Woche 15 – Das Ende der Neutralität

In seiner siebten Woche wird der Krieg in der Ukraine medial ein wenig leiser. Die russische Führung konzentriert ihre Truppen im Osten der Ukraine, steht nach 40 Tagen heftiger Kämpfe kurz davor, die Hafenstadt Mariupol einzunehmen und verliert ihr Flaggschiff Moskwa durch ukrainischen Raketenbeschuss. Schweden und Finnland bereiten ihren Beitritt zur Nato vor. Unterdessen glänzt Österreich durch eine Stippvisite seines Kanzlers beim russischen Präsidenten.

Nicht die „Moskwa“, aber ein russisches Kriegsschiff ähnlichen Typs in Wladiwostok 2021
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Tatsächlich ist die Entscheidung der beiden skandinavischen Länder, ihre Neutralität aufzugeben, ein Paukenschlag. Man kann auch sagen, es ist ein weiterer Beleg für Putins gravierende Fehleinschätzungen des Westens. Entsprechend fällt die Reaktion Moskaus in Person Dmitri Medwedews aus, der die Stationierung atomar bestückter Raketensysteme im Baltikum ankündigt – und dabei gefliessentlich verschweigt, dass Russland schon bisher seine Enklave Kaliningrad genau dafür nutzt.

Die anstehende Entscheidung Finnlands und Schwedens trägt indes eine weitere Botschaft in sich, genauer gesagt, eine mittel- und langfristige Einschätzung. Trotz der offenbaren Mängel der russischen Armee in Führung und Effektivität, stellt das militärische Potential Russlands ungebrochen eine reale Bedrohung seiner unmittelbaren Nachbarn wie ganz Europas dar. Vor allem da die russische Regierung den Wert von Menschenleben, einerlei ob von Zivilisten, gegnerischen oder eigenen Soldaten, offen geringschätzt und so ihren unbedingten Willen, in der einen oder anderen Art und Weise zu obsiegen, demonstriert.

Egal, wie sich die Lage in der Ukraine entwickelt, Russland bleibt ein Faktor höchsten Risikos für die Sicherheit der europäischen Länder. Wenn Finnland und Schweden nun ihre bisher geübte Neutralität aufgeben, dann weil sie damit rechnen, in Zukunft von Russland politisch massiv unter Druck gesetzt zu werden. Die Mitgliedschaft in der Nato versetzt beide Länder in die Lage, diesem Einwirken besser widerstehen zu können.

Denn, auch das haben beide Länder in den letzten Monaten erfahren, Neutralität ist für Russland kein Grund, die Souveränität eines anderen Landes zu achten. In den Wochen vor dem Angriff auf die Ukraine hat Russland dem Westen ein Ultimatum gestellt – eine nicht verhandelbare Position, wie von russischer Seite wieder und wieder betont wurde. Der Inhalt dieser versuchten Erpressung war mit dem geforderten Abzug der USA aus Europa, dem Rückzug der Nato auf ihre Ausdehnung von 1989 und einem Vetorecht Russlands in Hinblick auf Nato-Mitglieder nichts weniger als die Unterwerfung Europas.

Putin, das ist in den letzten Wochen hinlänglich analysiert und beschrieben worden, hat sich der Wiedererrichtung des russischen Imperiums verschrieben. Mithin eines Reichs, dessen Grenzen deutlich westlich seiner heutigen liegen und dessen Einflusszone viel weiter in den Kontinent hineinreicht als je zuvor in der Geschichte Russlands. Russland als der Hegemon Europas. Eines ganz und gar anders gearteten Europas wohlgemerkt, als Putin den politischen als gesamtgesellschaftlichen und kulturellen Einfluss begreift, als allumfassend und als Besinnung auf die „wahren Werte“ eines christlich verfassten Russlands. Frei von demokratischen Prozessen, frei von Menschenrechten und Meinungsvielfalt, frei von Debatten, schlechterdings eine reibungslos funktionierende Autokratie. Manche nennen sein System faschistisch.

Putin und mit ihm Russland befinden sich auf allen Ebenen im Krieg gegen den Westen im allgemeinen und Europa im Besonderen. In seiner grausamsten Form wird er derzeit in der Ukraine ausgetragen. Und man muss davon ausgehen, dass auf Butscha, Borodjanka, Irpin, Kramatorsk, Mariupol und Cherson noch weit mehr Orte folgen, deren Namen später als Inbegriff von Kriegsverbrechen in die Geschichte eingehen werden. Dazu kämpft Moskau einen Krieg der Information und Worte über seine Propagandakanäle, über seine Verbündeten und bereitwilligen Quislinge, es kämpft einen Wirtschafts- und Energiekrieg und es ist bereit, jederzeit den Cyberkrieg zu eskalieren. Der atomare Krieg steht auch im Raum.

Dieser Realtität muss man sich bewusst sein. Um entsprechend reagieren und agieren zu können.

Finnland und Schweden streben als Resultat darauf die Nato-Mitgliedschaft an. Österreich betont seine Neutralität.

Das ist legitim. Fatal ist indes die Weigerung, die Neutralität in ihren Varianten, Stärken und Schwächen zu diskutieren. Sie ist den Österreichern weniger ein politisches Instrument, als vielmehr ein Wunderding, eine Art Schutzmantelmadonna, die die Republik und ihre Menschen vor Krieg und Kriegshändel bewahrt. Mehr noch, die das Land damit zu einem Pontifex Maximus, zu einem Brückenbauer zwischen den Welten und Kontrahenten macht, allseits geschätzt, geachtet, beliebt und daher auch vertrauenswürdig. Und alles das, ohne sich jemals zu exponieren.

