Woche 23 – Demokratien unter Druck

Woche fünfzehn. Die Schlacht um Sjewjerodonezk im Donbass dauert an, inzwischen bezifferen die Ukrainer ihre täglichen Verluste auf bis zu 200 Mann. Über die Russen sagt ein Sprecher freilich: „Sie sterben wie die Fliegen“. Unterdessen versichert Präsident Macron der Ukraine die Solidarität Frankreichs, wobei er auch auf Waffenlieferungen verweist. Aus Deutschland verlautet, Kanzler Scholz wolle noch im Juni nach Kiew reisen. Es stehen auch schon fünf Marder Schützenpanzer zur Auslieferung bereit, es ist anzunehmen, dass Scholz lange vor den fünf Mardern in der Ukraine ankommt. In Moskau sieht Putin Parallelen zur Zeit Peters des Großen, der, wie kaum ein anderer, in Kriegszügen Russlands Grenzen verschoben hat. Ein Vorbild.

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Auf dem „Time to Decide Europe Summit“ ging der russische Journalist Maxim Trudoljubow auf den „permanenten Ausnahmezustand“ in Russland ein, ein Zustand, ohne den das System Putin gar nicht überlebensfähig wäre. Es enthebt der Zustand der Ausnahme das Regime und auch Putin jeglicher Verantwortung. Die Regierung ist nichts und niemandem Rechenschaft schuldig, sie agiert vollkommen losgelöst von allen Kontrollen, Debatten und Beschränkungen nach Gutdünken. Und der Krieg, so Trudoljubow, ist dafür die notwendige Voraussetzung. In einem Beitrag auf der Plattform „Dekoder“ postuliert Trudoljubow: „Krieg ist für Putin die natürliche Form der politischen Existenz. Solange er an der Macht ist, wird der Krieg nicht aufhören. Der Krieg und sein Regime sind untrennbar miteinander verbunden.“

Während der Konferenz am 20. Mai ist es nicht nur der Chefredakteur des – inzwischen im Exil erscheindenden – Mediums „Meduza“, der den Blick auf diesen speziellen Charakterzug des Putinschen Systems lenkt. Auch Ivan Krastev beschreibt an diesem Tag Putins Krieg als einen Krieg zum Erhalt der russischen Identität, die er als kompletten Gegenentwurf zum westlichen Modell versteht. Nicht nur als Gegenentwurf, vielmehr als Kampfansage, die Staat und Menschen aneinander schweißt. Indem Putin, so Krastev weiter, einen langen Krieg von niedriger Intensität initiiert, erhält er die russische Identität.

Sowohl Krastev als auch Trudoljubow blicken der Zukunft Russlands nicht gerade optimistisch entgegen.

Nur beschränkt sich dieser „permanente Ausnahmezustand“, der „lange Krieg niedriger Intensität“ nicht allein auf Russland, beides wirkt sich auf die Nachbarschaft aus, auf die gesamte europäische Nachbarschaft, die immer noch nicht so recht weiß, wie mit dieser Situation umzugehen ist, die bis vor kurzem noch der Meinung war, dass Handel auch Wandel bedeute und die immer noch hofft, der Krieg in der Ukraine möge bald zu einem Ende kommen, auf dass man wieder anknüpfen könne an den Beziehungen, die durch den Krieg nun unterbrochen sind.

Gemeinhin ist zu lesen und zu hören, Putin habe mit seinem Angriff auf die Ukraine nur erreicht, dass die Europäische Union genauso wie die Nato so einig und geschlossen aufträten wie seit langem nicht mehr. Mit Blick auf Ungarn und die Türkei sind hier Zweifel angebracht. Und noch mehr Zweifel sind angebracht, zieht sich der Krieg in der Ukraine in die Länge. Über das Jahr hinweg bis tief in das nächste.

Selbst wenn die unmittelbaren Kampfhandlungen in der Ukraine stoppen sollten, kann von Frieden noch keine Rede sein. So wenig wie davon, dass das Regime Putin damit Geschichte würde. Worauf sich Europa einstellen muss, ist dieser „permanente Ausnahmezustand“, mithin eine Periode der Unsicherheit, Unberechenbarkeit, gebrochener Abkommen und Verträge, unablässiger Provokationen und Scharmützel aller Art, von Unruhen auf dem Balkan über digitale Attacken bis hin zu einem intensivierten Propagandakrieg. Damit unterscheidet sich dieser Konflikt mit Russland grundlegend vom Kalten Krieg zwischen Ost und West, der in seiner Unbeweglichkeit und starren Frontstellungen höchst berechenbar war.

Dieser Konflikt addiert sich zu den Herausforderungen des Klimawandels, der weltweiten Migrationsbewegungen, der Digitalisierung und den Auswirkungen aller drei auf die soziale und politische Struktur der westlichen Demokratien. Und hier wird es spannend.

Sind der Krieg und Putins Macht untrennbar miteinander verbunden, so verhält es sich in den Demokratien genau umgekehrt. Eines der zentralen Versprechen demokratischer Gesellschaften ist die Minimierung kriegerischer Auseinandersetzungen. Demokratien kooperieren untereinander und miteinander, sie pflegen den Kontakt und den Austausch und auch den Kompromiss. Kurz, sie vermeiden es, ihre Bürger in einen Krieg zu entsenden und zu verwickeln.

Wie nun die demokratischen Systeme Europas auf einen Dauerkonflikt, der auf den unterschiedlichsten Ebenen ausgetragen wird, reagieren, ist vollkommen unklar. Vor allem wie dieser andauernde Konflikt sich – im Verein mit Klimawandel, Migration und Digitalisierung – auf Strukturen, Institutionen und die politische Kultur auswirken wird.

Eines erscheint jetzt schon sicher zu sein, die bisherige Art der europäischen Demokratien mit Krisen umzugehen, indem man die Symptome finanziell zu behandeln trachtet, ohne je das zugrundeliegende Problem zu lösen, diese Art der Politik stößt an ihr Ende. Sie war nie richtig, als sie stets auf Zeitgewinn ausgerichtet war und rasenden Stillstand zur Folge hatte.

Das rächt sich nun.

Mit Beschwörungen der guten alten Zeit ist es keinesfalls getan. Es werden sich die Demokratien Europas darum kümmern müssen, auf große Herausforderungen große Antworten zu geben. Ohne Scheu davor, mit liebgewonnen Gewissheiten zu brechen. Bereit, die demokratischen Prozesse darauf auszulegen, schneller als bisher zu Resultaten zu gelangen, sie dabei so transparent wie nur möglich anzulegen, sie so zu stärken, dass ein „permanenter Ausnahmezustand“ sie nicht zu erschüttern vermag. Und schon gar nicht in Frage stellen kann. (fksk, 12.06.22)

Woche 22 – Vom Ende einer Epoche

Woche vierzehn. Russlands Streitkräfte konzentrieren ihre Truppen im Donbass, verstärken ihre Angriffe und suchen die ukrainischen Verteidiger in einer Zangenbewegung zu umfassen. Vor dem Hintergrund der massiven Kämpfe verlautet aus Kiew, die Ukraine verzeichne pro Tag Verluste von bis zu 100 Mann. Noch ein paar Zahlen: In den ersten 100 Tagen des Kriegs sind 15.000 Ukrainer ums Leben gekommen, die Zahl der Verletzten ist um ein Vielfaches höher, etwa 4,5 Millionen Menschen sind aus der Ukraine in andere Länder geflüchtet, rund 1,5 Millionen Schutzsuchende sind im Land geblieben. Die Schäden an der ukrainischen Infrastruktur werden bereits mit 100 Milliarden Euro beziffert. Der britische Geheimdienst schätzt, Russland habe unterdessen 20 Prozent seiner militärischen Kapazität verloren.

