New York Times

Woche 16 – Kein Gesicht, das es zu wahren gilt

Woche acht des Kriegs in der Ukraine. Die russischen Truppen starten ihre Offensive im Osten des Landes, begleitet von Raketenangriffen auf Kiew, Charkiw und Lwiw. Um das Stahlwerk in Mariupol wird immer noch gekämpft und selbst in Russland werden mehr oder weniger offen Fragen nach dem Schicksal der Matrosen der Moskwa gestellt. Die USA beginnen die Ukraine mit schweren Waffen, vor allem Haubitzen, auszurüsten. Die deutsche Regierung will der ukrainischen Geld überweisen.

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Unterdessen zeichnet Wladimir Putin die 64. motorisierte Infantriebrigade seiner Armee mit dem Ehrentitel „Garde“ aus. „Heldentum und Tapferkeit, Entschlossenheit und Mut“ habe die Truppe bewiesen, so Putin. Und weiter: „Das geschickte und entschlossene Vorgehen des ganzen Personals während der militärischen Spezialoperation in der Ukraine ist Vorbild für die Ausführung der militärischen Pflichten, für Mut, Entschlossenheit und Professionalität.“

Die 64. motorisierte Infantriebrigade war in Butscha stationiert.

„Butscha ist eine Landschaft des Terrors“, berichtet Carlotta Gall am 11. April in der New York Times. Sie beschreibt die Wochen unter russischer Besatzung. Sie schreibt von der Frau, die von einem Scharfschützen erschossen wurde; von der Frau, die in einem Kartoffelkeller als Sexsklavin gehalten wurde – bis sie ermordet wurde; von der Lehrerin Lyudmyla, die erschossen wurde, als sie die Türe ihres Hauses öffnete und deren Leiche einen Monat liegen blieb; von Volodymyr Feoktistov, der Brot holen wollte und tot auf der Straße gefunden wurde. Und das ist nur ein Auszug, eingedampft, auf das notwendigste reduziert.

Butscha, dieser Name steht für die Kriegsverbrechen der russischen Armee. Unter anderem für die Einheiten der 64. motorisierten Infantriebrigade. Und Butscha steht für die höhnische Missachtung, die Putin gegenüber der Ukraine und dem Westen hegt und lebt.

Alles, was in Butscha, Irpin, Borodjanka, Melitopol und Mariupol und vielen anderen Städten und Dörfern der Ukraine unter russischer Besatzung passiert ist und wohl, so steht zu fürchten, immer noch passiert, steht in krassem Widerspruch zu allen internationalen Regeln und Vereinbarungen, die auch Russland mitformuliert und unterzeichnet hat. Es verstößt gegen die elementarsten Prinzipien der Genfer Konvention, es sind Verbrechen. Das ist nicht von der Hand zu weisen, das ist nicht zu beschönigen. Und – es widerspricht allem, was soldatischer Ethos ist.

Putin und die Seinen setzen sich darüber hinweg. Offen und ungeniert. Wer immer noch meint, man müsse dem russischen Präsidenten einen Ausweg eröffnen, der es ihm ermögliche, sein Gesicht zu wahren, der hat eines nicht verstanden: Es ist Putin gar nicht daran gelegen, sein Gesicht zu wahren. Nicht im Westen, den Putin offensichtlich so sehr verachtet, dass er Mord und Totschlag, Vergewaltigung und Plünderung als „militärische Pflicht“ seiner Armee beschreibt, als „Heldentum“ deklariert.

Wer im Westen immer noch daran glaubt, dass es mit Putin eine gedeihliche Zukunft geben kann, wenn der Mann im Kreml nur sein Gesicht wahren kann, der täuscht sich. Und wer im Westen immer noch der Meinung ist, dass es nur eines wie auch immer gearteten Friedens in der Ukraine bedürfe, um wieder zum status quo ante zurückkehren zu können, der täuscht sich gleichfalls. Putin hat dem Westen und seinen Ideen von Freiheit und Eigenverantwortung, von Liberalismus und Menschenrechten ein für allemal eine Absage erteilt und den Krieg erklärt. Die Ukrainerinnen und Ukrainer zahlen dafür einen hohen Preis. Sie sterben für Europa. Dessen sollten sich Politiker gerade in Österreich und Deutschland bewusst sein – und nicht immer noch darauf hoffen, für Putin eine „gesichtswahrende“ Lösung finden zu können. (fksk, 24.04.22)

Woche 01 – Lasst Fakten sprechen

Als vor einem Jahr, am 6. Jänner 2021, ein Mob das Kapitol in Washington DC stürmt, verstummt dieses Update. Das, was da vor einem Jahr geschieht, ist so unbeschreiblich, dass es an Worten fehlt, es zu fassen. Von erklären kann schon gar nicht die Rede sein. Jede Analyse klingt hohl und fahl.