Das klingt an, spricht die Vorsitzende der österreichischen Sozialdemokratie. Das klingt durch, hört man in das Land hinein, wenn Menschen meinen, Neutralität schütze vor Angriffen und garantiere die Solidarität der Weltgemeinschaft. Oder, wie es ein PR-Experte, einst Generalsekretär der Sozialdemokratie, formuliert, sie verhindere, dass seine Kinder für die Interessen anderer in einen Krieg geschickt würden.

Äquidistanz urgieren die Sozialdemokraten (still unterstützt von nicht wenigen Christlichsozialen), Gleichbehandlung des Täters und des Opfers, mithin Respekt gegenüber Putin wie Selenskyj, vor allem gegenüber Putin. Damit schrammt ausgerechnet die Sozialdemokratie hart am Neutralismus entlang, an einer Politik des „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“, an der bereitwilligen Preisgabe eigenständiger Positionen und Bewertungen – wie sie selbstverständlich allen, auch den Neutralen, zustehen.

Es bleibt bislang den Liberalen vorbehalten, diese Interpretation der Neutralität hartnäckig zu hinterfragen und rundheraus in Frage zu stellen. Der Kanzler unterdessen sucht der, von ihm als für ihn schädlich wahrgenommenen, Debatte zu entgehen, dekretiert ein Ende der Diskussion, bevor sie überhaupt begonnen hat und betont die „militärische“ Neutralität Österreichs. Womit er den Minimalkonsens beschreibt, auf den sich alle politischen und gesellschaftlichen Proponenten im Land gerade noch einigen können.

Das ist gewissermaßen die letzte Konstante, die einzige Koordinate, die nach dem 24. Februar verblieben ist. Während sich die europäische Sicherheitsordnung grundlegend verändert, und das rasant, hält Österreich aus bequemer Gewohnheit an seiner Neutralität fest, vielleicht auch aus einer Unlust an einer grundlegenden Debatte. Und wohl getrieben aus Angst, vor dem was da noch kommt.

Die russische Seite hat unmissverständlich klargemacht, was sie von Europa erwartet: Unterwerfung. Und, die russische Seite droht allen, die ihr widersprechen, mit „unabsehbaren Konsequenzen“. Diese Drohung gilt auch Österreich, das als Teil der Europäischen Union und des Westens Teil der Sanktionsgemeinschaft ist und den Angriff ohne jede Zweideutigkeit verurteilt hat. Man kann sagen, dass die Würfel bereits gefallen sind. Es ist höchst an der Zeit, dass die österreichische Politik, die Öffentlichkeit sich der Tatsache stellt, dass die Republik sich neuen Herausforderungen gegenübersieht, Herausforderungen, denen mit Dogmen nicht zu begegnen ist. (fksk, 16.04.22)

Woche 13 – Grosny, Aleppo, Butscha und Moura

Der Krieg ist in seiner sechsten Woche, die Zahl der Flüchtlinge hat die Zahl der vier Millionen überschritten, die der Toten kann nicht einmal annähernd geschätzt werden, weswegen momentan der Begriff der „unzähligen Toten“ der zutreffendste ist. In Butscha und Borodjanka werden die Opfer der russischen Soldateska geborgen und gezählt, währenddessen harren in den Ruinen von Mariupol immer noch Tausende Menschen aus und ertragen die Bombardements der russischen Angreifer. Der Rückzug im Norden wird begleitet von Raketenbeschuss und flächendeckendem Artilleriefeuer. Tag für Tag versinkt das Land mehr und mehr in Schutt und Asche.

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Die Verbrechen von Butscha und Borodjanka, der Dauerbeschuss von Mariupol und Charkiw – nichts davon kommt unerwartet, nur unerwartet schnell. Tatsächlich folgt der Angriff Russlands auf die Ukraine den inzwischen wohlbekannten Mustern des zweiten Tschetschenienkriegs und des Syrienkriegs auf Seiten des Diktators Assad. Da wie dort hat Putins Armee auf Flächenbombardements gesetzt, um den Widerstand zu brechen. Da wie dort nimmt Putins Generalität billigend hohe Opferzahlen in Kauf. Da wie dort steckt dahinter wohl das Kalkül, die Menschen und damit jede Form von Opposition zu brechen, ein für allemal.

Jetzt auch in Mali, nur der Vollständigkeit wegen. Im März, so berichtet Human Rights Watch, haben russische Söldner gemeinsam mit der malischen Armee im Zuge einer Aktion gegen Dschihadisten in der Stadt Moura binnen fünf Tagen 300 Männer erschossen. Zivilisten, wohlgemerkt. Willkürlich verhaftet, verschleppt und exekutiert. Die Schilderungen von Augenzeugen klingen wie jene aus Butscha. Afrika aber ist fern.

Russland eskaliert. Es eskaliert rasant. In der Art seiner „Kriegsführung“, die gegen alle Regeln der Genfer Konvention zum Schutz der Zivilisten und ziviler Einrichtungen verstößt. In den Drohungen, die gegen die Ukraine und die Menschen der Ukraine ausgestoßen werden, in denen ihnen ihre Vernichtung angekündigt wird. In den unverblümten Lügen zu Mariupol und Cherson, zu Charkiw und Irpin, zu Butscha und Borodjanka.

Es ist, als wolle Russlands Regierung damit nicht nur die Abwendung Russlands vom Westen beschleunigen und zementieren, es scheint auch, als wolle Putins Regierung das eigene Volk, die eigenen Soldaten zu Mittätern machen, mitschuldig an Verbrechen gegen die Menschlichkeit, geächtet in der Welt. Um damit Russlands Menschen noch enger an sich zu binden. Sozusagen auf Gedeih und Verderb.

