Migration

Woche 50 – So lasst uns denn einen Zaun bauen

In der 44. Woche ihres Angriffskrieges überzieht die russische Armee die Ukraine einmal mehr mit einem Hagel aus Raketen, Drohnen und Bomben auf zivile Infrastruktur. Konsequenterweise zeigt sich Moskau von der Möglichkeit, dass die USA die Ukraine mit dem Patriot-System zur Abwehr ausstatten wollen, irritiert. Aus Sicht Moskaus wäre das eine Eskalation. Gleichzeitig überschlagen sich die Spekulationen zu den nächsten Phasen des Krieges: Russland werde aus dem Norden Kyiv angreifen, warnen die einen, während die anderen auf das anscheinend schier unerschöpfliche Arsenal alter sowjetischer Artilleriemuniton verweisen und damit auf wichtige Reserven der russischen Armee. Unterdessen gelangen mehr und mehr Berichte über russische Folterkammern und -praktiken an die Öffentlichkeit und werden doch kaum noch wahrgenommen.

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In Österreich beklagt derweil der Vorsitzende eines regionalen Energieversorgers, es seien die USA, die ein „Zusammenwachsen Europas mit Russland“ verhinderten. Auch eine Perspektive. An solchen ist Österreich reich. Meist reichen sie bis zu einem Zaun.

Wahlweise darf es auch eine Mauer sein.

Beides am besten rund um Europa errichtet. Um die Migration einzuschränken, sie zum Stehen, zum Stillstand zu bekommen. Im Zaunbau will Kanzler Nehammer Bulgarien gerne unterstützen, am Zaunbau soll sich die europäische Einigkeit erweisen. Und das lästige Thema der Migration soll, wenigstens bis zu den Wahlen in Niederösterreich, als gelöst erscheinen, schlicht keines mehr sein, oder wenn, dann ausschließlich als Nachweis der Problemlösungskompetenz der Kanzlerpartei.

Wobei sie sich auf diesem Niveau heftiger Konkurrenz ausgesetzt sieht.

Mindestens gleichwertig agiert die altehrwürdige Sozialdemokratie, die in Person ihrer Vorsitzenden das Schengenveto des Kanzlers für richtig und gut befindet – zu allem anderen ist von ihr nichts zu hören. Von den Freiheitlichen gar nicht erst zu reden. Die feiern, dass ihre Themen, ihre Ideen, ihr Weltbild offiziell Regierungspolitik ist und ihnen, und niemandem sonst, als Erfolg gut geschrieben wird.

Nun steht außer Frage, dass die Migration eine gewaltige Herausforderung ist. Es steht auch außer Frage, dass die bisherigen Instrumentarien und Politiken nichts zur Lösung oder wenigstens zur Abfederung beitragen haben. Im Grunde verhält es sich so, dass das drängende Thema seit Jahren, seit mehr als einem Jahrzehnt auf der Tagesordnung steht, und niemand sich in der Tiefe damit befassen mag. Weil damit alte und liebgewonnene Überzeugungen auf allen Seiten radikal in Frage gestellt werden. Tatsache ist, dass Europa seiner demografischen Entwicklung wegen auf Migration angewiesen ist. Ebenso wie es Tatsache ist, dass Europa sich schlicht nicht abschotten kann.

Faktum ist gleichzeitig, dass Europa bislang kein Instrumentarium geschaffen hat, Migration so zu gestalten, dass die Vorteile für alle Betroffenen überwiegen. So, wie es auch offensichtlich ist, dass es migrantische Millieus gibt, die gar kein Interesse daran haben, sich in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren.

Das weiß man. Man wusste es vor 2015, man weiß es seit 2015, man hat nichts getan. Außer, einander gegenseitig zu blockieren.

Ein Verhaltensmuster, welches auch auf andere wichtige Themen zutrifft, vom Klimawandel bis hin zur Sicherheitspolitik. Es gilt, nicht nur aber auch und gerade in der Republik Österreich: Augen zu. In der Hoffnung, dass, wenn man die Augen wieder öffnet, sich alles irgendwie in Wohlgefallen aufgelöst hat. Das freilich ist nicht der Fall, weswegen auf einfache Lösungen zurückgegriffen wird. Auf einfachste Argumentationen.

Das Versprechen, ein Grenzzaun löse ein Problem, ist schlichtweg intellektuell unredlich. Weder wirkt ein Zaun den Ursachen entgegen, noch beendet er die Migration. Er ist, auch in seiner Variante als Mauer, nichts weniger als der weithin sichtbare Nachweis dafür, dass man sich nicht in der Lage und Position sieht, ein Problem in allen seinen Dimensionen zu begreifen und zu bearbeiten.

Womit man endgültig in der österreichischen Realität angekommen ist. In einem Alltag, der gekennzeichnet und geprägt wird vom eklatanten Unvermögen, sich auch nur annähernd diskursiv mit Themen der Zeit auseinanderzusetzen. Der momentane Aggregatzustand der österreichischen Politik ist die Sprachlosigkeit.

