Barack Obama

Woche 47 – Katzenjammer in Katar

Neun Monate Krieg in der Ukraine. In Cherson werden russische Folterkammern entdeckt. Das EU-Parlament stuft Russland als Terrorstaat ein, zur Bestätigung überzieht die Armee der Russischen Föderation die Ukraine mit einem Hagel an Raketenangriffen auf zivile Infrastruktur. Vor Bakhmut erstarrt die Front in einem Stellungskrieg, der an jenen der Westfront während des Ersten Weltkriegs erinnert. Der Winter in der Ukraine wird lang, hart und grausam werden.

© Lily Banse/unsplash.com

Die Schlagzeilen fokussieren indes auf anderes. Es herrscht Katzenjammer in Katar. Also, nicht dass der Weltfussballverband und die Gastgeber der Fussballweltmeisterschaft klagten, vielmehr sind es die europäischen Teams sowie ihre Fans vor Ort und daheim, die klagen.

Was Wunder, dass in einem strikt islamischen Land westliche Diversitätskultur und -politik nicht willkommen ist? Wie sehr kann es überraschen, dass in einem islamischen Land der Bierkonsum eingeschränkt wird; dass die iranische Opposition nicht gehört, nicht gezeigt und nicht erwähnt werden darf; dass die Gäste sich dem Willen des Gastgeber zu beugen haben? Und was Wunder, dass die FIFA sich dem Willen des finanzstarken Gastgebers beugt?

Man hätte es wissen können, antizipieren müssen. Wo doch von Anbeginn klar war, dass diese WM an diesem Ort und zu dieser Zeit mindestens fragwürdig ist. Und man hätte es sich an zwei Fingern – an einem! – ausrechnen können, dass europäische oder auch westliche Bekenntnisse zur Vielfalt sexueller Bekenntnisse hier nicht verfangen. Die stumme Wut der europäischen Verbände, dass ihre Kapitäne nicht mit einer regenbogenfarbenen Armbinde einlaufen dürfen, ist ein Armutszeugnis.

Sie illustriert auf ihre Weise ein höchst europäisches, ein westliches Dilemma.

Die Welt, sie ist nicht so, wie der Westen sie sich wünscht.

Und sie wird nicht anders, sie wird nicht besser, wenn man sich dieser Einsicht verweigert.

Ein Beispiel: Dieser Tage ist es auch schon wieder ein Jahr her, dass Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel die politische Bühne verlassen hat. Zum Jahrestag hat sie nun dem Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL ein Interview gegeben. Darin erwähnt sie, dass sie in den letzten Monaten ihrer Kanzlerinnenschaft erkannte, zu Putin nicht mehr durchzudringen. Dass der Mann nur durch Macht zu beeindrucken sei. Ihre Reaktion darauf? Der Versuch, ein neues europäisches Gesprächsformat ins Leben zu rufen.

Im Übrigen ist sie der Meinung, es sei besser, Deutschland liefere der Ukraine nicht als erstes Land moderne Kampfpanzer. Es sei schließlich doch so, dass man in Russland mit Deutschland immer noch gute Stimmung machen kann.

In Russland sorgt diese Aussage garantiert für gute Stimmung.

Der Erkenntnis, dass Putin nur „Power“ versteht, indes blieb folgenlos.

Es geht hier nicht darum, Frau Merkel ans Zeug zu flicken. Sie verkörpert aber sehr wohl das gegenwärtige europäische Dilemma. Es war so schön, nach 1989. Und es war so beglückend, zu sehen, was aus dem Ende der Blockkonfrontation erwuchs, eine globales Regelwerk, eine internationale Ordnung, die auf die Herrschaft des Rechts setzte, auf Vernunft und Kompromiss. Daran, das ist wichtig, ist nach wie vor nichts falsch.

Der Fehler, der zum Katzenjammer führt, liegt vielmehr darin, sehenden Auges die zunehmenden Verstöße, die offene Missachtung, den Bruch aller Vereinbarungen hinzunehmen, allenfalls mit ein wenig Sanktionskosmetik zu bedenken und ansonsten zu hoffen, dass mit der Zeit diese Aufwallungen des Irrationalen wieder in sich zusammenfielen wie ein Souflé.