Gleichzeitig setzt die Führung in Moskau damit den Ton für die kommenden Wochen und Monate. Es mögen die Schauplätze der Kämpfe in der Ukraine sich verändern und sich in den Osten und Süden verlagern, erträglicher wird der Krieg dadurch nicht werden. Im Wissen um das bisherige Vorgehen der russischen Truppen ist – gerade in der Weite des ukrainischen Ostens – mit noch mehr ungebremster Gewalt, mit Terror gegen die Zivilbevölkerung zu rechnen. Es ist nicht auszuschließen, dass das Regime Putin darauf setzt, dass, wenn die unmittelbare Bedrohung Kiews nicht mehr gegeben ist, die mediale Aufmerksamkeit des Westens abnimmt. Getreu dem Motto: Aus den Augen aus dem Sinn. Denn wer, abgesehen von den Beobachtern der OSZE, hatte in den Jahren seit 2014 schon die Lage entlang der Demarkationslinie im Donbass im Blick? Der Westen in seiner Gesamtheit und speziell in Person seiner politischen und publizistischen Vertreter jedenfalls nicht. Ein zweites Mal darf das nicht passieren.

Der Krieg befindet sich bald schon in seiner siebten Woche, er gerinnt langsam zu Alltag. Das ist unvermeidlich. Umso dringlicher ist es, dass Journalisten, Vertreter internationaler Organisationen, Juristen, Ermittler und Mediziner daran arbeiten, jedes einzelne Verbrechen zu dokumentieren. In Butscha und Borodjanka, in Charkiw und Mariupol – und auch in Moura in Mali. (fksk, 06.04.22)

Woche 10 – Gewissheit im Ungewissen

Der Krieg geht in seine dritte Woche. Einheiten der Armee der Russischen Föderation belagern, bombardieren und hungern ukrainische Städte aus, mehr als zwei Millionen Menschen fliehen in benachbarte westliche Länder derweilen der russische Außenminister den Angriff seines Landes auf die Ukraine rundweg in Abrede stellt. Das zeugt von Konsequenz, als in Russland der Begriff „Krieg“ für das, was sich im Nachbarland abspielt, von Putins Regierung schlichtweg verboten worden ist. Aus der Welt schaffen lässt sich der Krieg in der Ukraine dennoch nicht. So wenig wie seine Folgen.

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Die Welt sortiert sich neu. So viel lässt sich sagen.

Da ist der klassische Krieg in der Ukraine, den die internationale Gemeinschaft, wenn sie ihn schon nicht beenden kann, so doch auf das Land eingrenzen will. Die Gefahr einer Eskalation ist real, also müht sich der Westen bei aller Parteinahme für die Ukraine unausgesprochen rote Linien nicht zu überschreiten.

Ungeachtet dessen hat der Krieg jenseits der ukrainischen Grenzen binnen kürzester Zeit die Dimension eines weltumspannenden Wirtschaftskriegs angenommen. Dies ist nun eine Auseinandersetzung, die keine Neutralität anerkennt, vielmehr klare Bekenntnisse und Taten einfordert. Wenigstens in Europa.

Putin hat sich in vielem verschätzt. In der Bereitschaft und Fähigkeit der Ukraine, seiner Armee effizient und vor allem effektiv Widerstand zu leisten. Er hat sich indes auch in der geradezu verzweifelten Bereitschaft der Europäer und Amerikaner, Sanktionen, die im eigenen Lager Kollateralschäden nach sich ziehen, auszusprechen, vertan.

Nie zuvor hat es ein so umfassendes Bündel derart präziser Maßnahmen gegeben – die immer noch als zu unpräzise, zu sanft und unentschlossen kritisiert werden. Nie zuvor waren sie in so kurzer Zeit so folgenreich. Allein der Umstand, dass die russische Zentralbank keinen Zugriff mehr auf ihre, im Westen geparkten, Währungsreserven mehr hat, schickt die rapide isolierte russische Wirtschaft auf eine rasante Talfahrt. Das Risiko eines Gegenschlags in Form eingestellter Öl- und Gaslieferungen in die Union ist sehenden Auges eingegangen worden. Indem die Union jetzt auch noch ankündigt, ihre Energieabhängigkeit von Russland schrittweise und so schnell als möglich zu beenden, macht sie Moskau die Aussicht auf künftige Einnahmen auch langfristig zunichte. Ob China sie substituieren kann, bleibe vorerst dahingestellt.

Bei aller Ungewissheit darüber, was kommt, diese Entwicklung zeichnet sich ab: Die Weltwirtschaft beginnt sich entlang politischer Bruchlinien neu zu sortieren. Hier die Volkswirtschaften der USA, der EU, Japans, Kanadas, Großbritanniens, Südkoreas und auch Singapurs. Dort jene Russlands und – nolens volens – Chinas. Die Globalisierung als Hohelied des Freihandels, der weltweiten Investitionen nach dem Gebot der Opportunitätskosten und der immer engeren Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg, stößt jäh an Grenzen. In Hinkunft ist es nicht mehr die Politik, die der Wirtschaft optimale Voraussetzungen zu bieten und zu schaffen hat, es ist die Politik, die ihr Primat wieder in Anspruch nimmt und damit die Wirtschaft in die Pflicht.

Moskau hat diese Entwicklung in ihrer ganzen Bandbreite bereits erkannt. Und spricht konsequenterweise schon von der „scheinbaren Neutralität“ Österreichs. Damit sorgt ausgerechnet das Außenministerium unter Sergej Lawrow für eine Klarheit, die in Österreich – noch – verweigert wird. In diesem Konflikt zwischen Russland und dem Westen gibt es keine Neutralität, weder in Hinblick auf die Werte, nicht in wirtschaftlichen Belangen und letztlich auch nicht in sicherheitspolitischen.

Floskelfrei formuliert: Russland hat festgestellt, dass es Österreich nicht mehr als neutralen Staat sieht. Sondern als Partei in der Koalition der „unfreundlichen Staaten“.