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Während in der Ukraine also der Krieg tobt und in Europa viele Menschen ebenso wie ihre Regierungen nach wie vor damit ringen, diese neue Realität mit ihrem Leben, Planen und Agieren in Einklang zu bringen und eine mehr als 70 Jahre andauernde Sicherheit zu verlassen, feiert Großbritannien den 70. Jahrestag der Krönung seiner Königin mit Paraden, Pomp und Picknicks. Pünktlich zum Tag 100.

Folgt man den Berichten aus London, mischt sich indes in die Feiern zum „Platinum Jubilee“ ein Hauch von Abschied. Nicht nur, weil Elisabeth II. sowohl den Dankgottesdienst wie auch das Derby in Epsom ausfallen ließ, vielmehr weil allen Beteiligten an Tagen wie diesen schmerzlich bewusst wird, dass die Regentschaft der Königin sich ihrem Ende zuneigt. Eine Epoche klingt aus.

Eine, in der Geschichte Europas, fast einzigartige Periode weitgehenden Friedens, bisher unerreichter allgemeiner Sicherheit, eine Zeit der Chancen auf sozialen Aufstieg, auf wirtschaftlichen Erfolg, auf ein Leben, das sich besser ausnimmt als jenes der Vorgängergeneration. Ein goldenes Zeitalter im Rückblick.

Einerlei, was in diesen sieben Jahrzehnten geschehen ist, wer die Bühne betreten, beherrscht und auch wieder verlassen hat, von Winston Churchill über John F. Kennedy, Willy Brandt, Margaret Thatcher bis hin zu Tony Blair, Barack Obama, Nelson Mandela, Michail Gorbatschow und Vladimir Putin, von Elvis Presley, den Beatles, Rolling Stones, Abba, den Sex Pistols, The Clash, Elton John, den Spice Girls und Adele – Elisabeth II. war stets anwesend. Die 60er und 70er Jahre, der Optimismus des Aufbruchs, der Durchbruch der Popkultur, der Punk der 80er Jahre und Cool Britannia in den späten 90ern und frühen 2000ern, sie, die Königin, war in gewisser Weise ein integraler Teil davon. Sie war, sie ist Pop. Ikonisch verewigt von Andy Warhol.

Als sie 1952 ihrem Vater nachfolgt, ist Europa noch vom Zweiten Weltkrieg gezeichnet und bereits im Bann des Kalten Krieges gefangen. Auch ein Epochenwechsel, der damals stattfindet. Nicht nur, dass das Vereinigte Königreich sich aus Indien und Pakistan zurückgezogen hat, es geben sukzessive alle europäischen Kolonialmächte ihre Kolonien auf. Parallel zu diesem Bedeutungsverlust europäischer Macht und Weltgeltung erfindet sich wenigstens das westliche Europa neu, indem es auf Integration setzt, auf das Zusammenwachsen seiner Wirtschaft, auf zusehends offene Grenzen, auf gemeinschaftliche Institutionen, auf das Gemeinsame anstelle des Trennenden. Tatsächlich erwächst, dank des freien Verkehrs von Waren, Ideen und Projekten, durch den Austausch von Schülern, Studenten, durch das Erleben eines Kontinents mittels Interrail so etwas wie ein neues europäisches Bewusstsein.

Es sind, allen Krisen, Kämpfen und Konflikten zum Trotz, glückliche Jahre für einen Kontinent, der zuvor binnen kürzester Zeit zum Schauplatz zweier Weltkriege wurde, mehr noch, zum Ort der größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es sind die Jahre Elisabeths, in denen dieses Europa seine Dämonen weitgehend bannt, sich neu findet als Soft Power, und darin hofft, zum Vorbild für die Welt zu werden. Ein leuchtendes Beispiel dafür, was Kooperation, Dialog und die Fähigkeit zum Kompromiss vermögen. Weswegen die Union immer größer wird, sich nach und nach in Richtung Osten ausbreitet.

Eine neue Weltmacht, friedlich, freundlich und sympathisch.

Die Queen ist dabei. Friedlich, freundlich und sympathisch.

Sie ist auch da, wenn es Rückschläge gibt, stoisch, pflichtbewusst und zuverlässig. Das beruhigt. Weit über ihr Vereinigtes Königreich hinaus.

Man gewöhnt sich so sehr an sie, wie man sich an dieses selbstverständliche Leben in Frieden, Freiheit und Sicherheit in Europa gewöhnt hat. Beides wird nicht in Frage gestellt. Beides ist schlichtweg gegeben.

Auch wenn es da oder dort wetterleuchtet. Aber wann hätte es nicht wettergeleuchtet in diesen langen Jahren? Und ist es denn tatsächlich notwendig, sich darüber Gedanken zu machen, was einmal sein wird, wenn alles sich ändert? In Großbritannien herrscht dazu nur in einer Sache Klarheit, darüber, wie das Räderwerk an jenem Tag ineinandergreifen und einen reibungslosen Ablauf sicherstellen wird, an dem Elisabeth II. stirbt. Was dann kommen mag, was das für die Monarchie, für den Zusammenhalt des zusehend uneinigen Königreichs bedeutet, darüber mag, darüber will man sich keine Gedanken machen. Es wird sich weisen. Zudem ist die Monarchin gesund und zäh und pflichtbewusst. Lang lebe die Königin!

Es soll einmal Kaiser Franz Joseph auf die Frage, wie es ihm gehe, geantwortet haben, er sei längst schon verstorben, nur traue sich niemand, ihm diese Tatsache mitzuteilen. Der österreichische Kaiser regierte 68 Jahre lang, Kriege lagen weder ihm noch seiner Armee, weswegen er sie scheute und von den Menschen in seinem Reich als Friedenskaiser wahrgenommen wurde. Sein Tod war der Schlusspunkt einer Epoche, die sich lange schon ihrem Ende zugeneigt hatte, die zwei Jahre nach seinem Begräbnis mit dem Zusammenbruch der Monarchie ein für allemal Geschichte wurde. Auch damals hatte man das Ende kommen sehen. Man hätte diesem Ende mit Millionen Toten entgegenwirken können. Aber schon damals galt, dass der bequeme Status quo besser nicht in Frage gestellt wird.

Ganz so verhält es sich heute nicht.

Dass Europa, dass das vereinte Europa, vor grundlegenden Entscheidungen steht, das ist spätestens seit dem Ausscheiden Großbritanniens offenbar. Dass diese Europäische Union sich nicht nur als merkantile Großmacht sehen darf, sondern als potenzielle politische Macht von Weltgeltung begreifen sollte, das liegt spätestens seit dem Versuch der Bush-Administration 2002 und 2003, die Union in feige Wiesel und willige Koalitionäre zu spalten, offen zutage. Und noch mehr seit 2014, als Putins Russland der souveränen Ukraine ebenso so ungeniert wie unausgesprochen den Krieg erklärt, die Krim annektiert und im Osten der Ukraine einen zähen, dreckigen Kleinkrieg beginnt.

