erkannten um sich.  Verbunden mit einer Scheuklappenmentalität, die aus den Augenwinkeln wohl die gegenlaufenden Entwürfe wahrnimmt, nicht aber in ihren Ausmaßen und Dimensionen wahrhaben will. In aller fatalen Konsequenz.

An seine Grenzen stößt dieses Verhaltensmuster schon seit Jahren. 2022 indes ist der Katzenjammer so groß wie nie zuvor. In den Staatskanzleien, die feststellen mussten, dass wesentliche Akteure der Weltpolitik die regelbasierte internationale Ordnung für sich und ihre Agenda offen nicht länger als bindend erachten. In Sportler-, Aktivisten- und Marketingkreisen, die erkennen müssen, dass die schöne, freundliche und vielfältige Welt, die sie mit sich verbinden, nicht die Norm ist. Und Twitter gehört nun Elon Musk. Katzenjammer allüberall.

Da hilft nur eines, die Scheuklappen abzulegen, der Welt realistisch gegenüberzutreten, sie sich nicht schönzufärben. Das mag im ersten Moment schmerzen, aber es reduziert Katzenjammer und unerwünschte Nebenwirkungen. Und trägt damit mehr zu einer tatsächlich besseren Welt bei. (fksk, 27.11.22)