Dass die Vorsitzende der österreichischen Sozialdemokratie daraufhin die Neutralität als „wertvoller denn je“ wertet und sie als „nicht verhandelbar“ bezeichnet, mag im Einklang mit der Mehrheit der österreichischen Bevölkerung stehen, es entspricht nur nicht mehr der Faktenlage. So verständlich es ist, angesichts der vielen Ungewissheiten nach sicherem Terrain zu suchen, so fatal ist es, sich dabei ausgerechnet auf ein über die Jahrzehnte ausgehöhltes Konzept zu berufen und die dringend notwendige Debatte dogmatisch zu verweigern. Die Gewissheiten von gestern haben keine Geltung mehr, Österreichs Neutralität ist Geschichte – spätestens seit dem 24. Februar 2022. Es ist an der Zeit, sich das einzugestehen. (fksk, 13.03.22)

Woche 09 – Was in den Nebeln des Kriegs noch klar ist

Tag elf seit Beginn der russischen Invasion. Und alles liegt im Nebel. Klarheit ist in diesem Krieg mehr noch als in anderen Mangelware. Klar ist, wer wer ist. Wer Aggressor und wer Verteidiger. Klar ist auch, dass dieser Krieg wie bisher keiner via Social Media begleitet und interpretiert wird.

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Hier nun beginnt der Nebel zu wabern. Im steten Strom von Bildern, Meldungen und Videos ist es unmöglich, den Überblick zu bewahren. Manche Geschichten gehen viral. Der Ghost of Kiew etwa, der ukrainische Pilot, der an einem Tag fünf russische Kampfflugzeuge abgeschossen haben soll. Eine Leistung, die seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erbracht wurde. Ob die Meldung indes stimmt, kann weder verifiziert noch falsifiziert werden. Um den Ghost of Kiew ist es allerdings still geworden. Andere Geschichten sind der seinen gefolgt.

Eines ist ihnen allen gemein, sie erzählen vom ukrainischen Mut der Verzweiflung, mit dem sich Armee und Zivilisten den Angreifern entgegenstellen. Sie schaffen in der Ukraine und unter Ukrainern noch mehr an Verbundenheit und Zusammenhalt. Womit sie ihren wichtigsten Zweck erfüllen. Sie haben das Format, auch unter russischer Besatzung den ukrainischen Widerstandsgeist am Leben zu erhalten.

Putin mag das Land in Schutt und Asche legen, seine Städte in Grund und Boden bomben, er hat jetzt schon verloren. Die Einheit, die er beschwört, ist nicht mehr. Dazu ist allein in den letzten hundert Jahren zu viel an der Ukraine und ihren Menschen verbrochen worden. Vom Holodomor über die stalinistischen Säuberungen bis zum heutigen Angriff auf das Land. Mit Putin wird die letzte Gemeinsamkeit ausgelöscht.

Die Frage, die sich dabei stellt, ist, ob er sich der veränderten Stimmung in der Ukraine denn nicht bewusst war. Es ist auf jeden Fall eine groteske Fehleinschätzung des russischen Präsidenten. Auch das ist klar, trotz des Nebels.

Putin hat sich in allen Belangen verschätzt. Zuallererst im Widerstandswillen der Ukrainerinnen und Ukrainer. Aber auch, und das ganz wesentlich, in der Toleranz des von ihm so sehr verachteten Westens, weitere Grenzüberschreitungen hinzunehmen.

So, wie der russische Präsident Geburtshelfer einer neuen ukrainischen Identität ist, so hat ausgerechnet er zur Geschlossenheit und Einheit des Westens beigetragen. Mit Sanktionen haben er und seine Kamarilla gerechnet. Mit Protesten und hilfloser Empörung. Aber dann, und das war er ja gewohnt und dessen muss er sich also sicher gewesen sein, dann, nachdem etwas Wasser die Donau, die Havel, die Seine oder die Themse hinabgeflossen wäre, würde er wieder empfangen.

Wie einst 2014 in Wien, in allen Ehren, als der Präsident der Wirtschaftskammer gemeinsam mit dem österreichischen Bundespräsidenten Putin schamlos den Hof machen und die Kämpfe im Osten der Ukraine, die Besetzung der Krim schlichtweg kein Thema sind und wenn, dann in Form von Witzchen. So war es und so war es immer wieder und eigentlich auch überall. Wenigstens in diesem Punkt kann man Putin folgen, wenn er den Westen als feige, schwach und rückgratlos erlebt hat.

Das hat sich geändert. In aller Klarheit. Am Sonntag vor einen Woche räumt der neue deutsche Kanzler Olaf Scholz in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag wohlige deutsche Gewissheiten ab und stellt der Bundeswehr mehr und dringend benötigte Mittel in Aussicht. Die Koordination und Kooperation zwischen Großbritannien und der Europäischen Union funktioniert wie geschmiert, als hätte es niemals den Brexit und alle damit verbundenen gegenseitigen Verletzungen gegeben. Selbst im US-Kongress zollt die Opposition Joe Biden Respekt und Unterstützung. Und sogar in Österreich wird ein ganz anderer Ton angeschlagen als bisher. Ohne Augenzwinkern, ohne windelweichen Verweis auf die Neutralität. Vielmehr werden im Einklang mit allen anderen Unionsstaaten Sanktionen verhängt, die durchaus den Charakter einer mächtigen Waffe haben, die Russland und seiner Wirtschaft massiven Schaden zufügen (und dafür auch Schäden in der eigenen Wirtschaft in Kauf nehmen).

Damit hat Putin nicht gerechnet. So viel ist klar, und so viel geht aus seinen Reaktionen hervor.