Dass diese wunderbar lange Phase der „Nachkriegszeit“ sich ihrem Ende nähert, dass es andere, neue Konzepte und Antworten braucht, das ist in Europas Hauptstädten bekannt, wenngleich als Erkenntnis nicht eben wohlgelitten. Schließlich gehen damit Veränderungen, Unsicherheiten und der Abschied von liebgewonnen Gewissheiten einher.

Der 24. Februar, der Tag, an dem Russland seinen schmutzigen Krieg gegen die Ukraine ausweitet und das Land mit all seiner militärischen Macht überfällt, aber markiert das Ende aller Illusionen. Mag sich die eine oder andere Regierung, die eine oder andere Gesellschaft auch noch weigern, das Offensichtliche zu akzeptieren, ein Zurück zu dem, was war, gibt es nicht. Eine Epoche ist unwiderruflich zu Ende gegangen. Man kann sie das zweite Elisabethanische Zeitalter nennen. (fksk, 05.06.22)

Woche 21 – Klimapolitik ist Industriepolitik ist Geopolitik

Woche dreizehn. Die russischen Kräfte konzentrieren ihre Angriffe im Donbass und erobern Sjewjerodonezk, Lyman sowie andere Orte. Die Kämpfe in dieser Region nehmen zusehends den Charakter der Materialschlachten des Ersten Weltkriegs an, massive Artilleriegefechte, langsames Vorrücken gegen befestigte und ausgebaute Positionen. Im Gegenzug setzt die Ukraine rund um Cherson zum Angriff an. Derweilen klingelt das Telefon im Kreml immer wieder. Mal ist es Herr Nehammer aus Österreich, dann wieder die Herren Scholz und Macron. Und jeder bekommt zu hören, was er hören soll. Herr Scholz vor allem düstere Warnungen vor einem zu großen Engagement Deutschlands.

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Unterdessen eröffnet Putin eine weitere Front: Durch seinen Angriffskrieg ist die globale Weizenversorgung in Gefahr. Die Ukraine kann über ihre verbliebenen Häfen nicht exportieren, Russland hält sich zurück und beobachtet die rasant steigenden Preise. Während also die Welthungerhilfe vor Hungersnöten im sogenannten globalen Süden warnt, fordert Putin, der Westen müsse seine Sanktionen aufgeben, erst dann könne Russland daran danken, den Weltmarkt zu bedienen. Und, auch das verlautet aus Moskau, die Gewinne aus den gestiegenen Erdöl- und Erdgaspreisen, die steckt der Kreml stantepede in die Rüstung und die Finanzierung seines Kriegs.

Als am 20. Mai im Rahmen der Konferenz „Time to Decide Europe Summit“ die Zukunft des Kriegs in der Ukraine am Podium diskutiert wird, bleibt es Olivia Lazard vorbehalten, die Perspektive zu weiten. Die Forscherin fokussiert in ihrer Arbeit auf die geopolitischen Aspekte der Klimakrise und die Konflikte, die mit ihr einhergehen. Ihr Augenmerk gilt auch, und das ist in diesem Zusammenhang wesentlich, der Rolle der Rohstoffe.

Gemeinhin wird festgestellt, in Ermangelung moderner Industrien sei Russland auf den Verkauf seine Rohstoffe angewiesen. Und das Fazit dieser Feststellung lautet, dass Russland sich, wenn es die Märkte im Westen verliere, in eine ungesunde Abhängigkeit von China begeben müsse. Auch daran ist vorderhand nichts falsch. Nur ist die Geschichte von Russland und den Rohstoffen nicht damit erschöpfend erzählt, wenn man sich nur auf Russlands eigene Ressourcen konzentriert.

Russland ist ein Rohstoffhändler. Und als solcher mit den Entwicklungen am Weltmarkt auf das innigste vertraut. Beschließt die Europäische Union den Ausstieg aus fossilen Rohstoffen (unabhängig vom Krieg in der Ukraine), dann bedeutet das einen massiven Verlust für Russland.

Was der Westen indes braucht, um die Energiewende erfolgreich durchzuführen, sind andere Rohstoffe. Die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ hat sie dieser Tage dankenswerterweise zusammengefasst: Lithium, Kobalt, Kupfer, Nickel und Seltene Erden. In Europa sind alle diese Stoffe nur in kleinen Mengen vorhanden, und wo sie vorhanden sind, ist es fraglich, ob ihr Abbau ökonomisch argumentierbar und mit dem Umweltschutz vereinbar ist. Wie ihr Abbau in Afrika und Lateinamerika vonstatten geht, davon ist bisweilen zu hören und zu lesen, zu genau aber will das niemand wissen.

Diesen Umstand macht Russland sich zunutze.

Die „Gruppe Wagner“, die zurzeit berüchtigste Söldnertruppe der Welt, ist ein russisches Unternehmen. Aktiv in der Demokratischen Republik Kongo, in der Zentralafrikanischen Republik, in Mali (siehe auch „Grosny, Aleppo, Butscha und Moura“), in Syrien und selbstredend auch in der Ukraine. Die „Gruppe Wagner“ taucht verlässlich überall dort auf, wo Russland strategische und ökonomische Interessen hat und durchzusetzen sucht.

Olivia Lazard nimmt den Krieg in der Ukraine als Teil einer weit umfassenderen Strategie Russlands wahr. Einer Strategie, die Russland in essentiellen Fragen des 21. Jahrhunderts an zentraler Stelle positionieren soll.

Am 4. März hält Lazard in einem Gespräch mit dem Experten für Geopolitik und Umwelt François Gemenne von der Universität Lüttich/Liege fest, Putin habe wiederholt betont, dass er Russland auf der Gewinnerseite der globalen Erwärmung sehen wolle. Und seine Politik entsprechend ausrichte.

Nun ist alles, was im Zusammenhang mit dem Klimawandel prognostiziert wird, mit Vorsicht zu genießen, allein weil die Implikationen und das Zusammenspiel des Weltklimas schlichtweg zu vielfältig und unbekannt sind, als dass sich mit Verlässlichlichkeit sagen ließe, diese oder jene Region sei ein sicherer Gewinner, eine andere der sichere Verlierer. Aber die Aussicht, dass die Tundra Sibiriens Weizenfeldern weicht, sorgt im Kreml für Zukunftsoptimismus. Nirgendwo sonst kann durch die Erwärmung so viel potentielles Ackerland gewonnen werden wie hier. Womit die Stellung Russlands als der Weizenkammer, als der Ernährer der Welt auf Jahrzehnte hinaus gesichert wäre. „Putin“, stellt Lazard fest, „versucht für Russland landwirtschaftliche Flächen zu horten, wodurch die Abhängigkeit des Weltagrarmarkts von Russland zunimmt.“

Das ist bei weitem noch nicht alles. Am 4. März wie am 20. Mai weist Lazard explizit auf eine weitere Komponente hin, die ihrer Meinung nach in ihrer geopolitischen Dimension noch immer nicht wahrgenommen wird – weil die EU sich immer noch nicht als geopolitisches Projekt begreift.