Hierzulande gilt nicht das Gewicht des guten und des besseren Arguments oder die Kraft, die der Entwicklung einer Idee in öffentlicher Auseinandersetzung innewohnt, es gilt das Votum der wöchentlichen Umfrage, nach der sich die einen oder die anderen im Recht sehen, eine Debatte für beendet zu erklären, noch bevor sie auch nur in Ansätzen geführt worden ist. Es wird der demokratische Prozess der öffentlichen Willensbildung als unzumutbare Zumutung empfunden. Als Affront.

Und das nicht erst seit heute. Die Zeiten, in denen ein sozialdemokratischer Bundeskanzler sich von den Argumenten seines christdemokratischen Vizekanzlers überzeugen ließ, und daraufhin seine eigene Partei von Nutz und Frommen eines Beitritts zur Europäischen Union überzeugte, sind lange vorbei. Vorbei auch die Zeiten, als österreichische Regierungsmitglieder bei Premieren etwa im Burgtheater gesehen wurden. Vorbei die Zeiten, in denen die Politik auf Überzeugungskraft setzte und den produktiven Streit nicht scheute. Nicht, dass früher alles besser war, das aber war gegeben.

Dann kam der „nationale Schulterschluss“ gegen Sanktionen, dann kam die Liebe in die Kraft der Umfragen, dann kam die demonstrative Unlust, in Interviews Rede und Antwort zu stehen, dann der „gesunde Hausverstand“ als Maß aller Dinge.

Das gab und gibt es auch andernorts. Frau Merkel stilisierte die „schwäbische Hausfrau“ zum Maß aller Haushaltspolitik und ließ Griechenland in finanziellen Nöten angesichts einer Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen schnöde – und folgenreich – im Stich. Vom Brexit und seinen Folgen bis hin zu Frau Truss gar nicht erst zu reden. Aber: Da wie dort, in Deutschland wie in Großbritannien, wird auch noch noch und immer noch und immer wieder in der Sache diskutiert und gestritten. Bisweilen lustvoll auch auf sprachlich und intellektuell hohem Niveau.

In Österreich gilt das als elitär. Als abgehoben. Um nicht zu sagen, als unösterreichisch. Es habe, so wird erzählt, Wiens Langzeitbürgermeister Häupl seine Intellektualität erfolgreich stets hinter einer Art von polterndem Fiakerschmäh versteckt – der Volkstümlichkeit und seiner Wählbarkeit wegen. Das nennt man dann das Volk für dumm verkaufen und der Demokratie einen Bärendienst zu erweisen.

Nur, den anstehenden Herausforderungen und akuten Krisen kommt man auf diese Art und Weise nicht bei. Ein Zaun löst keine Probleme, er begrenzt allenfalls das Denken. (fksk, 18.12.2022)

Woche 23 – Demokratien unter Druck

Woche fünfzehn. Die Schlacht um Sjewjerodonezk im Donbass dauert an, inzwischen bezifferen die Ukrainer ihre täglichen Verluste auf bis zu 200 Mann. Über die Russen sagt ein Sprecher freilich: „Sie sterben wie die Fliegen“. Unterdessen versichert Präsident Macron der Ukraine die Solidarität Frankreichs, wobei er auch auf Waffenlieferungen verweist. Aus Deutschland verlautet, Kanzler Scholz wolle noch im Juni nach Kiew reisen. Es stehen auch schon fünf Marder Schützenpanzer zur Auslieferung bereit, es ist anzunehmen, dass Scholz lange vor den fünf Mardern in der Ukraine ankommt. In Moskau sieht Putin Parallelen zur Zeit Peters des Großen, der, wie kaum ein anderer, in Kriegszügen Russlands Grenzen verschoben hat. Ein Vorbild.

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Auf dem „Time to Decide Europe Summit“ ging der russische Journalist Maxim Trudoljubow auf den „permanenten Ausnahmezustand“ in Russland ein, ein Zustand, ohne den das System Putin gar nicht überlebensfähig wäre. Es enthebt der Zustand der Ausnahme das Regime und auch Putin jeglicher Verantwortung. Die Regierung ist nichts und niemandem Rechenschaft schuldig, sie agiert vollkommen losgelöst von allen Kontrollen, Debatten und Beschränkungen nach Gutdünken. Und der Krieg, so Trudoljubow, ist dafür die notwendige Voraussetzung. In einem Beitrag auf der Plattform „Dekoder“ postuliert Trudoljubow: „Krieg ist für Putin die natürliche Form der politischen Existenz. Solange er an der Macht ist, wird der Krieg nicht aufhören. Der Krieg und sein Regime sind untrennbar miteinander verbunden.“

Während der Konferenz am 20. Mai ist es nicht nur der Chefredakteur des – inzwischen im Exil erscheindenden – Mediums „Meduza“, der den Blick auf diesen speziellen Charakterzug des Putinschen Systems lenkt. Auch Ivan Krastev beschreibt an diesem Tag Putins Krieg als einen Krieg zum Erhalt der russischen Identität, die er als kompletten Gegenentwurf zum westlichen Modell versteht. Nicht nur als Gegenentwurf, vielmehr als Kampfansage, die Staat und Menschen aneinander schweißt. Indem Putin, so Krastev weiter, einen langen Krieg von niedriger Intensität initiiert, erhält er die russische Identität.