Wobei die Einigkeit der westlichen Staatengemeinschaft (zu der selbstverständlich auch Japan, Südkorea und Taiwan zählen) nicht allein Russland adressiert, sondern auch und besonders China. Jeder Schritt, jede Maßnahme aber auch jede Zurückhaltung ist ein Signal an China, ist eine Demonstration dessen, wozu der Westen in der Lage ist und wozu er auch bereit ist in einem Konflikt. China, so viel ist klar, verfolgt die Entwicklungen akribisch und wird daraus seine Schlüsse ziehen.

Klar ist an diesem elften Tag des russischen Angriffkriegs auf die Ukraine, dass die russische Armee bislang nicht in der Lage ist, ihre gesteckten Ziele zu erreichen, dass deswegen die Opfer unter der Zivilbevölkerung noch zunehmen werden, dass dieser Krieg noch viel hässlicher werden wird, als er es schon ist.

Darüber darf der dichte Nebel an Social Media Geschichten und Bildern nicht hinwegtäuschen. (fksk, 06.03.22)

Woche 08 | 2 – Die Nuklearoption: Putins Offenbarungseid

Und jetzt die nukleare Karte. Noch einmal und noch einmal ganz offen. Weil der Westen mit seinen Sanktionen ernst macht und die Ukraine unterstützt. Dabei hatte Putin den Westen doch genau davor gewarnt. Aber wer nicht hören will, der muss fühlen.

Proteste in Moskau im Februar 2020
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Es ist atemberaubend, wie schnell der Mann im Kreml zwei Länder, einen ganzen Kontinent, ach was, die ganze Welt in einen Zustand befördert, den man seit 1989 überwunden glaubte. Allen Kriegen zum Trotz, die seither geführt wurden. Nur hat niemand seither so schnell und konsequent eskaliert wie der „geniale Stratege“ (© Ch. Leitl).

Vermutlich ist alles, was seit dem Beginn der Invasion der Ukraine passiert ist, schlichtweg eine nicht enden wollende Kette von Beleidigungen, mehr noch Erniedrigungen. Mithin etwas, womit Putin, der „lupenreine Demokrat“ (© G. Schröder), nicht gerechnet hat.

Dass der Widerstand der ukrainischen Streitkräfte erfolgreich ist und den russischen Truppen mehr Verluste abverlangt als geplant, das hatte kaum jemand auf der Rechnung. Allein das Größenverhältnis und die Ausstattung der russischen Truppen machte alle Welt – allen voran wohl Putin – erwarten, dass der Vormarsch zügig vor sich gehen werde. Heute Sonntag haben die Soldaten der ukrainischen Armee die russischen Truppen aus Charkiw vertrieben. Und stimmen die Verlustlisten, die das ukrainische Verteidigungsministerium veröffentlicht, auch nur annähernd, dann rücken die russischen Angreifer nur unter massiven Verlusten voran.

Wenn es stimmt, dass in drei Tagen die russischen Verluste 3.500 getötete Soldaten betragen, dass mehr als 100 Panzer und über 500 gepanzerte Fahrzeuge sowie 14 Kampfflugzeuge von den Ukrainern zerstört wurden, dann läuft die russische Invasion offensichtlich nicht nach Plan. Ganz und gar nicht.

Dass Präsident Selensky zudem immer wieder in Erscheinung tritt, mitten in Kiew, dass er Kontakt hält zu Washington, Paris und Berlin und, ja, auch Wien, dass er gehört wird und im Gegensatz zu dem einsamen Mann im Kreml weltweit Unterstützung erfährt, damit hat der russische „Woschd“ vielleicht noch gerechnet. Aber dass diese Unterstützung sich in massiven wirtschaftlichen Sanktionen auswirkt, dass Russland zum reinen Rohstofflieferanten Chinas degradiert wird und in Hinkunft nur noch Rubel gegen Renimbi tauschen kann, das schmerzt Putins Kamarilla deutlich mehr. Dass die Türkei nun für russische Kriegsschiffe den Bosporus sperrt, dass Deutschland seine Zurückhaltung aufgibt und Waffen an die Ukraine liefert, dass der Westen überhaupt sich in kurzer Zeit auf echte Sanktionen verständigt und sich nicht in den üblichen Betroffenheitsbekundungen ergeht, zeigt, dass Putin den Westen nicht nur unterschätzt hat, sondern, was noch viel schlimmer ist, falsch eingeschätzt hat.

Putin, das ist inzwischen vielfach beschrieben und analysiert worden, sieht sich als Geschichtsvollzieher, als Wiedererrichter des großen russischen Imperiums, als Wahrer der wahren Werte.

Als solcher hatte (und hat) er genügend Bewunderer im Westen. Nicht nur die Herren Schröder und Leitl. Er hatte auch genügend Zuarbeit durch die westliche, vor allem die EU-Politik, deren Vertreter er nach Lust und Laune düpieren konnte, die er ein ums andere Mal vor vollendete Tatsachen stellte, in deren Länder mit seinem Wissen Gift- und Mordanschläge auf Oppositionelle verübt wurden. Abgesehen von mildem Tadel hatte Putin mit keinen Reaktionen zu rechnen, selbst wenn ein paar seiner Mitarbeiter und Günstlinge auf Sanktionslisten gesetzt wurden, dann band das die nur noch mehr an ihn.

Was also sollte Putin vom Westen anderes erwarten als einmal mehr dasselbe Schmierentheater aus Empörung, ein paar halbherzigen Sanktionen gefolgt von stillem Einknicken?

Dass nun die Vertreter des aus seiner Sicht dekadenten Westens ihren Worten auch Taten folgen lassen, wohl mehr als er erwartet hatte, das ist die zweite Niederlage binnen weniger Tage, die auf die Niederlage, in der Ukraine nicht auf Zustimmung, sondern auf erbitterte Abwehr zu stossen, folgt.

Mit Niederlagen hat Vladimir Putin nicht gelernt umzugehen. Die erste große, die er nie verdaut, vielmehr als die geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts charakterisiert hat, ist der Zusammenbruch der Sowjetunion. Diese Scharte wollte, diese Scharte will er ausmerzen. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln.