„Im Jahr 2021“, führt Lazard aus, „schloss die Europäische Union eine Partnerschaft mit der Ukraine zur Lieferung von Rohstoffen, die für die Dekarbonisierung und die Digitalisierung notwendig sind. Russlands Einmarsch in die Ukraine kann also als Versuch gesehen werden, zusätzlich zu den landwirtschaftlichen Ressourcen auch Bodenschätze zu horten, indem es sich Zugang zu Bodenschätzen außerhalb seines Territoriums verschafft.

Dies ist ein Verhaltensmuster, das wir immer häufiger bei Russland beobachten: Der Versuch, sich Einflusssphären in der Welt zu sichern, sei es in der Ukraine, in der Zentralafrikanischen Republik oder in Mali. Da sich der Klimawandel beschleunigt und sich die Energiesysteme verändern, möchte Russland Einfluss darauf nehmen, wie andere Länder und Regionen, einschließlich der Europäischen Union, in der Lage sein werden, effektiv auf erneuerbare Energien umzusteigen und die demokratische, geoökonomische und sozioökonomische Widerstandsfähigkeit angesichts des Klimawandels zu erhalten.“

Merke, Klimapolitik ist Industriepolitik ist Geopolitik. (fksk, 29.05.22)

Woche 20 – Deutschland. Oder: Das, was fehlt

Woche zwölf. Mariupol ist gefallen und in der russischen Staatsduma wollen Abgeordnete den ukrainischen Kriegsgefangenen den Prozess machen. Die „Admiral Makarov“ ist nicht gesunken, noch wurde sie beschädigt. Es ist nach wie vor schwer, Meldungen rasch und unabhängig auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen zu können. Russland setzt zu einer Offensive im Donbass an, die britischen Dienste indes zweifeln an der Offensivkraft der russischen Truppen. Und in Wien findet am 20. Mai der „Time to Decide Europe Summit“ statt – eine eintägige Konferenz, die sich mit den vielen Dilemmata befasst, die dieser Krieg in Europa für Europa mit sich bringt.

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Mithin Fragen, die dringend zu verhandeln sind, als der Krieg in der Ukraine nicht allein die Ukraine und Russland betrifft, vielmehr Europa als Gesamtes und darüber hinaus die ganze Welt. Allein das macht diese Zusammenkunft schon interessant.

Bemerkenswert ist die Dynamik, die sich während dieser Konferenz entfaltet. Als das Thema der Ukraine und ihrer Zukunft besprochen wird, herrschen Empathie und Zuversicht. Die Zukunft Russlands findet in Moll statt. Zwischen diesen beiden Polen werden der Balkan, Zentraleuropa und die Europäische Union diskutiert, analysiert und auch in Frage gestellt. Vor allem Deutschland wird in Frage gestellt, als führende Macht innerhalb der Union, als gestaltendes, initiatives Mitglied der Staatengemeinschaft. Tatsächlich wird an diesem Tag der Rolle Deutschlands in Europa und im Besonderen in seinem Verhältnis zu den ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Staaten mindestens so viel Augenmerk gewidmet, wie der Ukraine und Russland, weil Deutschland fehlt. Da mischt sich ein Hauch von Bitterkeit in die Debatte.

Es ist ein ein erlesenes Podium, welches Boris Marte (Erste Foundation) und Ivan Vejvoda (Institut für die Wissenschaften vom Menschen) da binnen kürzester Zeit organisiert haben und welches nun in einer Halle am Rande des Dritten Wiener Gemeindebezirks zusammenkommt: Ivan Krastev, Heather Grabbe, Florence Gaub, Gerald Knaus, Misha Glenny, Nathalie Tocci, Susanne Scholl, Nikola Dimitrov, Olivia Lazard (von der gesondert noch zu lesen sein wird) und viele mehr. Es ist ein Podium, das aus seiner Expertise und seinen Persönlichkeiten heraus mehrheitlich den ostmitteleuropäischen, südosteuropäischen Blickwinkel repräsentiert.

Die Bitterkeit ist bald schon zu verspüren, als Nikola Dimitrov und Misha Glenny, mit Esprit moderiert von Ivana Dragicevic, die Lehren für den Balkan diskutieren, die da sind, der Europäischen Union jetzt klarzumachen, dass sie diesen geopolitisch ungemein wichtigen Raum nicht länger vernachlässigen darf. Vielmehr mit der Erweiterung Nägel mit Köpfen machen muss.

Der Westbalkan, sagt Misha Glenny, ist der „weiche Bauch Europas“, jene Region, in der Russland ebenso wie China Fuß zu fassen trachten und Fuß fassen. Es ist jene Region, mit der sich die Union schwer tut. Der Konflikte wegen, der langen Kriege wegen, der verworrenen Zustände, und ja, auch das sei so gesagt, der Korruption und mafiösen Verhältnisse ebendort. Dabei, erinnert sich Dimitrov, der als Außenminister und Vizeregierungschef Nordmazedoniens wenigstens eine Zeitlang die Geschicke des Raum mitgestaltete, übt die Union immer noch große Anziehungskraft aus, eine „soft power“, die zur Transformation der westbalkanischen Gesellschaften beiträgt, beitragen kann, beigetragen hat.

Vor allem letzteres, denn die EU tritt auf der Stelle. Aus durchaus eigensüchtigen, aus innenpolitischen Gründen, weil in Frankreich Kommunalwahlen anstehen, weil in Griechenland wie in Bulgarien mittels Nordmazedoniens um Wählerstimmen gebuhlt wird, weil die Union mit ihren „neuen“ Mitgliedern Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien wieder und wieder Rechtsstaats- und Korruptionsprobleme hat, weil man sich das in Brüssel wie in Paris und Berlin, in Den Haag und Luxemburg dann doch gerne ersparen will.

Man kann sagen, das ist Konsens am Podium, dass die Ukraine unbedingt vermeiden muss, mit der „Beitrittsperspektive“ und freundlichen Worten, wonach sie, die Ukraine, zur „europäischen Familie zählt“, abgespeist zu werden.

In Berlin, so Gerald Knaus, gingen die Überlegungen fatal in diese Richtung, um Zeit zu gewinnen. Zeit, wofür auch immer.

Damit betritt Deutschland die Konferenz, als die abwesende Macht, als die abweisende Macht, als die sich ihre Macht nicht bewussten Macht, als verständnislos, desinteressiert am Südosten wie am Osten, gefangen in der eigenen Geschichte, die zugleich als Schutzschild vor den Zumutungen der Gegenwart dienen soll. Die Bundesrepublik als Leerstelle, zögernd, zaudernd, zagend.

Dieses Thema zieht sich durch die folgenden Debatten zu Mitteleuropa und zur Europäischen Union. Beides ist ohne Deutschland nicht denkbar, beiden fehlt Deutschland.

Denn Deutschland muss sich selbst erst finden.

Das ist so banal wie wahr.

Es hat Kanzler Scholz die Zeitenwende proklamiert, mit Leben und Inhalt suchen sie Außenministerin Baerbock und Wirtschaftsminister Habeck zu füllen, vorsichtig sekundiert von Finanzminister Lindner. Der Rest der Republik verwaltet die Zeitenwende nach allen Regeln bürokratischer Kunst zu Tode.