Bisweilen ist Schweigen besser.

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Zumal wenn das, was bisher noch als öffentlicher Diskurs galt, zusehend abgleitet in eine Frontstellung der Überzeugungen und Dogmen. Daran hapert es 2021 nun wirklich nicht. Man kann sich des Eindrucks nicht erwahren, dass der 6. Jänner den Ton für das gesamte Jahr setzt. Einerlei ob in den USA oder in Europa – oder auch in Südafrika und anderen Weltgegenden. Offenbar gilt vielen, genug geredet zu haben, jetzt schreitet man zur Tat.

Nun ist es nicht gerade journalistisch, aktuelle Geschehnisse nicht zu kommentieren, zu analysieren, einzuordnen oder zu hinterfragen. Manchmal freilich ist es besser, sich aus dem Chor herauszunehmen. Nicht die siebenhundertsechsundzwanzigste Stimme aus der hinteren Mitte zu sein, sondern einfach zuzusehen. Und versuchen, Abstand zu gewinnen. Jene Distanz, die notwendig ist, einen weiten Blick zu wahren. Das ist ein Luxus, den sich diese Plattform hier leisten kann (ein Medium, das auf Einnahmen angewiesen ist, kann sich Eskapaden dieser Art nicht erlauben).

Was sich daraus gewinnen lässt? Zuallererst die auf der Hand liegende Erkenntnis, dass die eigene Welterklärung niemandem fehlt. Zum anderen, dass es allem medialen Umbruch und der damit verbundenen ökonomischen Unsicherheiten zum Trotz ein unbändiges Bedürfnis gibt, über mediale Plattformen Einordnungen vorzunehmen, zu beschreiben, zu kommentieren und auch zu agitieren. Jedem Blickwinkel das Medium seiner Wahrheit.

Das ist die Lage. Das ist die Erwartungshaltung.

Daran ist nichts Neues. Was früher die Parteizeitungen waren, das ist heute die mediale Blase, die ihre Konsumenten in ihrer Weltsicht und -sicherheit bestätigt und ihnen jegliche Zumutung vom Leibe hält. Und ist diese nicht ganz abzuwehren, dann wird sie verunglimpft, als Lügenpresse. Oder als gekauft, voreingenommen, unter Druck gesetzt, manipuliert oder was der Möglichkeiten noch mehr sein mögen. Kurz, sie sind alles, nur wahr können sie nicht sein, dürfen sie nicht sein. Was nicht passt, wird passend gemacht.

Alles schon da gewesen, alles keine Sensation. In der Vehemenz, mit der diese Entwicklung um sich greift, liegt aber eine andere Qualität. Eine totalitäre Qualität, die selbst vor großen Blättern nicht Halt macht.

Wenn etwa ausgerechnet in der großen New York Times Redakteure, die als kontrovers gelten, gehen müssen. Wie zum Beispiel Bari Weiss, Redakteurin der Meinungsseiten, die bei der NYT einen stillen Konsens der Art konstatiert, „dass Wahrheit kein Prozess gemeinschaftlicher Entdeckung ist, sondern etwas Orthodoxes, das nur einer kleinen Gruppe von Eingeweihten bekannt ist, deren Job es ist, alle anderen zu informieren“. Oder wenn der Guardian sich einer Autorin entledigt, die die rigiden Kategorien rezenter Identitätspolitik in Frage stellt. Denn merke, gesäubert wird nicht nur von rechts. Den absoluten Wahrheitsanspruch stellt auch die Linke.

Es geht auch anders. Bislang war es, allein der Ressourcen wegen, eine vor allem amerikanische Spezialität, die von einigen deutschen Medienhäusern wie dem Spiegel oder dem Jahreszeitenverlag gleichfalls gepflegt wurde, der Faktencheck. Jene Abteilung im Haus, die jeden Artikel auf Herz und Nieren prüft, um nur keine Fehler oder Falschmeldungen in die Welt zu entlassen. Das Wiener Wochenmagazin profil hat mit faktiv einen Faktencheck eingerichtet, der Meldungen, Behauptungen und Aussagen auf den Zahn fühlt. Ein Service, welches auch die Austria Presse Agentur anbietet.

Das ist einer der vielen Aspekte verantwortungsvollen Journalismus´. Er geht den Dingen auf den faktischen Grund, vergleicht Aussagen und überprüfbare Tatsachen. Er leistet uneitel Aufklärung, indem er sich auf die Sache konzentriert und nicht auf die handelnden Personen. Das ist oftmals Kärrnerarbeit. Die Art von Arbeit, die nicht mit der großen Bühne, mit Licht, Lob, Lohnerhöhung und Auszeichnungen gedankt wird.