Im Westen hat man das lange nicht verstanden. Als Phantomschmerzen wurden die Befindlichkeiten der russischen Nationalisten wie Putin aber auch wie des langjährigen Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow abgetan. Es haben der Westen und Putins Russland einander nie verstanden.

Am 24. Februar hat Putin der Ukraine den Krieg erklärt. Und mit ihr dem Westen.

Am 27. Februar versetzt Putin die Nuklearstreitkräfte Russlands in erhöhte Bereitschaft.

Das ist ein vor aller Welt eingestandener Akt absoluter Schwäche.

Schwache Zaren haben keine Zukunft. Nicht in Russland. Putin weiß das. Es bleibt gefährlich. Gefährlicher als je zuvor. (fksk, 27.02.22)

Woche 08 – Die Ukraine ist nur der Anfang

Das Gute an Vladimir Putin ist, er lässt keinen Zweifel mehr über seine Ziele zu. Das ist die Wiederherstellung von Russlands Glanz und Gloria, das ist die Dominanz über all jene Gebiete, über die die Sowjetunion verfügte, das ist letztlich die unangefochtene Dominanz in Europa. Und es ist sein unbedingter Wille, alle Mittel einzusetzen, diese Ziele zu erreichen. Auch sein atomares Arsenal. Diese Drohung steht im Raum.

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Damit entlässt Putin all seine Verteidiger und Versteher in den westlichen Staaten. Er entzieht ihnen ihre Grundlage, die da war, dass man mit dem Mann doch reden kann, dass auch Russland gute Argumente gegenüber der Ukraine hätte. Im Verlauf der letzten Wochen hat Putin wieder und wieder und unmissverständlich klargemacht, dass es für ihn nur eine Art gibt, den Frieden in Europa zu wahren: die Unterwerfung der Ukraine ohne wenn und aber.

Er hat klargemacht, dass ihm alle internationalen Verträge und Vereinbarungen nichts gelten, wenn sie seinen Intentionen widersprechen. Und er hat sich nicht einmal gewunden dabei. Er hat nicht versucht, sein Ansinnen, die europäische Nachkriegsordnung einzureissen, in diplomatische Zuckerwatte zu verpacken.

Wer Ohren hat, zu hören, wer Augen hat, zu lesen, wusste, was Sache ist.

Bemerkenswert ist nur, mit welcher Konsequenz quer durch Europa und auch die USA, diese Offenheit ausgeblendet wurde.

Jetzt fallen Bomben auf Kiew, Odessa, Charkiw, Kramatorsk, Mariupol und selbst auf Lwiw/Lwow/Lemberg, werden Ziele im ganzen Land mit Raketen beschossen, dringen russische – und belarussische – Verbände in die Ukraine ein.

Die Invasion ist der Beginn. Es ist eine Machtdemonstration, die sich an alle europäischen Staaten richtet: Wer sich nicht beugt, hat mit Konsequenzen zu rechnen. Auch darin ist Putin schonungslos offen.

Polen, Estland, Lettland und Litauen aber auch Finnland und Schweden haben diese Botschaft wesentlich früher verstanden (Polen und seine baltischen Nachbarn vor Jahren schon). Heute muss diese Botschaft auch in allen anderen Ländern der Union – und darüber hinaus – verstanden werden. Mit Putins Russland sind Vereinbarungen das Papier, auf dem sie geschrieben sind, nicht wert. Wer sich noch in der Illusion wiegt, man könne mit einem Aggressor ein gedeihliches Auskommen finden, braucht lediglich auf die Ukraine zu blicken. Das ist, was Putin für den Rest Europas bereithält.

Er ist darin ganz offen.

Europa muss es auch sein. Die Zeit der Zwei- und Mehrdeutigkeiten ist in den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 von den russischen Invasoren ausgelöscht worden. (fksk, 24.02.22)

Woche 07 – Freedom Day

„Freedom Day“, etwas Einfacheres, Plakativeres und Maulfauleres fällt der Politik und den ihr verbundenen Blättern nicht ein, geht es um den Zeitpunkt, zu dem die Masken fallen und mit ihnen alle Beschränkungen der letzten zwei Jahre. Weil es so schön ist, weil Großbritannien bereits seinen Freedom Day gefeiert hat (letztes Jahr schon), weil andere Länder ihn gleichfalls planen und herbeisehnen.

© Remi Jacquaint / unsplash.com

Freiheit! Tag der Freiheit. Und alles ist wieder gut.

Ist es nicht. Natürlich nicht. Nicht nach zwei Jahren, die die Gesellschaft im Wortsinne in ihrem Innersten verwundet haben. Vielmehr könnte man sagen, dass nach diesen zwei Jahren nichts mehr ist, wie es war. Wenngleich auch diese Aussage schal schmeckt und abgestanden, so oft wurde sie bereits getätigt.

Also, „Freedom Day“. Warum auch nicht? Klingt doch gut. Und lässt die Gesellschaft, Impfbefürworter wie -gegner einmal auf- und durchatmen. Man geht gemeinsam auf ein Bier oder ein Glas Wein, lässt alle Differenzen beiseite, vergisst auch, was in der Zwischenzeit noch so alles ans Tageslicht gekommen ist, freut sich des Lebens und dankt der Politik und ihren Repräsentanten, dass sie der Allgemeinheit diesen wunderbaren Tag gönnen.

Insofern ist die Verwendung dieses Begriffes, „Freedom Day“, geradezu verräterisch. Sie offenbart dem p.t. Publikum, was die verantwortlichen Politiker und -innen sich wünschen: Dass alles wieder gut ist. Vergeben, vergessen, verziehen.