Damit ist Deutschland lange Zeit gut gefahren. Zumal nach der Wiedervereinigung, in der manche, allen voran Frau Thatcher die Wiederkehr des deutschen Problems sah. Wo immer möglich schrieb die deutsche Regierung Schecks aus. Wo es anders nicht mehr ging, wurde und wird die Bundeswehr in Gang gesetzt. Still und leise, verhalten und bitte zivil. Längst schon fordern Polen, die baltischen Republiken, Paris, Rom und Washington Gestaltungswillen in Berlin und auch entsprechendes Engagement, doch Deutschland windet sich.

Wegen der Vergangenheit.

Aber auch der Bequemlichkeit wegen. Und aus Sorge, das, was seit 45 geschaffen und errungen wurde, in Frage zu stellen, ein gerüttelt Maß an Wohlstand und Sympathie in der Welt, Exportmacht und gute Geschäfte. 16 Jahre moderiert Frau Merkel die deutsche und europäische Politik, auf Ausgleich bedacht und darauf, nur kein böses Blut zu wecken, niemanden vor den Kopf zu stoßen, zu allen und jedem Kontakt zu halten, selbst unter schwersten Voraussetzungen. Darin ist sie erfolgreich. Darin wächst sie in der Außenwahrnehmung zu einer dominanten Persönlichkeit der Weltpolitik heran und mit ihr Deutschland.

Dabei umgeht Deutschland damit nur die Frage, wo denn wirklich seine Position im Weltgeschehen ist. Die Antwort darauf ist überfällig. Nicht nur für 80 Millionen Bundesbürger, auch für alle anderen. Herr Scholz schweigt.

Und das Podium in Wien zeigt sich gereizt. Denn wenngleich Deutschland gar nicht Thema ist, so kristallisiert sich rasch heraus, dass alle Initiative, aller Wagemut oder auch alles Kleinbeigeben an Deutschland als der größten Wirtschaftsmacht und, auch wenn Berlin das nicht gerne hören will, politischen Führungsmacht innerhalb der Union hängt.

Dass die Union den Ländern des Westbalkan nach wie vor und nach über 20 Jahren keine reale Beitrittsperspektive bietet – hängt an Deutschland.

Dass unklar ist, ob die Ukrainer in der EU das Privileg der vier Freiheiten behalten werden – hängt an Deutschland.

Dass es an einer konsequent harten, kompromisslosen Sanktionspolitik gegenüber Russland mangelt – hängt an Deutschland.

Dass die Ukraine nach wie vor schwere Waffen entbehrt – hängt an Deutschland.

Dabei wird das alles nicht als Vorwurf formuliert. Es wird als Verlust erlebt. Als Verlust der Möglichkeit, eine starke, gemeinsame europäische Position zu formulieren und zu beziehen. Eine Position, die nicht von amerikanischer Unterstützung abhängt, sondern in sich selbst bestehen kann.

Dazu, als gestaltendes, initiatives Element braucht es in Europa Deutschland. Das Podium in Wien hofft. (fksk, 22.05.22)

Woche 19 – Ein quälend langer Krieg

Woche elf. Die Truppen der Russischen Föderation melden Gebietsgewinne im Osten der Ukraine, gleichzeitig drängen die ukrainischen Verteidiger die Angreifer rund um Charkiv zurück, Russland feuert Raketen auf Odessa, die Ukraine nimmt die von den Russen besetzte Schlangeninsel ins Visier. Der Besucherreigen aus dem Westen in Kiew setzt sich fort, Putin nimmt unterdessen eine Parade ab. Die russischen Verluste steigen. Und Analysten rechnen damit, dass ausgerechnet die bestausgebildeten und ausgerüsteten Truppen der russischen Armee in den ersten Tagen und Wochen des Kriegs die schwersten Verluste hinnehmen mussten. Verluste, die die Fähigkeit der Armee, Initiative unter Beweis zu stellen, deutlich beeinträchtigen.

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Es ist, darin herrscht unter Beobachtern weitgehend Einigkeit, ein unzeitgemäßer Krieg, der da in der Ukraine wütet. In vielen Aspekten, und das vor allem in der Ostukraine, scheint es, als hätte sich seit dem Zweiten Weltkrieg nichts oder nur wenig geändert. Artillerieduelle, Raketenbeschuß, ein Ringen um jeden Quadratmeter Boden. Ein dreckiger, ein blutiger Krieg.

Militärs und PR-Strategen haben in den letzten Jahrzehnten viel Augenmerk darauf gelegt, den Krieg gleichsam zu sterilisieren. Die Opferzahlen tunlichst zu reduzieren, Präzisionswaffen einzusetzen, hässliche Bilder zu vermeiden. Das war während des Kriegs zur Befreiung Kuweits erstmals im Sinne des Wortes generalstabssmäßig geplant und ein Höhepunkt gesteuerter Medienberichterstattung, das haben die USA im Irakkrieg anfangs so gehalten, das haben sie in Afghanistan versucht. Die Opferzahlen unter Soldaten sind tatsächlich zurückgegangen. Die großflächigen Zerstörungen sind Ausnahme geworden (sieht man von Bürgerkriegen wie in Syrien und Jemen ab). Der Krieg, so weit er noch von Soldaten ausgefochten wird, soll im 21. Jahrhundert ein „sauberer“ Krieg sein.

Das ist nur ein Aspekt. Er wird zudem zusehends virtuell ausgetragen, als Cyberattacke auf Infrastrukturen, Wissensnetzwerke, auf eine Gesellschaft, die nicht mehr zuordnen kann, was denn Zufall, schlichtes Gebrechen, Verbrechen oder doch staatlicher Angriff ist.

Es wandelt sich der Krieg im 21. Jahrhundert zu einem hybriden Krieg, zu einem Ereignis, welches ausfasert, an Eindeutigkeit verliert und an klaren Fronten. Er droht zu einem undefinierbaren Dauerzustand zu werden, unerklärt und doch im Gange, in Form zahlloser kleiner und großer über das Netz ausgetragener Attacken. Selbst das Geschehen am Schlachtfeld wird den Drohnenpiloten in seiner Anmutung zu einem Videospiel, der Angriff auf ein Elektrizitätswerk dem beauftragten Hacker zu einem reinen Job, dessen Auswirkungen ihn nie erreichen werden, und Piloten sind mittlerweile Teil eines Datennetzwerks, abgehoben und fern der Resultate ihrer Einsätze.

Als Russland 2014 seinen Krieg gegen die Ukraine startet, zieht es alle Register des hybriden Kriegs. Und ist erfolgreich damit. Vollkommen überrascht, sind die ukrainischen Truppen unfähig zur Gegenwehr, so wie das Land ansich in Schreckstarre verfällt und so ungläubig wie ohnmächtig die Vorgänge auf der Krim verfolgt, von denen Moskau stur behauptet, sie entsprängen rein lokaler Initiative. Die Kämpfe im Donbass gestalten sich damals schon anders. Aber der Donbass liegt weit im Osten, sozusagen außerhalb des westlichen Gesichtsfeldes. Auf der Krim hingegen demonstrierte Russland, wie schnell und reibungslos und nachgerade chirurgisch sauber so ein hybrider Krieg vonstatten gehen kann.