Und doch ist diese Arbeit essentiell, nicht nur für die Medien. Sie ist für die Gesellschaft unverzichtbar. Denn es gilt eine gemeinsame Basis zu schaffen, Wahrheiten zu definieren, über die Einigkeit besteht. Das Fundament muss außer Frage gestellt sein, über alles andere kann und darf gestritten werden.

Das klingt einfach. Ist es wenigstens derzeit aber nicht. Im Gegenteil. Es hat nicht erst der „alternativen Fakten“ aus Trumps engstem Umkreis bedurft, „meine Wahrheit“ steht seit längerem schon gegen „deine Wahrheit“. Was richtig ist, ist zu einer Anschauungssache geworden, zu einem individuellen Blickpunkt, der – selbst, wenn er in Widerspruch zu allen überprüfbaren Fakten steht – nach Anerkennung giert. Das Fundament, auf dem die Gesellschaften des Westens aufbauen, ist fragmentiert und brüchig.

Das zeigt sich bei den Demonstrationen und Aufmärschen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ebenso wie bei hitzigen Auseinandersetzungen rund um Fragen der Identitätspolitik oder des Postkolonialismus. Da wie dort fehlt es an grundlegender Übereinstimmung, um den Dissens in aller Härte und Konsequenz aber eben nicht zerstörerisch zu leben. Im Gegenteil scheint gerade die Zerstörung, die Eliminierung der Andersdenkenden zu einem vordringlichen Ziel zu werden. Um der eigenen Wahrheit zum Durchbruch und zum Sieg zu verhelfen.

Umso wichtiger ist es, dass Medien faktenbasiert arbeiten. Sie sind, nach wie vor, die wichtigsten Informationsquellen der großen Mehrheit. Sie werden Tag für Tag konsumiert, einerlei in welcher ihrer vielen Erscheinungsformen. Sie sind gelernt und es wird ihnen, nach wie vor, ein Grundvertrauen entgegengebracht. Also liegt es an den Medien, sich ihrer Position nicht nur als Übermittler von Nachrichten, sondern auch ihrer Position als Verstärker bewusst zu sein – und sich gezielt aus der Erregung herauszunehmen.

Medien sind Mittler. Sie sind keine Akteure. Das sollten sie auf gar keinen Fall sein. Getreu dem Diktum des deutschen Fernsehjournalisten Hanns-Joachim Friedrichs, wonach man einen guten Journalisten daran erkennt, dass er sich nicht mit einer Sache gemein macht. Auch nicht mit einer guten Sache. Friedrichs wird oft zitiert. Noch viel öfter wird er konkterkariert, als sich Journalisten durchaus mit einer Sache gemein machen. Aus Betroffenheit. Aus Sorge. Nach langer und reiflicher Überlegung. Um etwas zu bewirken.

Das wären die honorigen Gründe.

Die anderen wären, weil es sich einfacher lebt, weiß man sich auf einer Seite und mit ihr eines Sinnes. Oder weil es einem Zumutungen erspart, weil es lukrativ ist, oder auch weil es einfach nur befriedigt, anderen Menschen mit dem Brustton der Überzeugung zu sagen, wo es lang geht. Oder, weil es die persönliche Eitelkeit befriedigt, den Glauben stärkt, einflussreich zu sein. Und weil Emotion ebenso leicht von der Hand geht, wie sie sich konsumieren lässt.

Das heißt nicht, dass Medien frei von Meinung und Standpunkten sein sollten. Ganz im Gegenteil: Die Einordung aktueller Ereignisse und Entwicklungen muss kommentiert, gewichtet und gewertet werden. Gern mit heißem Herzen und kühlem Kopf mitreissend geschrieben, herausragend formuliert. Aber eben faktenbasiert.

Die Nachricht wiederum, die sollte, wie so oft gefordert, wie so oft betont und für sich reklamiert, der Nachricht allein verpflichtet sein. Ohne Wertung, ohne Attribute, ohne moralischen Unterton. Auch ohne Augenzwinkern zum p.t. Publikum, frei von Verbrüderung und unter-uns-Klugen-Gehabe. Freilich, dieses letzte Bild ist ein Zerrbild der Medien. So sind wir nicht, um Alexander Van der Bellen zu zitieren. So sind wir wenigstens nicht immer und nicht nur. Aber immer wieder und leider gar nicht so selten. Qualitäts- wie Boulevardmedien, der Versuchung erliegen sie alle.

Es ist an der Zeit Distanz zu üben, in aller Konsequenz. Um Fakten sprechen zu lassen. (fksk, 08.01.22)