Was ihnen verziehen, oder wenigstens nachgesehen, werden kann, ist, dass sie vor zwei Jahren mit einer Situation konfrontiert waren, wie sie sie noch nie erlebt hatten. Was das Lavieren, die Unsicherheit, den Alarmismus, die Übertreibungen und Zuspitzungen der ersten Zeit erklärt. Da wie dort. Und manch einer, der heute lauthals nach der Freiheit verlangt und die Gesellschaft wie auch die Republik schon in den Fängen einer finsteren Diktatur wähnt, manch einer dieser hatte zu Beginn noch viel härtere Maßnahmen eingefordert.

Sei´s drum. Es ändern sich die Umstände, mit ihnen ändern sich Zugänge und Sichtweisen. Daran wäre denn auch nichts auszusetzen. Wäre, hätten sich die Zugänge denn wirklich geändert. Exakt daran freilich kommen begründete Zweifel auf, lässt man die Performance der Regierung hierzulande, wie auch jene anderer Regierungen anderer Länder Revue passieren. Was im Großen und Ganzen geboten wurde, war ein Lavieren, ein Hoffen und Versprechen, es stünde der Durchbruch im Kampf gegen die Pandemie unmittelbar bevor und wenn nicht morgen, dann übermorgen...

Hier kommt nun die Sprache ins Spiel. Die Sprache, die – und jetzt geht es tatsächlich um die österreichische Regierung –, gegenüber dem Souverän, dem Volk, gepflogen wird.

In zwei Jahren hat es die Bundesregierung mitsamt ihrer drei Kanzler und zwei Gesundheitsminister nie geschafft, mit den Menschen in einen Dialog einzutreten. Vielmehr wurde verkündet, kundgetan, versprochen und gefordert, was jeweils politisch opportun erschien und erscheint, nicht unbedingt was gesundheits-, wirtschafts-, sozial- oder gesellschaftspolitisch vonnöten gewesen wäre. Anstatt zu diskutieren und durch die Debatte die Basis eines gemeinsamen Verständnisses aufzubauen, auf der wiederum Maßnahmen aufsetzen können, die von dem Gros der Bevölkerung mitgetragen werden, haben sich die maßgeblichen Politiker im Marketing versucht. Weil es einfacher ist. Weil man sich die Auseinandersetzung erspart, die intellektuelle Redlichkeit und Kapazitäten voraussetzt. Und weil es gefällige, eingängige Schlagzeilen im Boulevard produziert.

Zugegeben, das ist an und für sich nichts Neues. Die Unlust an der Diskussion, die Verarmung der Sprache im öffentlichen Diskurs hat sich lange schon etabliert. Sie ist keineswegs das herausragende und erstmals auftretende Merkmal dieser Regierung oder dieser Generation an Politikern. Es ist letztlich auch müßig, nach dem Zeitpunkt zu suchen, zu dem diese Entwicklung einsetzt. Diskussions- und debattenfreudig hat sich die österreichische Politik ohnedies noch nie gezeigt. Dass Diskussion aber durch den Austausch von Marketingworthülsen, twitterfähigen Kurzaussagen, durch den Rückzug auf Schlagworte und die permanente Produktion aufwändiger Nebelwände zur Ablenkung von essentiellen Themen fast zur Gänze ersetzt worden ist, hat gerade in den letzten zwanzig Jahren nochmals an Gewicht gewonnen.

Das gilt für die Gesellschaft wie für die Politik. Es ist der öffentliche Diskurs zu einem Gegenüberstellen von Dogmen verkommen. Argumente und Sichtweisen, die der eigenen nicht entsprechen, die sie, schlimmer noch, in Frage stellen, werden als grobe Beleidigung erfahren und rundheraus abgelehnt. Die Bereitschaft, sich mit dem Anderen auseinanderzusetzen, ist auf allen Seiten zurückgegangen. Hüben wie drüben, rechts wie links, oben wie unten.

Tatsächlich ist diese Republik – und dieser Befund gilt gleichermaßen für weite Teile der europäischen Öffentlichkeit – in einen Zustand der fortgeschrittenen Denkfaulheit abgerutscht, der beängstigende Ausmaße angenommen hat.

Wo es zu anstrengend ist, sich mit intellektuellen Zumutungen auseinanderzusetzen, dort greift man flugs zu gefälligen Worten und Begriffen, die allen Kanten ihre Schärfe nehmen, die sie ablutschen, geschmeidig und lieblich machen. Da wird aus einer Krise unversehens die Herausforderung, oder besser noch, die Chance, die es zu nutzen gilt. Es wird die Krise, es werden ihre Auswirkungen damit auch gleich gar nicht mehr zur Kenntnis genommen. Man will ja positiv gestimmt sein und der Zukunft zugewandt. Dann und wann, wenn die Situation danach verlangt, dann darf es auch einmal martialisch klingen, wenn die Politik vor die Medienöffentlichkeit tritt und verkündet, sie werden tun „whatever it takes“, um ein Ziel zu erreichen. Da klingt Tatkraft durch, ohne je spezifiziert werden zu müssen.

Der Austausch im Gespräch, in der Rede, in der Diskussion erfolgt nicht mit der Absicht, mehr zu erfahren, Perspektiven zu öffnen, den Horizont zu erweitern, das eigene Wissen auf den Prüfstand zu stellen und auch die eigene Argumentation, alles das erfolgt vielmehr unter dem Aspekt des unbedingten Rechthabens. Weil es so ist. Und basta.

Manchmal vielleicht auch aus einer Unsicherheit heraus, wenn die deutsche Langzeitkanzlerin bestimmte Politiken als „alternativlos“ darstellte, wohl um schmerzhafte Diskussionen gerade innerhalb ihrer eigenen Partei zu vermeiden – womit sie prompt zur Ausformung einer neuen, radikalen Partei beitrug, die die Alternative im Namen trägt.