Acht Jahre später steckt Russland in der Ukraine in einem Krieg, der nichts mehr mit jenem von 2014 zu tun hat, fest. Der schnelle, präzise Schlag gegen Kiew ist ausgeblieben. Die befürchteten Cyberattacken, auch gegen westliche Ziele, fallen zumindest bis dato nicht auf. Und den Wirtschaftskrieg führt der Westen konsequenter als es Russland tut.

Stattdessen verfestigen sich die Fronten im Donbass und im Süden. Geländegewinnen der einen Seite stehen solche der anderen gegenüber. Bombardements und Artillerieduelle, Raketenangriffe und Drohnenattacken, Feuergefechte, Grabenkrieg und Häuserkampf. Abgesehen von den eingesetzten Waffensystemen zeigt sich der Krieg in der Ukraine also ganz und gar altmodisch. In aller Konsequenz.

Man könnte nun meinen, allein das schon sei eine Niederlage Putins. So schnell indes gibt sich gerade Putin wohl nicht geschlagen. Er, besser gesagt seine Armee, greift mit der „traditionellen“ Kriegsführung auf ein Vorgehen zurück, welches sie bereits in Tschetschenien und in Syrien ausgiebig erprobt haben, sie setzen auf buchstäblich verbrannte Erde.

Es setzt Putin aber wohl auch auf Zeit. Auf die Zeit, die ihm in die Hände spielt.

George W. Bush drängte es nach der – notabene völkerrechtswidrigen – US-Invasion Iraks rasch an Bord des US-Flugzeugträgers „USS Abraham Lincoln“, um von dort aus der Weltöffentlichkeit sein „Mission Accomplished“ entgegenzuschmettern. Tatsächlich war es erst der Beginn einer schier unendlichen Geschichte der Gewalt, des Kriegs und Bürgerkriegs im Irak. Für Bush aber war die Botschaft, dass sein Krieg nach kurzer Zeit und unter minimalen Verlusten vorüber sei, das wichtige. Die USA und der Westen wollen, wenn, dann kurze Kriege.

Gegen kurze Kriege hat Putin sicherlich nichts einzuwenden, gegen lange Kriege aber auch nicht. Im Osten der Ukraine führt Russland, vertreten durch seine Separatisten, seit 2014 einen quälend langen Krieg mit Tausenden Opfern. Der russische Präsident, und mit ihm wohl auch die Armeespitze, ist bereit, sich auf einen weiteren langen Krieg einzulassen. Zum einen werden so schlicht Fakten geschaffen, etwa, weil die angestammte Bevölkerung flieht oder zum Gehen angehalten, gedrängt oder gezwungen wird, und die Frontlinien zu Grenzen eines weitgehend eingefrorenen Konflikts werden. Zum anderen aber kann Putin darauf zählen, dass der westlichen Öffentlichkeit ein langer, quälend langsamer Krieg ein Unding wird. Eine Zumutung, derer man sich entledigen will. Oder aber, dass der Gewöhnungseffekt eintritt, die Aufmerksamkeit, dafür, was sich weit im Osten tut, abnimmt – womit der Aggressor peu á peu freie Hand gewinnt, Tatsachen zu schaffen.

Kurz, Putin weiß um die Befindlichkeiten der westlichen Gesellschaften, er weiß um die wirtschaftlichen Ängste, um die Sorge vor einem um sich greifenden, nicht mehr einzudämmenden Konflikt, er weiß um die prinzipielle Ungeduld im Westen ebenso wie um die offenen und verdeckten Konflikte. Alle diese Disparitäten müssen aus Sicht des Kremls der russischen Sache über kurz oder lang in die Hand spielen. Aus Moskauer Perspektive mag der Westen vieles haben und über noch mehr verfügen, über eines verfügt er nicht: über Geduld.

Je länger demnach der Abnutzungskrieg im Süden und Osten der Ukraine dauert, je mehr Leid in den Alltag sickert, je gewöhnlicher dieser Krieg wird, so wie er nicht mehr von der tiefen Sympathie der ersten Tage und Wochen für die Ukraine verfolgt wird, so lange Kiew nicht belagert wird, je teurer dieser Krieg den Westen zu stehen kommt, desto eher, so lautet wohl das russische Kalkül, wird der Westen der Sache müde und ihrer leid. Und lässt die Ukraine fallen. Weil der Westen nicht mehr in der Lage ist, einen quälend langen Krieg nach den Mustern des 20. Jahrhunderts zu ertragen.

Es wäre nicht das erste Mal, dass Putins Rechnung nicht aufgeht. (fksk, 13.05.22)

Woche 18 – Europas Zeitfenster

Woche zehn. In Mariupol wird immer noch um das Stahlwerk gekämpft, ukrainische Truppen gehen bei Charkiv und Izium zum Gegenangriff über und die russische Schwarzmeerflotte verliert mit der Fregatte „Admiral Makarov“ ein weiteres Kampfschiff durch ukrainischen Beschuß. Während in Moskau die Vorbereitungen zur Siegesparade am 9. Mai anlaufen und weltweit darüber spekuliert wird, wie Putin diesen Tag nutzen wird, lädt Selenskij den deutschen Präsidenten Steinmeier und auch gleich noch Kanzler Scholz für denselben Tag nach Kiew. Auf die deutschen Panzer Gepard und die Panzerhaubitzen 2000 wird die Ukraine länger warten müssen. In Deutschland wie in Österreich diskutiert man unterdessen über den Brief der 28.  Und vergisst, dass sich die Welt nicht ausschließlich um deutsche und österreichische Befindlichkeiten dreht.

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Dieser Befund trifft freilich grosso modo auf die gesamte Europäische Union zu. Kommission und Parlament blicken gebannt in die Ukraine und arbeiten emsig an neuen Sanktionen, aber schon macht sich das übliche Abtauschen zwischen den 27 Regierungen wieder breit und bemerkbar. Es herrscht gewissermaßen wieder Alltag in all seiner Behäbigkeit.

Dabei besteht für Behäbigkeit kein Anlass. Das geeinte Auftreten des Westens gegenüber Russland ist allein der Tatsache geschuldet, dass Joe Biden US-Präsident ist, im Senat und Repräsentantenhaus (noch) die Mehrheit hat und die Antworten des westlichen Staatengemeinschaft klug dirigiert.

Die Frage ist nur, wie lange noch?

Im November finden die Midterms statt. Dass Senat und Repräsentantenhaus an die Republikaner fallen, ist nicht ausgemacht. Liegt aber im Bereich des Möglichen. Des sehr Möglichen. Für Biden bedeutete so ein Ausgang die totale Blockade durch den Kongress.

Und in zwei Jahren wählen die US-Bürger einen neuen Präsidenten. Und wieder ist es nicht ausgemacht, liegt aber im Bereich des Möglichen, dass Trump zum zweiten Mal in das Weiße Haus einzieht. Oder einer seiner Adepten.

Damit wäre der momentan vorherrschende transatlantische Konsens aller Wahrscheinlichkeit nach Geschichte. Und Europa, die Europäische Union, fände sich ohne Rückendeckung wieder. Vielmehr in einer Zwickmühle.

Man hat Tschetschenien weitgehend ausgeblendet, den Georgienkrieg 2008 klein geredet, den ersten Ukrainekrieg 2014 versucht, schnell wieder zu vergessen und war dann vom zweiten Ukrainekrieg und der Tatsache, dass Russland sich in einem allumfassenden Konflikt mit dem Westen sieht, auf das Höchste überrascht.

