Finnland

Woche 15 – Das Ende der Neutralität

In seiner siebten Woche wird der Krieg in der Ukraine medial ein wenig leiser. Die russische Führung konzentriert ihre Truppen im Osten der Ukraine, steht nach 40 Tagen heftiger Kämpfe kurz davor, die Hafenstadt Mariupol einzunehmen und verliert ihr Flaggschiff Moskwa durch ukrainischen Raketenbeschuss. Schweden und Finnland bereiten ihren Beitritt zur Nato vor. Unterdessen glänzt Österreich durch eine Stippvisite seines Kanzlers beim russischen Präsidenten.

Nicht die „Moskwa“, aber ein russisches Kriegsschiff ähnlichen Typs in Wladiwostok 2021
© Vlad Dyshlivenko / unsplash.com

Tatsächlich ist die Entscheidung der beiden skandinavischen Länder, ihre Neutralität aufzugeben, ein Paukenschlag. Man kann auch sagen, es ist ein weiterer Beleg für Putins gravierende Fehleinschätzungen des Westens. Entsprechend fällt die Reaktion Moskaus in Person Dmitri Medwedews aus, der die Stationierung atomar bestückter Raketensysteme im Baltikum ankündigt – und dabei gefliessentlich verschweigt, dass Russland schon bisher seine Enklave Kaliningrad genau dafür nutzt.

Die anstehende Entscheidung Finnlands und Schwedens trägt indes eine weitere Botschaft in sich, genauer gesagt, eine mittel- und langfristige Einschätzung. Trotz der offenbaren Mängel der russischen Armee in Führung und Effektivität, stellt das militärische Potential Russlands ungebrochen eine reale Bedrohung seiner unmittelbaren Nachbarn wie ganz Europas dar. Vor allem da die russische Regierung den Wert von Menschenleben, einerlei ob von Zivilisten, gegnerischen oder eigenen Soldaten, offen geringschätzt und so ihren unbedingten Willen, in der einen oder anderen Art und Weise zu obsiegen, demonstriert.

Egal, wie sich die Lage in der Ukraine entwickelt, Russland bleibt ein Faktor höchsten Risikos für die Sicherheit der europäischen Länder. Wenn Finnland und Schweden nun ihre bisher geübte Neutralität aufgeben, dann weil sie damit rechnen, in Zukunft von Russland politisch massiv unter Druck gesetzt zu werden. Die Mitgliedschaft in der Nato versetzt beide Länder in die Lage, diesem Einwirken besser widerstehen zu können.

Denn, auch das haben beide Länder in den letzten Monaten erfahren, Neutralität ist für Russland kein Grund, die Souveränität eines anderen Landes zu achten. In den Wochen vor dem Angriff auf die Ukraine hat Russland dem Westen ein Ultimatum gestellt – eine nicht verhandelbare Position, wie von russischer Seite wieder und wieder betont wurde. Der Inhalt dieser versuchten Erpressung war mit dem geforderten Abzug der USA aus Europa, dem Rückzug der Nato auf ihre Ausdehnung von 1989 und einem Vetorecht Russlands in Hinblick auf Nato-Mitglieder nichts weniger als die Unterwerfung Europas.

Putin, das ist in den letzten Wochen hinlänglich analysiert und beschrieben worden, hat sich der Wiedererrichtung des russischen Imperiums verschrieben. Mithin eines Reichs, dessen Grenzen deutlich westlich seiner heutigen liegen und dessen Einflusszone viel weiter in den Kontinent hineinreicht als je zuvor in der Geschichte Russlands. Russland als der Hegemon Europas. Eines ganz und gar anders gearteten Europas wohlgemerkt, als Putin den politischen als gesamtgesellschaftlichen und kulturellen Einfluss begreift, als allumfassend und als Besinnung auf die „wahren Werte“ eines christlich verfassten Russlands. Frei von demokratischen Prozessen, frei von Menschenrechten und Meinungsvielfalt, frei von Debatten, schlechterdings eine reibungslos funktionierende Autokratie. Manche nennen sein System faschistisch.

