Woche 08 | 2 – Die Nuklearoption: Putins Offenbarungseid

Und jetzt die nukleare Karte. Noch einmal und noch einmal ganz offen. Weil der Westen mit seinen Sanktionen ernst macht und die Ukraine unterstützt. Dabei hatte Putin den Westen doch genau davor gewarnt. Aber wer nicht hören will, der muss fühlen.

Proteste in Moskau im Februar 2020
© Valery Tenevoy / unsplash.com

Es ist atemberaubend, wie schnell der Mann im Kreml zwei Länder, einen ganzen Kontinent, ach was, die ganze Welt in einen Zustand befördert, den man seit 1989 überwunden glaubte. Allen Kriegen zum Trotz, die seither geführt wurden. Nur hat niemand seither so schnell und konsequent eskaliert wie der „geniale Stratege“ (© Ch. Leitl).

Vermutlich ist alles, was seit dem Beginn der Invasion der Ukraine passiert ist, schlichtweg eine nicht enden wollende Kette von Beleidigungen, mehr noch Erniedrigungen. Mithin etwas, womit Putin, der „lupenreine Demokrat“ (© G. Schröder), nicht gerechnet hat.

Dass der Widerstand der ukrainischen Streitkräfte erfolgreich ist und den russischen Truppen mehr Verluste abverlangt als geplant, das hatte kaum jemand auf der Rechnung. Allein das Größenverhältnis und die Ausstattung der russischen Truppen machte alle Welt – allen voran wohl Putin – erwarten, dass der Vormarsch zügig vor sich gehen werde. Heute Sonntag haben die Soldaten der ukrainischen Armee die russischen Truppen aus Charkiw vertrieben. Und stimmen die Verlustlisten, die das ukrainische Verteidigungsministerium veröffentlicht, auch nur annähernd, dann rücken die russischen Angreifer nur unter massiven Verlusten voran.

Wenn es stimmt, dass in drei Tagen die russischen Verluste 3.500 getötete Soldaten betragen, dass mehr als 100 Panzer und über 500 gepanzerte Fahrzeuge sowie 14 Kampfflugzeuge von den Ukrainern zerstört wurden, dann läuft die russische Invasion offensichtlich nicht nach Plan. Ganz und gar nicht.

Dass Präsident Selensky zudem immer wieder in Erscheinung tritt, mitten in Kiew, dass er Kontakt hält zu Washington, Paris und Berlin und, ja, auch Wien, dass er gehört wird und im Gegensatz zu dem einsamen Mann im Kreml weltweit Unterstützung erfährt, damit hat der russische „Woschd“ vielleicht noch gerechnet. Aber dass diese Unterstützung sich in massiven wirtschaftlichen Sanktionen auswirkt, dass Russland zum reinen Rohstofflieferanten Chinas degradiert wird und in Hinkunft nur noch Rubel gegen Renimbi tauschen kann, das schmerzt Putins Kamarilla deutlich mehr. Dass die Türkei nun für russische Kriegsschiffe den Bosporus sperrt, dass Deutschland seine Zurückhaltung aufgibt und Waffen an die Ukraine liefert, dass der Westen überhaupt sich in kurzer Zeit auf echte Sanktionen verständigt und sich nicht in den üblichen Betroffenheitsbekundungen ergeht, zeigt, dass Putin den Westen nicht nur unterschätzt hat, sondern, was noch viel schlimmer ist, falsch eingeschätzt hat.

Putin, das ist inzwischen vielfach beschrieben und analysiert worden, sieht sich als Geschichtsvollzieher, als Wiedererrichter des großen russischen Imperiums, als Wahrer der wahren Werte.

Als solcher hatte (und hat) er genügend Bewunderer im Westen. Nicht nur die Herren Schröder und Leitl. Er hatte auch genügend Zuarbeit durch die westliche, vor allem die EU-Politik, deren Vertreter er nach Lust und Laune düpieren konnte, die er ein ums andere Mal vor vollendete Tatsachen stellte, in deren Länder mit seinem Wissen Gift- und Mordanschläge auf Oppositionelle verübt wurden. Abgesehen von mildem Tadel hatte Putin mit keinen Reaktionen zu rechnen, selbst wenn ein paar seiner Mitarbeiter und Günstlinge auf Sanktionslisten gesetzt wurden, dann band das die nur noch mehr an ihn.

Was also sollte Putin vom Westen anderes erwarten als einmal mehr dasselbe Schmierentheater aus Empörung, ein paar halbherzigen Sanktionen gefolgt von stillem Einknicken?

Dass nun die Vertreter des aus seiner Sicht dekadenten Westens ihren Worten auch Taten folgen lassen, wohl mehr als er erwartet hatte, das ist die zweite Niederlage binnen weniger Tage, die auf die Niederlage, in der Ukraine nicht auf Zustimmung, sondern auf erbitterte Abwehr zu stossen, folgt.

Mit Niederlagen hat Vladimir Putin nicht gelernt umzugehen. Die erste große, die er nie verdaut, vielmehr als die geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts charakterisiert hat, ist der Zusammenbruch der Sowjetunion. Diese Scharte wollte, diese Scharte will er ausmerzen. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln.

Im Westen hat man das lange nicht verstanden. Als Phantomschmerzen wurden die Befindlichkeiten der russischen Nationalisten wie Putin aber auch wie des langjährigen Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow abgetan. Es haben der Westen und Putins Russland einander nie verstanden.

Am 24. Februar hat Putin der Ukraine den Krieg erklärt. Und mit ihr dem Westen.

Am 27. Februar versetzt Putin die Nuklearstreitkräfte Russlands in erhöhte Bereitschaft.

Das ist ein vor aller Welt eingestandener Akt absoluter Schwäche.

Schwache Zaren haben keine Zukunft. Nicht in Russland. Putin weiß das. Es bleibt gefährlich. Gefährlicher als je zuvor. (fksk, 27.02.22)

Franziskus von Kerssenbrock

* 1966 Author, Journalist, Communications Expert Have written for various German and Austrian media (as DIE ZEIT, profil, DER STANDARD, HI!TECH, MERIAN, e.a.) Editor-in-chief at UNIVERSUM MAGAZIN Media Relations for Wirtschaftskammer Wien Head of Corporate Communications Oesterreichische Akademie der Wissenschaften Married, one son