Nach demselben Muster droht die nächste Überraschung, wenn die USA sich aus Europa zurückziehen, über die Köpfe der EU hinweg Abmachungen mit Russland treffen, schlichtweg alle transatlantischen Stärken in den Kübel treten.

Es bleibt Europa nur ein kleines, eng bemessenes Zeitfenster, sich neben all den anderen Aufgaben, die dringlich sind, auf genau dieses Szenario einzustellen. Möglicherweise arbeiten ja tatsächlich in den vielen Thinktanks und Gremien, die sich in den 27 Hauptstädten tummeln, viele ausgewiesene Experten unermüdlich ohne Unterlass daran, für dieses Szenario gerüstet zu sein, den leeren Raum, der durch eine mögliche Abkehr der USA entsteht, durch die EU kraftvoll und kreativ zu füllen und zu nutzen. Möglicherweise arbeiten Kommission und Parlament längst schon und intensiv daran, die Außenpolitik der 27 zu einer Außenpoilitik aus einem Guß zu machen, legen die Fundamente für eine reibungslos und effizient funktionierende europäische Sicherheitsstruktur inklusive aller militärischen Kapazitäten und haben die Lösung und die Umsetzung, Europas Abhängigkeit von fossilen Energieträgern binnen kürzester Zeit auf ein absolutes Minimum zu reduzieren.

Joe Bidens Präsidentschaft ist ein Glücksfall für Europa. Gerade angesichts der russischen Aggression in der Ukraine. Es darf nur der Umstand, dass ein transatlantisch geprägter und auf Zusammenarbeit bedachter Joe Biden im Weißen Haus amtiert, nicht als gegeben angenommen werden. Schon Obama hatte klar zu verstehen gegeben, dass die Interessen der USA in Zukunft auf den pazifischen Raum fokussieren würden. Europa kann und darf sich nicht darauf verlassen, dass im Fall des Falles die USA in die Bresche springen. Vielmehr muss sich die Union mit Szenarien auseinandersetzen, in denen die USA nicht mehr nur ein ökonomischer Konkurrent, sondern auch ein politischer Gegner sein können. Die Zeitenwende, die der deutsche Kanzler im Februar im Bundestag beschworen hat, diese Zeitenwende wird viel an Überraschungen parat halten. Nur, sich nochmals davon überraschen zu lassen, dass die USA einen anderen Weg als Europa einschlagen, das ist selbst im Rahmen der Unwägbarkeiten dieser Zeitenwende keine Option.

Der Krieg in der Ukraine, das besondere Gewicht der USA und ihre innere Verfasstheit, sollten Grund genug dafür sein, die Union rasch wetterfest zu machen. Nicht allein als ökonomischen Block, sondern gerade als politischen Machtfaktor, der in der Lage ist, seine Interessen auf dem eigenen Kontinent und in der Welt auch ohne US-amerikanische Unterstützung zu vertreten. Im Fall des Falles sogar gegen US-Interessen.

Die Zeit drängt. (fksk, 08.05.22)

Woche 17 – 28 Prominente und die Logik der Eskalation

Woche neun. Aus dem russischen Belgorod werden mysteriöse Explosionen gemeldet, solche ereignen sich auch in der Region Transnistrien, was prompt Sorge auslöst, Moldawien könne in den Krieg hineingezogen werden. Ganz und gar nicht mysteriös ist der Raketenbeschuss Kiews durch Russland während des Besichs von UN-Generalsekretär Guterres. Und schlichtweg unverholen sind die Drohungen, die von Moskau aus in die Welt dringen. Das reicht von wiederholten Wink mit der nuklearen Option bis hin zu wüsten Beschimpfungen Kasachstans, das sich als doch nicht so treuer Vasall erweist.

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Man kann sagen, die Nervosität steigt auf allen Seiten. Die Ausweitung der Kampfzone, die bislang vermieden werden konnte, erscheint in dieser Woche ein Stück weit denkbarer als zuvor.

Also schreiben 28 prominente deutsche Persönlichkeiten ihrem Kanzler einen offenen Brief. Darin warnen sie vor der Möglichkeit eines Dritten Weltkriegs. Wohl benennen sie den Aggressor und das Opfer, sorgen sich indes, dass das Engagement des Westens Putin das Motiv liefert, im ganz großen Rahmen loszuschlagen.

Um das zu vermeiden, um Putin keinen Vorwand zu liefern, ersuchen Alice Schwarzer, Alexander Kluge, Reinhard Mey, Reinhard Merkel, Edgar Selge und Juli Zeh – um nur einige der Erstunterzeichner zu nennen –, ersuchen sie ihren Kanzler, der Ukraine keine schweren Waffen zu liefern. Sie bitten ihn dringend und dringlich zu seiner abwartenden, zurückhaltenden Position zurückzukehren und die Zeitenwende, die er im Bundestag beschworen hat, nicht zu weit zu treiben. Und, sie ersuchen ihn, „alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beiden Seiten akzeptieren können“.

Damit allein belassen sie es nicht. Sie wenden sich auch dem Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung zu und formulieren: „Dazu steht selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor in einem unerträglichen Missverhältnis“. Somit steht ein wiederholt gebrauchtes Argument im Raum, demzufolge der Kampf der Ukraine gegen Russland unverhältnismäßig sei und Frieden um beinahe jeden Preis die bessere Option.

Alice Schwarzer, Juli Zeh und Alexander Kluge sind sicherlich keine naiven „Putinversteher“, ihr Schreiben an Scholz ist von großer Sorge getragen. Um den Weltfrieden, um jedes einzelne Leben, welches in diesem Krieg ausgelöscht wird. Diese Sorge ist unter allen Umständen gerechtfertigt.

Aber.

Aber was ist der richtige Weg, mit einem Diktator umzugehen? Die Argumentation der 28 läuft letztlich auf eine Kapitulation der Ukraine hinaus, als Preis einem möglichen nuklearen Krieg zu entgehen. Mit der Draufgabe, dass der Westen dieses Ergebnis zähneknirschend akzeptiert. Womit Putins Rechnung aufgegangen wäre, wonach die westliche Staatengemeinschaft bereit ist, der Gewalt zu weichen. Und wonach die Drohung mit der nuklearen Option ausreicht, Ziele zu erreichen, die zuvor unerreichbar erschienen.

Der Kreml hat es wieder und wieder betont, gesagt, geschrieben, gesendet und der Welt ins Gesicht gesagt, dass Russland von Lissabon bis Wladiwostok die dominierende, die Hegemonialmacht sein will. Das kann und darf nicht weiter ausgeblendet werden. Es geht dem russischen Regime nicht nur um die Wiederherstellung von Russlands Glanz und Gloria, es geht um die Unterwerfung des verweichlichten, liberalen, dekadenten Westens.

Auftritt Tigran Keossajan, in Russland gilt er als Humorist. Verheiratet ist er mit der Direktorin des Senders RT, Margarita Simonjan, beide sind Teil des Establishments in Moskau, dem Kreml und seinem Hausherren auf das Engste verbunden. Keossajan, so berichtet die FAZ, hat nun zum verbalen Rundumschlag gegen Kasachstan ausgeholt.