Putin und mit ihm Russland befinden sich auf allen Ebenen im Krieg gegen den Westen im allgemeinen und Europa im Besonderen. In seiner grausamsten Form wird er derzeit in der Ukraine ausgetragen. Und man muss davon ausgehen, dass auf Butscha, Borodjanka, Irpin, Kramatorsk, Mariupol und Cherson noch weit mehr Orte folgen, deren Namen später als Inbegriff von Kriegsverbrechen in die Geschichte eingehen werden. Dazu kämpft Moskau einen Krieg der Information und Worte über seine Propagandakanäle, über seine Verbündeten und bereitwilligen Quislinge, es kämpft einen Wirtschafts- und Energiekrieg und es ist bereit, jederzeit den Cyberkrieg zu eskalieren. Der atomare Krieg steht auch im Raum.

Dieser Realtität muss man sich bewusst sein. Um entsprechend reagieren und agieren zu können.

Finnland und Schweden streben als Resultat darauf die Nato-Mitgliedschaft an. Österreich betont seine Neutralität.

Das ist legitim. Fatal ist indes die Weigerung, die Neutralität in ihren Varianten, Stärken und Schwächen zu diskutieren. Sie ist den Österreichern weniger ein politisches Instrument, als vielmehr ein Wunderding, eine Art Schutzmantelmadonna, die die Republik und ihre Menschen vor Krieg und Kriegshändel bewahrt. Mehr noch, die das Land damit zu einem Pontifex Maximus, zu einem Brückenbauer zwischen den Welten und Kontrahenten macht, allseits geschätzt, geachtet, beliebt und daher auch vertrauenswürdig. Und alles das, ohne sich jemals zu exponieren.

Das klingt an, spricht die Vorsitzende der österreichischen Sozialdemokratie. Das klingt durch, hört man in das Land hinein, wenn Menschen meinen, Neutralität schütze vor Angriffen und garantiere die Solidarität der Weltgemeinschaft. Oder, wie es ein PR-Experte, einst Generalsekretär der Sozialdemokratie, formuliert, sie verhindere, dass seine Kinder für die Interessen anderer in einen Krieg geschickt würden.

Äquidistanz urgieren die Sozialdemokraten (still unterstützt von nicht wenigen Christlichsozialen), Gleichbehandlung des Täters und des Opfers, mithin Respekt gegenüber Putin wie Selenskyj, vor allem gegenüber Putin. Damit schrammt ausgerechnet die Sozialdemokratie hart am Neutralismus entlang, an einer Politik des „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“, an der bereitwilligen Preisgabe eigenständiger Positionen und Bewertungen – wie sie selbstverständlich allen, auch den Neutralen, zustehen.

Es bleibt bislang den Liberalen vorbehalten, diese Interpretation der Neutralität hartnäckig zu hinterfragen und rundheraus in Frage zu stellen. Der Kanzler unterdessen sucht der, von ihm als für ihn schädlich wahrgenommenen, Debatte zu entgehen, dekretiert ein Ende der Diskussion, bevor sie überhaupt begonnen hat und betont die „militärische“ Neutralität Österreichs. Womit er den Minimalkonsens beschreibt, auf den sich alle politischen und gesellschaftlichen Proponenten im Land gerade noch einigen können.

Das ist gewissermaßen die letzte Konstante, die einzige Koordinate, die nach dem 24. Februar verblieben ist. Während sich die europäische Sicherheitsordnung grundlegend verändert, und das rasant, hält Österreich aus bequemer Gewohnheit an seiner Neutralität fest, vielleicht auch aus einer Unlust an einer grundlegenden Debatte. Und wohl getrieben aus Angst, vor dem was da noch kommt.

Die russische Seite hat unmissverständlich klargemacht, was sie von Europa erwartet: Unterwerfung. Und, die russische Seite droht allen, die ihr widersprechen, mit „unabsehbaren Konsequenzen“. Diese Drohung gilt auch Österreich, das als Teil der Europäischen Union und des Westens Teil der Sanktionsgemeinschaft ist und den Angriff ohne jede Zweideutigkeit verurteilt hat. Man kann sagen, dass die Würfel bereits gefallen sind. Es ist höchst an der Zeit, dass die österreichische Politik, die Öffentlichkeit sich der Tatsache stellt, dass die Republik sich neuen Herausforderungen gegenübersieht, Herausforderungen, denen mit Dogmen nicht zu begegnen ist. (fksk, 16.04.22)