Joe Biden hat die US-Präsidentschaftswahl gewonnen. Er hat sie klar gewonnen, in absoluten Zahlen wie auch an Wahlmännern. Nur war es nicht der von vielen erhoffte Erdrutschsieg, nicht die überwältigende Absage an den Trumpismus, auf den Kommentatoren und Beobachter hofften, von dem sie geradezu ausgingen. Die Wählerinnen und Wähler der USA haben stattdessen dafür gesorgt, dass keine Seite uneingeschränkte Oberhoheit hat und die Themen der Trump-Wählerschaft relevant bleiben.
Das kann man als fatal ansehen, als Fortschreibung der Pattsituation zwischen den wie auch immer liberalen Küsten und urbanen Zentren sowie den konservativen ländlichen Gebieten der Vereinigten Staaten. Mithin als fortschreitende Schwächung der USA, da die Biden-Präsidentschaft sich in erster Linie darauf wird konzentrieren müssen, Vertrauen herzustellen, der Gesprächsbereitschaft in Trippelschritten den Weg zu bahnen, mühselig Kompromiss auf Kompromiss mit den Republikanern zu zimmern.
Joe Biden ist nachgerade mit einem gordischen Knoten konfrontiert.
Die Lösung Alexander des Großen, den Knoten mit einem Schwerthieb zu durchtrennen, ist, wiewohl als kühne Tat und Ausweis seines Sendungsbewusstseins und Anbruch einer neuen Zeit gefeiert, eine reichlich simple. Bei einem realen Knoten mag sie angehen. Bei einem gordischen Knoten, wie er sich in den unterschiedlichen, krass divergierenden Lebenswelten und Erwartungshaltungen der US-Bevölkerung darstellt ist ein wie auch immer gearteter Schwerthieb keine Lösung.
Vielmehr braucht es Geduld und Fingerspitzengefühl. Joe Biden könnte sich in dieser Situation als die in jeder Hinsicht richtige Wahl herausstellen.
Der Mann ist seit einer gefühlten Ewigkeit in der US-Politik zu Hause. Er kennt, wie kaum ein anderer, die Kniffe und Befindlichkeiten. Er weiß seine Gegner (von denen er mehr als genug auch in der eigenen Partei hat) gut einzuschätzen. Wichtiger noch, er ist kein Haudrauf.
Das hat er allein in den Tagen seit er zum Sieger ausgerufen worden ist unter Beweis gestellt. Mit einer versöhnlichen Rede, mit Ruhe, mit ersten personellen Entscheidungen, indem er Tatsachen schafft, anstatt triumphal als zu feiern. Er verschafft den USA jetzt schon eine erste, dringend benötigte Atempause.
Die Querschüsse aus den Reihen der Republikanischen Partei, die Klagen, Unterstellungen, Vorwürfe des Wahlbetrugs, die offene Obstruktion durch die Trump-Administration lässt er ins Leere laufen – trotzdem nie zuvor ein US-Präsident mehr Stimmen auf sich vereint hat als er. Möglicherweise weil er sich des Umstands bewusst ist, dass auch nie ein amtierender Präsident mehr Stimmen erhalten hat als Trump.
Biden ist nicht der Typ, der große Emotionen hervorruft. Darin sind, bei allen gravierenden Unterschieden, Obama und Trump einander weitaus ähnlicher. Mit ihm werden keine großen Heilserwartungen verbunden. Weder von der Linken (die so viel lieber doch Bernie Sanders gesehen hätte), geschweige denn von der Rechten. Womit sich ihm die Chance bietet, die Mitte zu definieren, dem Zentrum jenes Gewicht zu verleihen, Diskurshoheit und Debattenfähigkeit zurück zu erlangen. Was wiederum voraussetzt, die andere Seite zu hören, auf ihre Argumente einzugehen, sich inhaltlich mit ihr zu beschäftigen.
Genau daran mangelt es in den USA (und nicht nur den USA). Die Fähigkeit und die Geduld sich mit Ansichten auseinanderzusetzen, die einem fremd sind, die eine Zumutung darstellen, die man eigentlich gar nicht denken geschweige den hören will. Das freilich ist das Wesen einer demokratischen Gesellschaft. Sie ist nie einfach, sie kann nicht auf Kommando funktionieren, sie verlangt nach dem Streitgespräch und nach Teilnehmern, die nicht sofort beleidigt sind, so sie mit anderen Sichtweisen konfrontiert werden. Demokratie ist eine langwierige Sache und eine ununterbrochene Zumutung.
Joe Biden, seit 48 Jahren inmitten des politischen Geschehens, weiß das. Er wird den gordischen Knoten vielleicht nicht lösen können. Aber er kann ihn wenigstens so weit lockern, um wieder Bewegung zwischen den Lagern zu ermöglichen.
Allein das würde seine Präsidentschaft zu einer herausragenden machen. (fksk/15.11.20)