Ausnahmezustand

Woche 23 – Demokratien unter Druck

Woche fünfzehn. Die Schlacht um Sjewjerodonezk im Donbass dauert an, inzwischen bezifferen die Ukrainer ihre täglichen Verluste auf bis zu 200 Mann. Über die Russen sagt ein Sprecher freilich: „Sie sterben wie die Fliegen“. Unterdessen versichert Präsident Macron der Ukraine die Solidarität Frankreichs, wobei er auch auf Waffenlieferungen verweist. Aus Deutschland verlautet, Kanzler Scholz wolle noch im Juni nach Kiew reisen. Es stehen auch schon fünf Marder Schützenpanzer zur Auslieferung bereit, es ist anzunehmen, dass Scholz lange vor den fünf Mardern in der Ukraine ankommt. In Moskau sieht Putin Parallelen zur Zeit Peters des Großen, der, wie kaum ein anderer, in Kriegszügen Russlands Grenzen verschoben hat. Ein Vorbild.

© Marek Piwnicki / unsplash.com

Auf dem „Time to Decide Europe Summit“ ging der russische Journalist Maxim Trudoljubow auf den „permanenten Ausnahmezustand“ in Russland ein, ein Zustand, ohne den das System Putin gar nicht überlebensfähig wäre. Es enthebt der Zustand der Ausnahme das Regime und auch Putin jeglicher Verantwortung. Die Regierung ist nichts und niemandem Rechenschaft schuldig, sie agiert vollkommen losgelöst von allen Kontrollen, Debatten und Beschränkungen nach Gutdünken. Und der Krieg, so Trudoljubow, ist dafür die notwendige Voraussetzung. In einem Beitrag auf der Plattform „Dekoder“ postuliert Trudoljubow: „Krieg ist für Putin die natürliche Form der politischen Existenz. Solange er an der Macht ist, wird der Krieg nicht aufhören. Der Krieg und sein Regime sind untrennbar miteinander verbunden.“

Während der Konferenz am 20. Mai ist es nicht nur der Chefredakteur des – inzwischen im Exil erscheindenden – Mediums „Meduza“, der den Blick auf diesen speziellen Charakterzug des Putinschen Systems lenkt. Auch Ivan Krastev beschreibt an diesem Tag Putins Krieg als einen Krieg zum Erhalt der russischen Identität, die er als kompletten Gegenentwurf zum westlichen Modell versteht. Nicht nur als Gegenentwurf, vielmehr als Kampfansage, die Staat und Menschen aneinander schweißt. Indem Putin, so Krastev weiter, einen langen Krieg von niedriger Intensität initiiert, erhält er die russische Identität.

Sowohl Krastev als auch Trudoljubow blicken der Zukunft Russlands nicht gerade optimistisch entgegen.

Nur beschränkt sich dieser „permanente Ausnahmezustand“, der „lange Krieg niedriger Intensität“ nicht allein auf Russland, beides wirkt sich auf die Nachbarschaft aus, auf die gesamte europäische Nachbarschaft, die immer noch nicht so recht weiß, wie mit dieser Situation umzugehen ist, die bis vor kurzem noch der Meinung war, dass Handel auch Wandel bedeute und die immer noch hofft, der Krieg in der Ukraine möge bald zu einem Ende kommen, auf dass man wieder anknüpfen könne an den Beziehungen, die durch den Krieg nun unterbrochen sind.

Gemeinhin ist zu lesen und zu hören, Putin habe mit seinem Angriff auf die Ukraine nur erreicht, dass die Europäische Union genauso wie die Nato so einig und geschlossen aufträten wie seit langem nicht mehr. Mit Blick auf Ungarn und die Türkei sind hier Zweifel angebracht. Und noch mehr Zweifel sind angebracht, zieht sich der Krieg in der Ukraine in die Länge. Über das Jahr hinweg bis tief in das nächste.

Selbst wenn die unmittelbaren Kampfhandlungen in der Ukraine stoppen sollten, kann von Frieden noch keine Rede sein. So wenig wie davon, dass das Regime Putin damit Geschichte würde. Worauf sich Europa einstellen muss, ist dieser „permanente Ausnahmezustand“, mithin eine Periode der Unsicherheit, Unberechenbarkeit, gebrochener Abkommen und Verträge, unablässiger Provokationen und Scharmützel aller Art, von Unruhen auf dem Balkan über digitale Attacken bis hin zu einem intensivierten Propagandakrieg. Damit unterscheidet sich dieser Konflikt mit Russland grundlegend vom Kalten Krieg zwischen Ost und West, der in seiner Unbeweglichkeit und starren Frontstellungen höchst berechenbar war.

Dieser Konflikt addiert sich zu den Herausforderungen des Klimawandels, der weltweiten Migrationsbewegungen, der Digitalisierung und den Auswirkungen aller drei auf die soziale und politische Struktur der westlichen Demokratien. Und hier wird es spannend.

Sind der Krieg und Putins Macht untrennbar miteinander verbunden, so verhält es sich in den Demokratien genau umgekehrt. Eines der zentralen Versprechen demokratischer Gesellschaften ist die Minimierung kriegerischer Auseinandersetzungen. Demokratien kooperieren untereinander und miteinander, sie pflegen den Kontakt und den Austausch und auch den Kompromiss. Kurz, sie vermeiden es, ihre Bürger in einen Krieg zu entsenden und zu verwickeln.

Wie nun die demokratischen Systeme Europas auf einen Dauerkonflikt, der auf den unterschiedlichsten Ebenen ausgetragen wird, reagieren, ist vollkommen unklar. Vor allem wie dieser andauernde Konflikt sich – im Verein mit Klimawandel, Migration und Digitalisierung – auf Strukturen, Institutionen und die politische Kultur auswirken wird.

Eines erscheint jetzt schon sicher zu sein, die bisherige Art der europäischen Demokratien mit Krisen umzugehen, indem man die Symptome finanziell zu behandeln trachtet, ohne je das zugrundeliegende Problem zu lösen, diese Art der Politik stößt an ihr Ende. Sie war nie richtig, als sie stets auf Zeitgewinn ausgerichtet war und rasenden Stillstand zur Folge hatte.

Das rächt sich nun.

Mit Beschwörungen der guten alten Zeit ist es keinesfalls getan. Es werden sich die Demokratien Europas darum kümmern müssen, auf große Herausforderungen große Antworten zu geben. Ohne Scheu davor, mit liebgewonnen Gewissheiten zu brechen. Bereit, die demokratischen Prozesse darauf auszulegen, schneller als bisher zu Resultaten zu gelangen, sie dabei so transparent wie nur möglich anzulegen, sie so zu stärken, dass ein „permanenter Ausnahmezustand“ sie nicht zu erschüttern vermag. Und schon gar nicht in Frage stellen kann. (fksk, 12.06.22)