Noch ein Beispiel: Während des US-Präsidentschaftswahlkampfs 2008 schickt Moskau seine Truppen aus. Gegen Georgien, in die Provinzen Abchasien und Südossetien. Es ist Senator John McCain, Kandidat der Republikaner, der sofort eine klare und entschlossene Reaktion des Westens verlangt. Russland dürfe damit nicht durchkommen, ist seine Botschaft. Sein Gegenkandidat Barack Obama, Kandidat der Demokraten, reagiert etwas später und deutlich zurückhaltender. Er will keinen Konflikt mit Russland, er strebt einen Neustart der Beziehungen an. In Europa verfängt seine Botschaft. Zumal nach dem desaströsen und völkerrechtswidrigen Krieg des George W. Bush im Irak. Aber auch, weil man in Europa hofft, dass Russlands herrschende Elite mit diesen Vorstößen auf das Gebiet eines Nachbarstaates, nach der Verletzung international anerkannter Grenzen, zufrieden, befriedigt und satt sein werde.

Der Neustart, den US-Präsident Obama in den Beziehungen zu Russland versucht, scheitert übrigens kurz darauf im ersten Anlauf.

All dem zum Trotz geriert sich Europa, geriert sich der Westen als wäre doch alles auf Schiene. Als sei der Verlauf der Geschichte unausweichlich auf den Erfolg des demokratischen Systems ausgelegt. Weil sein muss, was zu sein hat. Der Triumph des Schönen, Guten und Wahren.

Eine Fehleinschätzung.

Die sich mit zudem mit einer fatalen Bequemlichkeit des Denkens paart. Anstatt sich in Diskussionen zu stürzen, anstatt die eigenen Argumente und Positionen in Debatten zu stärken, anstatt die Auseinandersetzung mit konträren Ideen und Ansichten zu suchen, greift ein Dogmatismus des einmal als richtig Erkannten um sich.  Verbunden mit einer Scheuklappenmentalität, die aus den Augenwinkeln wohl die gegenlaufenden Entwürfe wahrnimmt, nicht aber in ihren Ausmaßen und Dimensionen wahrhaben will. In aller fatalen Konsequenz.

An seine Grenzen stößt dieses Verhaltensmuster schon seit Jahren. 2022 indes ist der Katzenjammer so groß wie nie zuvor. In den Staatskanzleien, die feststellen mussten, dass wesentliche Akteure der Weltpolitik die regelbasierte internationale Ordnung für sich und ihre Agenda offen nicht länger als bindend erachten. In Sportler-, Aktivisten- und Marketingkreisen, die erkennen müssen, dass die schöne, freundliche und vielfältige Welt, die sie mit sich verbinden, nicht die Norm ist. Und Twitter gehört nun Elon Musk. Katzenjammer allüberall.

Da hilft nur eines, die Scheuklappen abzulegen, der Welt realistisch gegenüberzutreten, sie sich nicht schönzufärben. Das mag im ersten Moment schmerzen, aber es reduziert Katzenjammer und unerwünschte Nebenwirkungen. Und trägt damit mehr zu einer tatsächlich besseren Welt bei. (fksk, 27.11.22)

Woche 46 – Joe und der gordische Knoten

Joe Biden hat die US-Präsidentschaftswahl gewonnen. Er hat sie klar gewonnen, in absoluten Zahlen wie auch an Wahlmännern. Nur war es nicht der von vielen erhoffte Erdrutschsieg, nicht die überwältigende Absage an den Trumpismus, auf den Kommentatoren und Beobachter hofften, von dem sie geradezu ausgingen. Die Wählerinnen und Wähler der USA haben stattdessen dafür gesorgt, dass keine Seite uneingeschränkte Oberhoheit hat und die Themen der Trump-Wählerschaft relevant bleiben.