Man erinnert sich, erst im Jänner stellten russische Truppen Ruhe und Ordnung im Nachbarstaat wieder her. Was aber tut das zentralasiatische Land? Es ergreift nach dem 24. Februar nicht Russlands Partei, es sucht vielmehr Distanz zu wahren, kündigt sogar an, Moskau bei der Umgehung von Sanktionen nicht zu helfen. Keossajan hat sich dieser Haltung angenommen, er spricht die Kasachen direkt an: „Es herrscht Krieg. Der Krieg zweier enormer, großer Ideen, zweier großer Länder. Und das zweite ist nicht die Ukraine, sondern Amerika und die Nato. Alle übrigen, besonders die Bruderländer, müssen sich für eine Seite entscheiden. Und wir müssen aufmerksam schauen, wer mit uns ist und wer nicht.“

Das ist die Perspektive Moskaus, dargebracht von einem Humoristen aus dem Zentrum der Macht.

Die 28 machen sich zu Recht Sorgen.

Olaf Scholz mag für sein zurückhaltendes Auftreten gute Gründe haben. In der Tat ist alle Politik rund um den Krieg in der Ukraine ein Drahtseilakt ohne Netz. Was sich aus den neun Wochen indes als erste Zwischenerkenntnis gewinnen lässt, ist der Umstand, dass es der unbedingte Widerstandswille der Ukraine und eine daraufhin weitgehend konsistente westliche Reaktion auf die russische Aggression sind, die Putin Grenzen aufzeigen und setzen. Die Lieferung schwerer Waffen trägt das ihre dazu bei, dass diese Limits nicht aufgeweicht werden. Das ist die Sprache, die Putin versteht. Der Westen muss lernen, sie ihrer zu bedienen – ohne gleich ihrer Logik ganz und gar anheim zu fallen.

Hierin liegt der Wert des Briefs der 28. Man mag ihrer Argumentation nicht folgen wollen, man mag sie schlichtweg für falsch und in ihren Folgen für katastrophal halten, aber sie zu hören und ihnen zuzuhören, das beschreibt exakt die Stärke des Westens, die ihn auszeichnet, die das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zu Putins Russland ist. Es ist die Vielstimmigkeit, die Fähigkeit und Bereitschaft zur Debatte, das grundlegende Recht auf eine eigene Meinung – auch wenn sie im Gegensatz zur Mehrheitsmeinung steht.

Insofern läuft der Vorwurf an die 28, sie besorgten das Geschäft Putins, ins Leere. Das Gegenteil ist wahr. Sie nötigen Politik und Gesellschaft einmal mehr, jede Handlung zu begründen, jeden Schritt zu überlegen, sich der Verantwortung zu stellen und sich der Konsequenzen bewusst zu sein. Sie verhindern, dass Putins Logik der Eskalation im Westen Fuß fasst und damit nach seinen Regeln gespielt und gehandelt wird. Dafür gilt den 28 Anerkennung. Auch wenn sie in ihrer Argumentation irren. (fksk, 30.04.22)

Woche 16 – Kein Gesicht, das es zu wahren gilt

Woche acht des Kriegs in der Ukraine. Die russischen Truppen starten ihre Offensive im Osten des Landes, begleitet von Raketenangriffen auf Kiew, Charkiw und Lwiw. Um das Stahlwerk in Mariupol wird immer noch gekämpft und selbst in Russland werden mehr oder weniger offen Fragen nach dem Schicksal der Matrosen der Moskwa gestellt. Die USA beginnen die Ukraine mit schweren Waffen, vor allem Haubitzen, auszurüsten. Die deutsche Regierung will der ukrainischen Geld überweisen.

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Unterdessen zeichnet Wladimir Putin die 64. motorisierte Infantriebrigade seiner Armee mit dem Ehrentitel „Garde“ aus. „Heldentum und Tapferkeit, Entschlossenheit und Mut“ habe die Truppe bewiesen, so Putin. Und weiter: „Das geschickte und entschlossene Vorgehen des ganzen Personals während der militärischen Spezialoperation in der Ukraine ist Vorbild für die Ausführung der militärischen Pflichten, für Mut, Entschlossenheit und Professionalität.“

Die 64. motorisierte Infantriebrigade war in Butscha stationiert.

„Butscha ist eine Landschaft des Terrors“, berichtet Carlotta Gall am 11. April in der New York Times. Sie beschreibt die Wochen unter russischer Besatzung. Sie schreibt von der Frau, die von einem Scharfschützen erschossen wurde; von der Frau, die in einem Kartoffelkeller als Sexsklavin gehalten wurde – bis sie ermordet wurde; von der Lehrerin Lyudmyla, die erschossen wurde, als sie die Türe ihres Hauses öffnete und deren Leiche einen Monat liegen blieb; von Volodymyr Feoktistov, der Brot holen wollte und tot auf der Straße gefunden wurde. Und das ist nur ein Auszug, eingedampft, auf das notwendigste reduziert.

Butscha, dieser Name steht für die Kriegsverbrechen der russischen Armee. Unter anderem für die Einheiten der 64. motorisierten Infantriebrigade. Und Butscha steht für die höhnische Missachtung, die Putin gegenüber der Ukraine und dem Westen hegt und lebt.

Alles, was in Butscha, Irpin, Borodjanka, Melitopol und Mariupol und vielen anderen Städten und Dörfern der Ukraine unter russischer Besatzung passiert ist und wohl, so steht zu fürchten, immer noch passiert, steht in krassem Widerspruch zu allen internationalen Regeln und Vereinbarungen, die auch Russland mitformuliert und unterzeichnet hat. Es verstößt gegen die elementarsten Prinzipien der Genfer Konvention, es sind Verbrechen. Das ist nicht von der Hand zu weisen, das ist nicht zu beschönigen. Und – es widerspricht allem, was soldatischer Ethos ist.

Putin und die Seinen setzen sich darüber hinweg. Offen und ungeniert. Wer immer noch meint, man müsse dem russischen Präsidenten einen Ausweg eröffnen, der es ihm ermögliche, sein Gesicht zu wahren, der hat eines nicht verstanden: Es ist Putin gar nicht daran gelegen, sein Gesicht zu wahren. Nicht im Westen, den Putin offensichtlich so sehr verachtet, dass er Mord und Totschlag, Vergewaltigung und Plünderung als „militärische Pflicht“ seiner Armee beschreibt, als „Heldentum“ deklariert.

Wer im Westen immer noch daran glaubt, dass es mit Putin eine gedeihliche Zukunft geben kann, wenn der Mann im Kreml nur sein Gesicht wahren kann, der täuscht sich. Und wer im Westen immer noch der Meinung ist, dass es nur eines wie auch immer gearteten Friedens in der Ukraine bedürfe, um wieder zum status quo ante zurückkehren zu können, der täuscht sich gleichfalls. Putin hat dem Westen und seinen Ideen von Freiheit und Eigenverantwortung, von Liberalismus und Menschenrechten ein für allemal eine Absage erteilt und den Krieg erklärt. Die Ukrainerinnen und Ukrainer zahlen dafür einen hohen Preis. Sie sterben für Europa. Dessen sollten sich Politiker gerade in Österreich und Deutschland bewusst sein – und nicht immer noch darauf hoffen, für Putin eine „gesichtswahrende“ Lösung finden zu können. (fksk, 24.04.22)