Woche sechzehn – Die Schlacht in und um Sjewjerodonezk im Donbass dauert an. Die russischen Streitkräfte zerstören sämtliche Brücken der Stadt und beschuldigen die ukrainische Armee die Evakuierung von Zivilisten zu boykottieren. Kiew übt sich derweil in Durchhalteparolen und drängt die westliche Staatengemeinschaft, endlich schwere Artillerie, Panzer und Lenkwaffen in ausreichendem Maß zur Verfügung zu stellen. Das Material aber lässt weiterhin auf sich warten, dafür reisen Scholz, Macron und Draghi nach Kiew. Tags darauf empfiehlt die EU-Kommission, der Ukraine den Status des Beitrittskandidaten zu verleihen. Der Putin-Vertraute Medwedew spricht unterdessen einmal mehr davon, dass die Ukraine ausgelöscht werden soll, im russischen TV wird ein Angriff auf Deutschland ventiliert und Gazprom reduziert seine Gaslieferungen in den Westen. Kommentiert wird im Westen nur Letzteres.
Gleichzeitig wendet sich der Westen, vielmehr wenden sich die westlichen Gesellschaften und Staaten verstärkt ihren eigenen Problemen zu. Zum Beispiel in den USA, wo ein Ausschuss des Kongress versucht, Licht und Erkenntnis in den Sturm auf das Kapitol vom 6. Jänner 2021 zu bringen.
War dieser Tag für sich genommen bereits eine kapitale Erschütterung des demokratischen Systems der Vereinigten Staaten, treten nun bei näherer Untersuchung Details zutage, die zeigen, wie knapp die USA an diesem Tag davor waren, in einen regelrechten Bürgerkrieg abzugleiten. Was freilich noch beunruhigender ist, ist der Umstand, dass weite Teile der amerikanischen Gesellschaft und der Republikanischen Partei dazu übergehen, den 6. Jänner kleinzureden, die Agenda des ehemaligen Präsidenten Trump in immer neuen Volten voranzutreiben und von einem Schauprozess sprechen.
In Großbritannien übt sich Innenministerin Patel in herber Kritik am Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Der hat Abschiebeflüge von Asylsuchenden aus dem Vereinigten Königreich nach Ruanda untersagt, als diese Regelung der Regierung Johnson gegen die Europäischen Menschenrechte verstößt. Patel sieht in dieser Entscheidung indes kein rechtliches Verdikt, vielmehr unterstellt sie dem EMRG aus politischem Kalkül geurteilt zu haben. Jenseits des Rechts.
In Österreich twittert unterdessen die Generalsekretärin der Volkspartei gegen ein Erkenntnis des Europäischen Gerichtshofs. Der hat festgestellt, dass bestimmte Sozialleistungen allen Menschen, die in Österreich arbeiten, zustehen, unabhängig davon, wo sie herkommen und wie lange sie in Österreich arbeiten. Damit folgt der EuGH schlicht dem Gleichbehandlungsgebot innerhalb der EU. Frau Sachslehner ihrerseits aber wittert darin ein politisches Urteil, gegen welches sie und ihre VP kämpfen würden. Gerechtigkeit für Österreich, empört sie sich.
Nun ist Urteilsschelte in einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft nicht verboten. Sie ist bisweilen sogar grundnotwendig, damit das Recht sich weiterentwickeln kann.
Was in diesen drei Fällen indes zum Tragen kommt, ist, dass Urteile und Verfahren nicht auf Basis des Rechts kommentiert und kritisiert werden, sondern vielmehr von einem politischen, tagespolitischem Standpunkt aus als politisch verunglimpft werden. Es wird versucht, dem Urteil seine Legitimation zu entziehen. Es wird der untersuchenden und rechtsprechenden Institution abgesprochen, ohne Ansehen der Parteien und allein auf Basis der Gesetze, Regeln und Normen zu entscheiden. Es wird, aus Gründen politischer Opportunität, kurzerhand das Rechtssystem in Frage gestellt.
Das ist brandgefährlich und fatal.
Es ist eine Entwicklung, die lange schon andauert, die von den politischen Rändern her vorangetrieben wurde und wird, die mit den Grund- und Menschenrechten per se ihre Schwierigkeiten haben. Tatsächlich sind Grundgesetze sperrig. Sie sind keine elastischen Normen, die nach Belieben und Tagesverfassung mal so, dann wieder anders interpretiert werden können. Sie formulieren nichts weniger als die Prinzipien, derer sich pluralistische und demokratisch verfasste Gesellschaften aus gutem Grund und aus schmerzhafter Erfahrung heraus verpflichtet fühlen. Weswegen sie auch nicht, sehr zum Bedauern gerade der politisch Randständigen, einfach ausgehebelt werden können.
Wenn aber Vertreter von Parteien, die sich als staatstragend verstehen, die wesentlichen Anteil an der Formulierung dieser Normen hatten, genau diese Normen und die darauf fußende Rechtsprechung als „ungerecht“ und als „politisch“ verunglimpfen und abtun, dann sind Denken und Agieren der bislang im Zaum gehaltenen politischen Extreme in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Nicht mehr die Herrschaft des Rechts steht im Mittelpunkt, als vielmehr das Rechthabenwollen im Moment, ein Schrei nach einer wie auch immer gearteten Gerechtigkeit, die man für sich und seine Klientel in Anspruch nimmt.
Man hätte meinen sollen, dass nach dem 6. Jänner ein Umdenken einsetzt. Man hätte annehmen müssen, dass angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine und – expresis verbis – gegen den Westen, sich gerade konservative Parteien des Werts und der Stellung des Rechts in und für unsere Gesellschaften wieder bewusst werden und genau diesen Respekt vor dem Gesetz und der Rechtsprechung in den Fokus ihrer politischen Arbeit stellen.
Man hätte müssen, sollen, können – der Konjunktiv schmückt sich stets mit einem Hauch Resignation.
Trotzdem, noch ist es nicht zu spät. (fksk, 19.06.22)