© Kevin Grieve / unsplash.com

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Das kann man als fatal ansehen, als Fortschreibung der Pattsituation zwischen den wie auch immer liberalen Küsten und urbanen Zentren sowie den konservativen ländlichen Gebieten der Vereinigten Staaten. Mithin als fortschreitende Schwächung der USA, da die Biden-Präsidentschaft sich in erster Linie darauf wird konzentrieren müssen, Vertrauen herzustellen, der Gesprächsbereitschaft in Trippelschritten den Weg zu bahnen, mühselig Kompromiss auf Kompromiss mit den Republikanern zu zimmern.

Joe Biden ist nachgerade mit einem gordischen Knoten konfrontiert.

Die Lösung Alexander des Großen, den Knoten mit einem Schwerthieb zu durchtrennen, ist, wiewohl als kühne Tat und Ausweis seines Sendungsbewusstseins und Anbruch einer neuen Zeit gefeiert, eine reichlich simple. Bei einem realen Knoten mag sie angehen. Bei einem gordischen Knoten, wie er sich in den unterschiedlichen, krass divergierenden Lebenswelten und Erwartungshaltungen der US-Bevölkerung darstellt ist ein wie auch immer gearteter Schwerthieb keine Lösung.

Vielmehr braucht es Geduld und Fingerspitzengefühl. Joe Biden könnte sich in dieser Situation als die in jeder Hinsicht richtige Wahl herausstellen.

Der Mann ist seit einer gefühlten Ewigkeit in der US-Politik zu Hause. Er kennt, wie kaum ein anderer, die Kniffe und Befindlichkeiten. Er weiß seine Gegner (von denen er mehr als genug auch in der eigenen Partei hat) gut einzuschätzen. Wichtiger noch, er ist kein Haudrauf.

Das hat er allein in den Tagen seit er zum Sieger ausgerufen worden ist unter Beweis gestellt. Mit einer versöhnlichen Rede, mit Ruhe, mit ersten personellen Entscheidungen, indem er Tatsachen schafft, anstatt triumphal als zu feiern. Er verschafft den USA jetzt schon eine erste, dringend benötigte Atempause.

Die Querschüsse aus den Reihen der Republikanischen Partei, die Klagen, Unterstellungen, Vorwürfe des Wahlbetrugs, die offene Obstruktion durch die Trump-Administration lässt er ins Leere laufen – trotzdem nie zuvor ein US-Präsident mehr Stimmen auf sich vereint hat als er. Möglicherweise weil er sich des Umstands bewusst ist, dass auch nie ein amtierender Präsident mehr Stimmen erhalten hat als Trump.

Biden ist nicht der Typ, der große Emotionen hervorruft. Darin sind, bei allen gravierenden Unterschieden, Obama und Trump einander weitaus ähnlicher. Mit ihm werden keine großen Heilserwartungen verbunden. Weder von der Linken (die so viel lieber doch Bernie Sanders gesehen hätte), geschweige denn von der Rechten. Womit sich ihm die Chance bietet, die Mitte zu definieren, dem Zentrum jenes Gewicht zu verleihen, Diskurshoheit und Debattenfähigkeit zurück zu erlangen. Was wiederum voraussetzt, die andere Seite zu hören, auf ihre Argumente einzugehen, sich inhaltlich mit ihr zu beschäftigen.

Genau daran mangelt es in den USA (und nicht nur den USA). Die Fähigkeit und die Geduld sich mit Ansichten auseinanderzusetzen, die einem fremd sind, die eine Zumutung darstellen, die man eigentlich gar nicht denken geschweige den hören will. Das freilich ist das Wesen einer demokratischen Gesellschaft. Sie ist nie einfach, sie kann nicht auf Kommando funktionieren, sie verlangt nach dem Streitgespräch und nach Teilnehmern, die nicht sofort beleidigt sind, so sie mit anderen Sichtweisen konfrontiert werden. Demokratie ist eine langwierige Sache und eine ununterbrochene Zumutung.

Joe Biden, seit 48 Jahren inmitten des politischen Geschehens, weiß das. Er wird den gordischen Knoten vielleicht nicht lösen können. Aber er kann ihn wenigstens so weit lockern, um wieder Bewegung zwischen den Lagern zu ermöglichen.

Allein das würde seine Präsidentschaft zu einer herausragenden machen. (fksk/15.11.20)