Das aber ist die Crux mit der Sprachlosigkeit in der Demokratie. Wer die Auseinandersetzung meidet oder verweigert, trägt dazu bei, dass mehr und mehr Menschen sich ausgeschlossen, ungehört und missachtet fühlen. Menschen, die ihre Sprachlosigkeit dann in Wut umwandeln. Was einer Debatte erst recht nicht zuträglich ist.

Kündigt die Regierung nun einen „Freedom Day“ an, dann will sie einen Schlussstrich ziehen. Unter zwei Jahre weitgehenden Missmanagements einer Gesundheitskrise. Unter all den aufgestauten Ärger, unter die Wut, die sich ungehemmt Bahn bricht. Sie will den notwendigen Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen. Diese längst überfälligen Debatten sieht sie nicht vor. Nicht mit der Gesellschaft, nicht mit den Medien und auch nicht mit dem Parlament. Sie verweigert sich der Aussprache und glaubt, mit Marketingsprech davon- und durchzukommen. Ja eh, und Afrika ist ein Land. (fksk, 20.02.2022)

Woche 06 – Adieu, Impfpflicht

Von jetzt an Augen zu und mit Vollgas retour. Das ist, so scheint es, das Motto der österreichischen Regierung in Sachen Impfpflicht. Es treten auf eine paar Landshauptleute, die immer noch ihr Glück nicht fassen können, in der heimischen Innenpolitik wieder (über)gewichtige Rollen einnehmen zu dürfen, dazu ein Ärztekammerpräsident aus einem westlichen Bundesland und ein Bundeskanzler auf dem Weg aus dem Skiurlaub. Und allen ist gemein, dass sie die vor kurzem beschlossene und kürzlich in Kraft getretene (wegen fehlender technischer Voraussetzungen ohnedies nur halbe) Impfpflicht ganz en passant in den Kübel treten.

Die österreichische Regierung nimmt den Kampf gegen die Pandemie auf. Ernsthaft.
© Mika Baumeister / unsplash.com

Es sollten, so der ob seiner virologischen Fachkompetenz weithin gerühmte Salzburger Landshauptmann, doch die Experten das Gesetz alsbald evaluieren. Ihm sekundiert die Landeshauptfrau aus Niederösterreich. Und dann wirft sich der Tiroler Ärztekammerpräsident in die Bresche und überlegt eine Aussetzung der Impfpflicht, um die Gesellschaft nicht zu spalten.

Freie Bahn mithin für den Kanzler, der aus dem Auto heraus ein Interview gibt, und die Entscheidung darüber, ob das Gesetz weiterhin gilt, den Experten anheimstellt.

Man merke, nicht der Politik.

Das war es dann, mit der Impfpflicht in Österreich.

Sie wurde schnell und ohne die technischen Voraussetzungen dafür geschaffen zu haben, in die Welt gesetzt. Von Anbeginn also ein etwas ungeschlachtes Ding, weswegen eine Impflotterie Gesetz und Pflicht aufhübschen hätte sollen. Sie wurde von der Politik schon konterkariert, bevor sie überhaupt noch in Kraft getreten war. Und jetzt soll sie bitte schnell wieder verschwinden. Auch aus der Erinnerung der Menschen in diesem Land, die – Gott sei es geklagt – wählen dürfen und wählen werden. Zwar erst in einem Jahr. Aber dann in Niederösterreich. Und in Salzburg.

Es gab und gibt viele gute Gründe, einer Pflicht zum Impfen abwartend, skeptisch oder auch ablehnend gegenüberzustehen, nicht zuletzt die Verhältnismäßigkeit dieser Pflicht. Und das Spannungsverhältnis zwischen individueller und gesellschaftlicher Freiheit, Fragen von Solidarität und Verantwortungsbewusstsein. Das sind Fragen, die in einer Demokratie dringend und immer wieder verhandelt werden müssen. In den Parlamenten, in den Medien, auf der Straße und auf den Bühnen. Und diese Fragen sind es wert, dass ein Gesetz noch ein wenig zuwartet, bevor es beschlossen wird.

Zudem gab es noch mehr und bessere Gründe, der Impfpflicht in ihrer österreichischen Ausformung mit allergrößter Vorsicht zu begegnen. Kaum eine, wenn nicht keine Regierung hat es je zuwege gebracht, in so kurzer Zeit so viel legistischen Unsinn zu produzieren, wie diese. Nach zwei Jahren der Pandemie immer noch derart unbedarft in einen Gesetzgebungsprozess zu stolpern, die Einwände der IT nicht zur Kenntnis zu nehmen und dann aus lauter „jetzt erst recht“ das entsprechende Gesetz im Nationalrat zu verabschieden, ist von besonderer Qualität.

Dass nun aber ein Regierungschef sich hinstellt und binnen kürzester Zeit vor aller Augen Kindsweglegung betreibt, das ist einmalig in seiner Erbärmlichkeit. Derselbe Mann, der vor ein paar Wochen noch die Impfpflicht strikt, wenn auch nicht wortreich, denn Wortreichtum ist seine Sache nicht, eingefordert hat, derselbe Mann, der als Bundeskanzler mit der Opposition dieses Gesetz verhandelt hat, um eine möglichst breite Mehrheit sicherzustellen, dieser Mann hat nicht den Mumm, für dieses sein Gesetz einzustehen und es zu verteidigen. Er fällt allen, die im Nationalrat für dieses Gesetz gestimmt haben, manche trotz gravierender Bedenken, in den Rücken.

So beschädigt man demokratische Prozesse, demokratische Institutionen, die Demokratie ansich. Und zwar dauerhaft. Dass Karl Nehammer sich damit selbst auch beschädigt, ist angesichts des größeren Schadens wahrlich kein Trost. (fksk, 13.02.22)