Sowohl Krastev als auch Trudoljubow blicken der Zukunft Russlands nicht gerade optimistisch entgegen.

Nur beschränkt sich dieser „permanente Ausnahmezustand“, der „lange Krieg niedriger Intensität“ nicht allein auf Russland, beides wirkt sich auf die Nachbarschaft aus, auf die gesamte europäische Nachbarschaft, die immer noch nicht so recht weiß, wie mit dieser Situation umzugehen ist, die bis vor kurzem noch der Meinung war, dass Handel auch Wandel bedeute und die immer noch hofft, der Krieg in der Ukraine möge bald zu einem Ende kommen, auf dass man wieder anknüpfen könne an den Beziehungen, die durch den Krieg nun unterbrochen sind.

Gemeinhin ist zu lesen und zu hören, Putin habe mit seinem Angriff auf die Ukraine nur erreicht, dass die Europäische Union genauso wie die Nato so einig und geschlossen aufträten wie seit langem nicht mehr. Mit Blick auf Ungarn und die Türkei sind hier Zweifel angebracht. Und noch mehr Zweifel sind angebracht, zieht sich der Krieg in der Ukraine in die Länge. Über das Jahr hinweg bis tief in das nächste.

Selbst wenn die unmittelbaren Kampfhandlungen in der Ukraine stoppen sollten, kann von Frieden noch keine Rede sein. So wenig wie davon, dass das Regime Putin damit Geschichte würde. Worauf sich Europa einstellen muss, ist dieser „permanente Ausnahmezustand“, mithin eine Periode der Unsicherheit, Unberechenbarkeit, gebrochener Abkommen und Verträge, unablässiger Provokationen und Scharmützel aller Art, von Unruhen auf dem Balkan über digitale Attacken bis hin zu einem intensivierten Propagandakrieg. Damit unterscheidet sich dieser Konflikt mit Russland grundlegend vom Kalten Krieg zwischen Ost und West, der in seiner Unbeweglichkeit und starren Frontstellungen höchst berechenbar war.

Dieser Konflikt addiert sich zu den Herausforderungen des Klimawandels, der weltweiten Migrationsbewegungen, der Digitalisierung und den Auswirkungen aller drei auf die soziale und politische Struktur der westlichen Demokratien. Und hier wird es spannend.

Sind der Krieg und Putins Macht untrennbar miteinander verbunden, so verhält es sich in den Demokratien genau umgekehrt. Eines der zentralen Versprechen demokratischer Gesellschaften ist die Minimierung kriegerischer Auseinandersetzungen. Demokratien kooperieren untereinander und miteinander, sie pflegen den Kontakt und den Austausch und auch den Kompromiss. Kurz, sie vermeiden es, ihre Bürger in einen Krieg zu entsenden und zu verwickeln.

Wie nun die demokratischen Systeme Europas auf einen Dauerkonflikt, der auf den unterschiedlichsten Ebenen ausgetragen wird, reagieren, ist vollkommen unklar. Vor allem wie dieser andauernde Konflikt sich – im Verein mit Klimawandel, Migration und Digitalisierung – auf Strukturen, Institutionen und die politische Kultur auswirken wird.

Eines erscheint jetzt schon sicher zu sein, die bisherige Art der europäischen Demokratien mit Krisen umzugehen, indem man die Symptome finanziell zu behandeln trachtet, ohne je das zugrundeliegende Problem zu lösen, diese Art der Politik stößt an ihr Ende. Sie war nie richtig, als sie stets auf Zeitgewinn ausgerichtet war und rasenden Stillstand zur Folge hatte.

Das rächt sich nun.

Mit Beschwörungen der guten alten Zeit ist es keinesfalls getan. Es werden sich die Demokratien Europas darum kümmern müssen, auf große Herausforderungen große Antworten zu geben. Ohne Scheu davor, mit liebgewonnen Gewissheiten zu brechen. Bereit, die demokratischen Prozesse darauf auszulegen, schneller als bisher zu Resultaten zu gelangen, sie dabei so transparent wie nur möglich anzulegen, sie so zu stärken, dass ein „permanenter Ausnahmezustand“ sie nicht zu erschüttern vermag. Und schon gar nicht in Frage stellen kann. (fksk, 12.06.22)